
Arbeiter-Ausweiskarte von Käthe Leichter, 1933, Institut für Historische Sozialforschung
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Die Sozialforscherin und Antifaschistin Käthe Leichter
Fakten über Frauenarbeit
Im Juni 1925 erhält Käthe Leichter eine Anstellung in der fünf Jahre zuvor gegründeten Arbeiterkammer. Bis vor kurzem hatte die studierte Staatswissenschafterin noch als Mitarbeiterin Otto Bauers in der Sozialisierungskommission gearbeitet, die Wirtschaftsbetriebe von öffentlichem Interesse in Gemeinbesitz überführen sollte.
Wie Bauer entstammt auch Leichter dem Milieu des assimilierten jüdischen Bürgertums, und auch sie studiert an der Universität Wien bei Carl Grünberg, dem „Vater des Austromarxismus“. Mit dessen Hilfe findet sie „den Weg zu Marx […], zu Marx, dem Soziologen“. Otto Bauer hält große Stücke auf Käthe und nennt sie, so Rosa Jochmann 1970, „einen der gescheitesten Menschen in der Partei“.
In der Arbeiterkammer soll Käthe, die seit 1921 mit dem Journalisten Otto Leichter verheiratet ist, ein neues Referat aufbauen, das sich mit den „Problemen der Frauenarbeit“ befasst, einem bislang kaum bearbeiteten Feld. „Was wußte man von den Einwirkungen der Rationalisierung, der neuartigen Verwendungen, des gesteigerten Arbeitstempos auf den weiblichen Organismus?“
„Rationalisierung“ ist das Schlagwort der Zeit – mit gravierenden Auswirkungen auf die individuellen Erwerbsbiographien. „Immer sind es die Frauen, die ungelernten, rasch ersetzten Arbeitskräfte, die von jeder Konjunkturschwankung zuerst getroffen – zuerst wieder beschäftigt, zuerst wieder arbeitslos gemacht werden“, so Käthe Leichter 1929, die außerdem immer wieder moniert: „Nicht die Eignung, die Löhne entscheiden über die Verwendung der Frauen.“
Probleme der Frauenarbeit
Käthe Leichter studiert zunächst die vorhandenen Statistiken – die der Krankenkassen oder der Gewerkschaften – und hält diese für „unzulänglich“. Bald beschließt das Frauenreferat, selbst Erhebungen durchzuführen, um den Funktionärinnen im Parlament und in den Gewerkschaften valides Zahlenmaterial für ihren Kampf um eine Besserstellung der Frauen in die Hand zu geben.
Die ersten Zielgruppen, denen sich Käthe widmet, sind die „Stiefkinder der sozialen Gesetzgebung“ – Hausgehilfinnen und Heimarbeiterinnen. Beide genießen zwar einigen gesetzlich verankerten Schutz, dessen Einhaltung aufgrund der isolierten Tätigkeit im Einzelhaushalt allerdings nicht überprüfbar ist. Das Frauenreferat verteilt daher Fragebögen.
Auch Käthe Leichter selbst hat in ihrer neuen Anstellung mit Problemen zu kämpfen. Einige Kollegen wirken auf die Stenotypistinnen ein, „möglichst nicht für diese Jüdin“ zu arbeiten. Es dauert, bis Käthe wenigstens eine Halbtagskraft als Unterstützung zugewiesen bekommt. Noch im Vorwort zur Studie „Wie leben die Wiener Heimarbeiter“ schreibt sie 1928: „Da die Arbeit von e i n e r Arbeitskraft bewältigt werden mußte, hat die Durchführung und Ausarbeitung der Erhebung mehr als ein Jahr erfordert.“
Am „laufenden Band“
Bei ihrer nächsten Arbeit, dem 1930 erschienenen „Handbuch der Frauenarbeit in Österreich“ steht Käthe Leichter unter enormen Zeitdruck. Zum einen soll das Handbuch rechtzeitig zum Kongress des Internationalen Frauenbundes fertig sein, zum anderen ist Käthe – ihr erster Sohn Heinz wird 1924 geboren – mit ihrem zweiten Sohn Franz schwanger.

