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Werner Michael Schwarz, 25.4.2020

Die Österreichische Unabhängigkeitserklärung 1945 und ihr Verfasser Karl Renner

Radikaler Pragmatismus

Am 27. April 1945, nur zwei Wochen nach der Befreiung Wiens, proklamierte die vom sowjetischen Oberkommando anerkannte provisorische Regierung Renner die Wiederherstellung und Unabhängigkeit Österreichs als demokratische Republik. Darin wird Österreich als erstes Opfer von Hitler-Deutschland dargestellt – Adressaten waren vor allem die westlichen Alliierten und die eigene Bevölkerung.

Das Gründungsdokument der Zweiten Republik wurde in Wien plakatiert und in den ersten freien Zeitungen wie „Neues Österreich“ am 28. April 1945 publiziert: ein starkes Stück politischer Prosa, das für seinen kühl kalkulierenden Pragmatismus ebenso gewürdigt wie für seinen atemberaubendem Populismus verabscheut wird. Beides Qualitäten, die auch seinem Verfasser attestiert werden: dem Mitbegründer und ersten Staatskanzler zweier Republiken, Karl Renner (1870-1950).

Der in fünf Paragraphen kühl und sachlich gehaltenen eigentlichen Unabhängigkeitserklärung geht eine atemlose, nur aus einem Satz bestehende Vorrede voraus. In einem stetig ansteigenden Tonfall folgt eine „Tatsache“ auf die andere, oder man könnte sagen theatralisch wie beim Kartenspiel ein Trumpf auf den anderen, um nicht nur die vollkommene Schuldlosigkeit Österreichs und der  ÖsterreicherInnen an NS-Herrschaft und Krieg zu behaupten, sondern diese auch ausschließlich als deren Opfer darzustellen. Kein Anflug von Zweifel, kein Aufruf zur Besinnung oder Reue, stattdessen blitzt in einzelnen Passagen unmissverständlich und wohl nicht unbeabsichtigt noch der Ton der NS-Propaganda durch, wenn zwar von einem „Eroberungskrieg“ die Rede ist, zugleich aber von den „Eisfeldern des hohen Nordens“, den „Sandwüsten Afrikas“, den „stürmischen Küsten des Atlantiks“ oder den „Felsen des Kaukasus“ geschwärmt wird. Damit sollte wohl weniger die „Sinnlosigkeit“ des Krieges angesprochen werden, wie an anderer Stelle behauptet, als die Anerkennung der Leistungen der Soldaten. Sie werden auch als einzige, von Staat und „Volk“ als Ganzem abgesehen als „Opfer“ genannt, während mit keinem Satz die Opfer der rassistischen und politischen Verfolgungen erwähnt werden, geschweige denn die Täter. 
 

Das kühle Kalkül, mit der hier Interessen als „Tatsachen“ behauptet wurden, war vor allem an die westlichen Alliierten adressiert. Für sie enthielt die Rede auch einen besonderen Kunstgriff, indem sie am Ende „pflichtgemäß“, wie es heißt, auf die Moskauer Deklaration von 1943 hinwies, die nicht nur Österreich als erstes Opfer der „Hitlerischen Aggression“ bezeichnet, sondern auch darauf hingewiesen hatte, dass das Land für seine Beteiligung am Krieg Verantwortung trage und für eine künftige Regelung sein Anteil an der Befreiung in Rechnung gestellt werde. Nach der langen Rede über die Unschuld als mehrfach erwiesene „Tatsache“ konnte eine solche Absicht in der öffentlichen Meinung leicht als ungerecht oder Siegerjustiz zurückgewiesen werden.

Die Mehrheit entlasten

Nach innen gerichtet, baute die Behauptung der kollektiven Unschuld an einem politischen Konsens, der die Mehrheit entlasten und zur Basis für die jahrzehntelange Verdrängung der NS-Verbrechen und ihrer Folgen für die Opfer werden sollte. Damit konnte, wie zeitgenössische Aussagen Renners und anderer Regierungsmitglieder belegen, die Entschädigung von Holocaustüberlebenden, die Restitution jüdischen Vermögens oder die Rückkehr der EmigrantInnen auf die lange Bank geschoben werden.

Für die Unterzeichner der Dreiparteien-Erklärung, Karl Renner und Adolf Schärf von der Sozialistischen Partei, Leopold Kunschak von der nunmehrigen Österreichischen Volkspartei und Josef Koplenig von der Kommunistischen Parteim waren diese Behauptungen wohl ein „Gebot der Stunde“ und die Überprüfung ihrer Richtigkeit maximal ein Fall für die Zukunft.