Mit ihrer insistierenden Art verteilt Käthe Arbeitsaufträge. In dem fast 700 Seiten starken Werk kommen schließlich über 60 Autorinnen zu Wort – etwa die Partei- und Gewerkschaftsfunktionärinnen Luise Kautsky, Anna Boschek und Therese Schlesinger, die Journalistin Marianne Pollak oder die Ärztinnen Margret [sic!] Hilferding-Hönigsberg und Jenny Adler-Herzmark, die Frau des Philosophen Max Adler.
Den Hauptteil der Studie aber steuern 27 Arbeiterinnen aus den unterschiedlichsten Berufen bei – von der Metall- und Tabakarbeiterin bis zur Textil- und Landarbeiterin. Diese „aus dem Leben gegriffenen“ Schilderungen der Arbeiterinnen sind in der Wissenschaft neu und innovativ, erstmals kommen die Frauen selbst ausführlich zu Wort. Käthe Leichter, die aufgrund ihrer langjährigen Schulungsarbeit in den Gewerkschaften gut vernetzt ist, teilt auch hier Genossinnen zur Mitarbeit ein. Etwa die Textilarbeiterin Amalie Riefler oder Rosa Jochmann, seit 1926 Sekretärin der Chemiearbeitergewerkschaft: „Sie war ja ein Diktator in Wirklichkeit, was solche Sachen anbelangt, sonst wäre es ja nicht entstanden“, erinnert sich Jochmann 1980 in einem Interview an das Zustandekommen des Handbuches. Und: „Natürlich hat Käthe unsere Beiträge überarbeitet und eingerichtet, denn wir waren ja Stümper.“
In ihrem eigenen Beitrag beschreibt Käthe Leichter den Verdrängungseffekt infolge der fortschreitenden Automatisierung. „So tritt an die Stelle der Facharbeiterin immer mehr ein Arbeiterinnentypus, der wohl ständig im Berufe, doch in keinem Berufe zuhause ist.“ Und sie skizziert die scheinbar unausweichliche Abwärtsspirale einer Frau, die als qualifizierte Facharbeiterin beginnt, durch den technischen Fortschritt überflüssig geworden, bald als Hilfsarbeiterin „am laufenden Band“ steht und „frühzeitig verbraucht, ihr Berufsleben bei Gelegenheitsarbeit oder als Bedienerin abschließt.“
Das Handbuch wird zu einer „Enzyklopädie“, wie Otto Leichter 1964 schreiben wird, zum „Markstein in der österreichischen sozialpolitischen Literatur der Ersten Republik.“
„So leben wir …“
In ihrer letzten großen Studie geht Käthe Leichter noch einen Schritt weiter. Diesmal erfasst sie nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch das private Umfeld der Frauen. Die Studie erscheint 1932 unter dem Titel „So leben wir … 1320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben“. Wieder versendet das Frauenreferat Fragebögen, zusammengestellt von Lotte Radermacher, die für Paul Felix Lazarsfelds Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle arbeitet. Und wieder werden die schriftlichen Darstellungen durch mündliche ergänzt und vertieft.

Die Ergebnisse sind erschütternd. Mehr als zwei Drittel der Arbeiterinnen geben an, dass sie an ihrer Arbeit nichts freut. Wen wundert‘s: „Zu Vorabeiterinnen haben es nicht einmal 2 Prozent der Arbeiterinnen gebracht“, rund vier Fünftel leisten bloß Hilfsarbeit.
Auch um die privaten Verhältnisse ist es schlecht bestellt. Nur 53 Prozent der befragten Frauen besitzen eine eigene Wohnung, der Rest lebt bei den Eltern, in Untermiete oder als Bettgeherinnen. Selbst „von den verheirateten Arbeiterinnen haben mehr als ein Viertel keine eigene Wohnung“.
„Faschismus, gemildert durch Schlamperei.“
Seit den frühen 1930er Jahren kämpft Käthe Leichter noch an einer anderen Front. Bei der Landtags- und Gemeinderatswahl 1932 erreicht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) zwar stolze 59 Prozent der Stimmen, doch die Nationalsozialisten erringen bereits mehr als 17 Prozent.
Als Reaktion auf dieses Wahlergebnis publiziert die SDAP die Reihe „Sozialistische Kampfschriften“, die vor den Gefahren des Nationalsozialismus und den Zuständen im „Dritten Reich“ warnt. Die Autoren sind aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genannt. Einige der Texte werden Käthe Leichter zugeschrieben, etwa für die Publikation „Ihr dummen Ziegen!“ in der es heißt: „Kuschen und Kinderkriegen – Kinderkriegen zum Massenmord! –, das sind die beiden obersten Aufgaben der Frau im Dritten Reich!“

Nach den Februarkämpfen 1934 und der Ausschaltung der Sozialdemokratie ist das Ehepaar Leichter arbeitslos. Käthe verliert ihre Anstellung in der Arbeiterkammer, die Arbeiter-Zeitung, in der Otto als Redakteur tätig ist, wird verboten. Die Familie verbringt ein halbes Jahr in der sicheren Schweiz und kehrt schließlich zurück – allerdings nicht nach Wien, sondern in den damaligen Vorort Mauer. Als „gelernte Österreicher“ setzen die Leichters auf das Unvermögen der Behörden. Heinz, später Henry O. Leichter, schreibt 1995: „Victor Adler […] soll einmal mit Bezug auf die alte Monarchie vor 1918 gesagt haben: ‚In Österreich herrscht Absolutismus, gemildert durch Schlamperei.‘ Ähnliches ließe sich auch über das Österreich zwischen 1934 und 1938 sagen: Es herrschte Faschismus, gemildert durch Schlamperei.“
Das Haus in Mauer wird zum Treffpunkt illegaler Funktionäre, Käthe übernimmt im März 1937 die Leitung des Informations- und Nachrichtendienstes der Revolutionären Sozialisten.
Zigarettenstummel im Garten…
Mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1938 ist es mit der „Schlamperei“ vorbei. Die Funktionäre der illegalen Arbeiterbewegung befinden sich nun in akuter Lebensgefahr. Otto Leichter, der aufgrund seiner politischen Tätigkeit exponierter ist, flieht über die Tschechoslowakei nach Paris. Von dort aus holt er später die Söhne Heinz und Franz nach. Und er drängt seine Frau, alles stehen und liegen zu lassen.
Käthe hingegen möchte legal ausreisen; sie verpackt Bücher, Möbel und selbst das Klavier, um diese nach Paris bringen zu lassen. „Der Heinz und ich gehen mit unseren Geigen in die Emigration“, wird sie in diesen Tagen oft sagen. Viel zu spät realisiert Käthe, dass auch sie bereits von der Gestapo observiert wird. Am Tag der geplanten Flucht – es ist der 30. Mai 1938 – wird Käthe Leichter verhaftet. Hans Pav, ein vermeintlicher Freund, mittlerweile jedoch ein Gestapo-Spitzel, hatte sie verraten.
Während ihrer Einzelhaft im Landesgericht Wien I. schreibt Käthe Leichter „mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit“, so ihr Mann Otto später, ihre Kindheitserinnerungen nieder, die sich heute im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) befinden. Über eine Aufseherin gelingt es ihr sogar, mit Frieda Nödl, ebenfalls Mitglied der Revolutionären Sozialisten, in Kontakt zu bleiben. Die geschmuggelten Kassiber bleiben nicht unentdeckt und führen im Oktober 1939 zu ihrer Verurteilung. Zwar heißt es, die Strafe sei „durch die Vorhaft verbüßt“, doch Käthe kommt nicht frei. Noch am selben Tag wird sie an die Gestapo überstellt und im Januar 1940 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert.