Zwei Voraussetzungen machten diese Erzählung über die jüngste Vergangenheit allerdings überhaupt erst möglich. Die genannte Moskauer Deklaration und die Eile der sowjetischen Befreiungsmacht, den westlichen Alliierten und ihren noch vagen Plänen über die Zukunft Österreichs zuvorzukommen und so die Selbstständigkeit der Republik eigenmächtig herzustellen. Ihre Politik zielte darauf ab, mit Hilfe einer antifaschistischen Volksfrontregierung das Land langsam auf kommunistischen Kurs zu bringen. Spätestens seit den Wahlen im November 1945, bei welchen die KPÖ nur knapp über 5% der Stimmen erhielt, galt diese Strategie aber als gescheitert. 

Der „alte Fuchs“ und Stalin

Die Proklamation erschien elf Tage vor der deutschen Kapitulation und zu einem Zeitpunkt, als sich weite Teile Österreichs noch unter NS-Herrschaft und Terror befanden. So beschränkte sich die vom sowjetischen Oberkommando zugestandene Autorität der neuen Regierung zunächst nur auf Wien, Burgenland und Teile Niederösterreichs. Die Anerkennung seitens der westlichen Alliierten und die Kooperation mit den übrigen Bundesländern gelangen erst nach zähen Verhandlungen im Herbst 1945.

Dass sich die Regierung dennoch bereits in diesen Tagen bilden und über einen bereits vergleichsweise großen Handlungsspielraum verfügen konnte, wird auch der Initiative des fast 75jährigen Karl Renner zugeschrieben, womit eine ins Groteske gehende, aber folgenreiche Episode beginnt. Renner hatte sich während des Krieges unter Aufsicht der Gestapo in sein Sommerhaus in Gloggnitz zurückgezogen, wo er sofort nach dem Eintreffen der sowjetischen Truppen seine Dienste zum Aufbau der Republik, quasi als „Wiederholungstäter“, anbot. Als die Meldung von Renners Initiative Stalin in Moskau erreichte, soll er ausgerufen haben „Der alte Fuchs lebt noch!“. Am 15. April schickte Renner dann seinen berühmten, handschriftlichen Brief an Stalin, der seiner vielen Schmeicheleien wegen selbst bei dem daran gewöhnten Schmunzeln ausgelöst haben soll.

Renner erklärte zunächst sein Bedauern, bislang keine Gelegenheit gehabt zu haben, Stalin persönlich zu begegnen. Und dann erwähnt er Trotzki, der vor 1914 mehrere Jahre im Wiener Exil verbracht hatte und tatsächlich engen Kontakt zu Renner hatte. Wie in scheinbar vollkommener Unkenntnis erwähnt er Stalins Todfeind, der 1940 dessen ausgeklügelten Mordplänen im mexikanischen Exil zum Opfer gefallen war: Raffinesse oder Naivität. Der Erfolg spricht für erstes, denn der Diktator beauftragte Renner daraufhin tatsächlich mit der Bildung einer provisorischen Regierung. 

War Stalin sentimental geworden, jetzt am Höhepunkt seine Triumphes und gefiel ihm diese Anspielung auf eine Zeit, in der er im Vergleich zum damals bereits bekannten Austromarxisten und Reichsratsabgeordneten Renner ein hilfsbedürftiger russischer Emigrant war, auf den in Wien wohl Niemand gesetzt hätte?  Stalin, so könnte Renners Kalkül gewesen sein, sollte durchaus daran erinnert werden, dass die Oktoberrevolution und damit dessen eigener Aufstieg ohne die Hilfe der österreichischen Sozialdemokraten 1914 so wohl nicht stattgefunden hätte. Viktor Adler hatte nach Kriegsbeginn mit seinen guten Kontakten nicht nur Trotzki die Ausreise in die sichere Schweiz ermöglicht, sondern, was viel schwerer wog, auch jene Lenins, der sich in Galizien aufgehalten hatte und als feindlicher Ausländer bereits in Militärhaft war. Oder gab, wie Siegfried Nasko oder Johannes Reichl argumentieren, Renner nur den „senilen Hampelmann“, um Stalin von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen? Sicher war er so ein Talent zur richtigen Zeit am richtigen Ort  - und ersparte damit Stalin zumindest zunächst komplizierte Entscheidungen. 

Als „Mann für alle Jahreszeiten“ bezeichnete der Politikwissenschaftler Anton Pelinka Karl Renner. Dass er zum ersten Staatskanzler der Zweiten Republik wurde, war nicht nur abenteuerlich, sondern für viele auch empörend. Renner hatte am 3. April 1938, also genau sieben Jahre vor den genannten Ereignissen sein „Ja“ zum Anschluss in einem Interview im „Neuen Wiener Tagblatt“ öffentlich bekundet, und damit NS-Gegner in und außerhalb seiner Partei und insbesondere EmigrantInnen schwer und nachhaltig demoralisiert. Auch dafür hatte er sich selbst ins Spiel gebracht und dafür den NS-Bürgermeister Hermann Neubacher kontaktiert, den er in dessen Tätigkeit als Chef der Gesiba im Roten Wien wohl von früher kannte.