Im Lager trifft sie auf alte Bekannte: Rosa Jochmann und Helene Potetz, die ebenfalls – so wie auch Steffi Kunke, Wilhelmine Moik und Frieda Nödl – von Hans Pav verraten worden waren. Über Käthe Leichters weiteres Schicksal wissen wir vor allem aus Rosa Jochmanns Berichten.
Im März 1942 wird sie gemeinsam mit rund 1.600 weiteren Frauen nach Bernburg an der Saale verbracht. „Heute noch sehe ich Käthe auf dem Lastwagen sitzen, in der bittersten Kälte, die blauen Augen auf uns gerichtet: Winkend fuhr sie ab. Wir sahen sie nie wieder.“ In der dortigen Heil- und Pflegeanstalt werden die Frauen im Rahmen der „Sonderbehandlung 14 f 13“ durch Gas getötet. Offiziell stirbt der gesamte Transport „‘an Kreislaufschwäche‘ und dergleichen“. Als Käthe Leichters Todestag wird der 17. März 1942 genannt. Der zur Gaskammer umfunktionierte Duschraum ist Teil der heutigen Gedenkstätte und von beklemmender Banalität.
Käthe Leichters „drei Buben“ – ihr Mann Otto und die Söhne Heinz und Franz – gelingt, nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Paris, die Flucht nach Lissabon. Dort ergattert Otto Leichter drei Plätze für ein Schiff nach Amerika. Muriel Gardiner, die Frau Joseph Buttingers, hatte ihnen zur Flucht verholfen: „Sie konnte sich bei Präsident Roosevelt Gehör verschaffen und ihn dazu bewegen, besonders gefährdeten Personen amerikanische Notvisa auszustellen, darunter auch meinem Vater.“
Heinz kehrt im September 1944 als amerikanischer Soldat Henry O. Leichter nach Europa zurück. Im Jahr darauf fährt er erstmals nach Wien, wo er Rosa Jochmann trifft. „Von ihr hörte ich zum ersten Mal, wie meine Mutter wirklich gestorben war.“ Rosa Jochmann wird auch Henrys Trauzeugin, als er 1951 in Wien heiratet. Seine Braut heißt Hope.

Literatur:
AK-Broschüre: Frauen an der Arbeit, 2015.
AK Wien: Käthe Leichter zum 100. Geburtstag. Texte zur Frauenpolitik, 1995.
Arbeit und Wirtschaft: Jahrgänge 1926 bis 1934.
Brandstaller, Trautl: Rosa Jochmann, ORF-History 1980.
Broessler, Agnes: Wilhelmine Moik. Ein Leben für die gewerkschaftliche Frauenpolitik, 2006.
Göhring, Walter (Hrsg.): Käthe Leichter: Gewerkschaftliche Frauenpolitik, 1996.
ders. (Hrsg.): Anna Boschek. Erste Gewerkschafterin im Parlament, 1998.
Hauch, Gabriella: Käthe Leichter – Jüdin, Sozialistin, Frauenforscherin, 1994.
Leichter, Henry O.: Eine Kindheit. Wien – Zürich – Paris – USA, 1995.
Leichter, Otto: Briefe ohne Antwort. Aufzeichnungen aus dem Pariser Exil für Käthe Leichter 1938–1939. Mit einem Nachwort von Henry O. Leichter, 2003.
Maimann, Helene: Eine Frau wie diese, DOR Film 2016.
Steiner, Herbert: Käthe Leichter. Leben, Werk und Sterben einer österreichischen Sozialdemokratin, 1997.
Gedenkstätte Bernburg, https://gedenkstaette-bernburg.sachsen-anhalt.de/
DÖW, https://www.doew.at/

Die Ausstellung „Käthe Leichter. Und die Vermessung der Frauen“ läuft bis zum 1. März 2026 in „Das Rote Wien im Waschsalon Karl-Marx-Hof“. Sie wurde von Lilli Bauer und Werner T. Bauer kuratiert.
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