Sogar eine Plakataktion mit seiner Zustimmung zum Anschluss soll Renner angeboten haben. Im genannten Interview spricht er u.a. von einer „geschichtlichen Tatsache“ und einer „wahrhafter Genugtuung“, distanzierte sich aber ausdrücklich von den Methoden der Nazis, dieses Ziel zu erreichen. 

„Gebot der Stunde“

Kein Renner-Biograf kommt an der Frage nach dem Warum vorbei. Denn Renner selbst hat die einfachste und lange Zeit auch in der Sozialdemokratie beliebte Erklärung stets zurückgewiesen, wonach er unter Druck gehandelt habe. Er betonte stets die Freiwilligkeit seiner Äußerungen. Dementsprechend zahlreich sind die Hypothesen: Politische Überzeugung, Selbstschutz, Unterstützung von Parteifreunden in KZ-Haft, Revanche an den Austrofaschisten, die ihn 1934 für fast ein Jahr eingesperrt hatten, Geltungsbedürfnis, fast zwanghaftes Sendungsbewusstsein oder eben das „Gebot der Stunde“, mit dem er bereits mehrmals davor seine politischen Perspektiven radikal verändert und damit schließlich oft trotzdem reüssiert hatte. So rechtfertigte er den Ersten Weltkrieg auch dann noch als „Verteidigungskrieg“, als der überwiegende Teil seiner Parteifreunde längst davon abgerückt war und ihn dafür scharf kritisierte, so Friedrich Adler bei seinem Prozess nach dem Mord am Ministerpräsidenten Graf Stürckh 1917, in dem er Renner u.a. als „Sozialimperialisten“ und „Lueger der Sozialdemokratie“ in Anspielung auf dessen Populismus nannte.

Auch blieb Renner der Monarchie fast bis zum Schluss gegenüber loyal, spekulierte sogar mit dem Amt des Ministerpräsidenten, erwies sich dann aber bei der Gründung der Republik im Oktober 1918 als „Mann der Stunde“, der zwar nicht die politische Richtung vorgab, aber konsensfähige Verfahren zur Beschlussfassung und organisatorische Strukturen anbieten konnte.

Das brachte ihm in der ersten Koalitionsregierung zwischen 1918 und 1920 mit seinen sozialen und politischen Errungenschaften (Frauenwahlrecht, 8-Stunden Tag etc.) eine unerwartete Machtfülle, als Staatskanzler und Außenminister in einer Person, die er in diesem Umfang selbst so kaum angestrebt haben dürfte. Auch stellte er sich für Aufgaben zur Verfügung, wovon sich andere aus politischem Kalkül peinlich fernhielten, so für die Rolle des Chefverhandlers bei den Friedensverhandlungen in Saint- Germain, wo für seine Karriere tatsächlich wenig zu gewinnen war.

Renner scheint es auch stets vergleichsweise leicht genommen zu haben, sich wieder in die zweite Reihe zurückzuziehen und Macht abzugeben. Das führt vielleicht zum Kern der Gesinnung eines auf den ersten Blick „Gesinnungslosen“, der ihn an allen politischen Wendepunkten wie automatisch zu aktivieren schien, sein nach Norbert Leser Verständnis vom Staat und seiner Person als Staatsmann, der aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen und Kräften das größtmögliche Gemeinwohl oder besser den größtmöglichen Konsens zu destillieren versucht. Der studierte Jurist Renner war in allen Phasen seines politischen Lebens, das mehr als ein halbes Jahrhundert überspannt, stets auch ein produktiver Autor staatswissenschaftlicher und rechtssoziologischer Literatur, die immer um die Frage nach der Autonomie des Individuums kreist und sein Verhältnis gegenüber Staat, Nation und Gesellschaft.

Literatur:

Stefan Karner, Peter Ruggenthaler: Die Renner-Stalin Briefe

Siegfried Nasko, Johannes Reichl: Karl Renner. Zwischen Anschluß und Europa, Wien 2000.

Walter Rauscher: Karl Renner. Ein – Österreichischer – Mythos, Wien 1995.

Karl Renner: An der Wende zweier Zeiten.Lebenserinnerungen, Wien 1946.
  
Richard Saage: Der erste Präsident. Karl Renner – Eine politische Biografie, Wien 2016.
 

Werner Michael Schwarz, Historiker, Kurator am Wien Museum, Schwerpunkt Stadt-, Medien- und Filmgeschichte, u.a. „Das Rote Wien“ (2019) und Pratermuseum (2024).

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