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Ein Essay von Maria Lazar aus dem Jahr 1945
„Was ist österreichische Kultur?“
Was ist österreichische Kultur?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Denn was versteht man heute unter Österreich?
Das Rudiment eines Imperiums, die kleine Republik, die in zwanzig Jahren zwischen zwei Weltkriegen ein eigenes Leben zu führen versuchte? Oder dieses Imperium selbst, das in mehreren Jahrhunderten mitbestimmend für die europäische Entwicklung gewesen war? Oder das neue, künftige Österreich, dessen Unabhängigkeit nach einer Periode schmachvoller Barbarei erst erkämpft werden muss?
Bei keinem der okkupierten Länder wird man, wenn man von seiner Kultur sprechen will, solche Fragen stellen. So gibt es zum Beispiel eine dänische oder holländische Kultur, weil es eine dänische oder holländische Nation gibt. Nation, wohlbemerkt, in jenem Sinn, in dem das Wort 1789 von der französischen Nationalversammlung gebraucht wurde. Damals bedeutete es nichts anderes als die Gemeinschaft aller in einem Lande wohnenden Menschen, die einander durch dieselbe Sprache, dieselbe Tradition, dasselbe historische Schicksal verbunden sind. Seither wurde Missbrauch mit dem Wort getrieben, so viel Missbrauch, dass man sich heute kaum getrauen kann, von einer österreichischen Nation zu sprechen. Denn was in Österreich „national“ war, das waren dieselben Leute, die heute mehr oder weniger nazistisch sind. Eine österreichische Nation – das gibt es doch gar nicht.
Aber eine österreichische Kultur? Ja, die gibt es, daran kann niemand zweifeln. Wer sich nach ihr erkundigt, muss allerdings auf sehr verschiedene Antworten gefasst sein. Zur österreichischen Kultur rechnet man Schuberts Unvollendete und das Drama von Mayerling, den Stefansdom und den Heurigen, die Philharmoniker und das süße Mädel, Freud und Lehar, die tiefsten Gedanken und den rosigsten Kitsch der Welt. Die Begriffe dieser Welt sind, was Österreich, seine Kultur, seine Geschichte betrifft, nicht nur verworren, sie sind gefälscht. Da gibt es Leute, auch ganz gebildete, für die Österreich einfach ein selbstverständlicher Teil des Deutschen Reiches ist, wegen der Sprache, der Abstammung seiner Bewohner, ihrer sogenannten Rasse usw. Und wieder andere, für die Österreich ein armes, unschuldiges kleines Land ist, das vom bösen großen Nachbarn tückisch überfallen und unterworfen wurde, ohne selbst jemals auch nur einen eigenen Nazi hervorgebracht zu haben. Womit lässt sich dieser unglaubliche Mangel an historischen Kenntnissen erklären? Mit dem betäubenden Tempo der Weltereignisse in letzter Zeit, mit verschiedentlichen falschen Mythen, die mehr oder weniger bewusst propagandistisch ausgesponnen werden?
Mit all dem und wahrscheinlich noch viel mehr. [Fest] steht jedenfalls, dass die gefährlichsten Fehlurteile darauf zurückzuführen sind, dass man Österreich ganz einfach identifiziert mit Wien.
Diese Residenzstadt eines Imperiums war durch zwanzig Jahre hindurch die Hauptstadt eines kleinen zurückgebliebenen Landes. Man nannte sie oft einen Wasserschädel dieses Landes. Das ist kein schöner Ausdruck. Zumindest müsste man von einem Kant’schen Wasserschädel sprechen. Denn dieser Schädel war nicht nur groß, in ihm hatten sich alle Begabungen, alle Energien, alle Kräfte eines riesigen bunten Reiches gesammelt, verfeinert, assimiliert und entwickelt. Durch Jahrhunderte hindurch. Was man unter österreichischer Kultur versteht, stammt nicht aus Graz und nicht aus Innsbruck, nicht aus Linz und nicht aus Braunau, sondern aus Wien. Und was aus Wien stammt, das ist auch nicht allein auf dem Kahlenberg gewachsen, das strömte zusammen aus dem bunten Völkerwirrwarr der Monarchie, aus sehr verschiedenen Landschaften, aus sehr verschiedener Mentalität.
Und was geschah, als die Monarchie zerfiel? Die Stadt blieb. Ihre Kultur blieb bestehen. Eine Weile noch. Eine Kultur lässt sich nicht einfach wegblasen. Und so kam das Wunder, dass in der am meisten verelendeten Großstadt Europas ein geistiges Zentrum für Europa und selbst darüber hinaus verblieb und sich sogar in einem beinahe hektischen Tempo weiterentwickelte. Es ist das unschätzbare Verdienst der Austromarxisten, die kulturellen Traditionen Wiens nicht nur übernommen, sondern auch mit den modernsten Reformen verbunden und wirklich breiten Massen zugänglich gemacht zu haben. Auch war das Wien der Nachkriegsjahre mehr denn je eine Pilgerstätte für Musiker und Ärzte aus aller Welt. Der Zauber dieser Stadt verblasste trotz ihrer Armut nicht, selbst ihr Kitsch blühte weiter, ihr fröhlicher Nimbus. Die Ausländer kamen noch lieber als zu Zeiten des kaiserlichen Glanzes. Ihnen gefiel die Stadt. Aber nicht allen Inländern gefiel sie.
Wieviel Verwandtschaft zwischen dem Dollfußfaschismus und dem Nazismus in Österreich bestanden haben mag, darüber soll die Geschichte entscheiden. Eines steht jedenfalls fest: sie bedeuteten beide die Eroberung Wiens durch die Provinz. Ihre Führer stammten so gut wie alle aus jenen Gegenden, wo Deutsch sein bereits an sich Verdienst und Tugend war und wo man von früher Kindheit an gelernt hatte, das „internationa-verjudete“ Wien voll Neid und Misstrauen zu betrachten. (siehe Hitlers „Mein Kampf“). Ihre Anhänger fühlten sich alle bemüßigt, die österreichische „Eigenart“ auszuspielen gegen – ja gegen was nur?
Gegen die österreichische Kultur. Gegen jene Kultur, die allen Rasse- und Blubotheorien zu trotz in Wien entstanden war als eine Mischkultur und die bereits im Heiligen Römischen Reich ihre Lebenssäfte aus allen möglichen Ländern Europas bezogen hatte. Der nationalgesinnte Kleinbürger, mochte er nun mehr oder weniger braun oder schwarz gefärbt sein, hasste und verfolgte diese Kultur von seinem Standpunkt aus gewiss nicht mit Unrecht. Denn sie war großzügig und international. Sie war gar nicht österreichisch. Sie war europäisch.
Wie das künftige Österreich aussehen wird, weiß man nicht. Niemand kann heute schon bestimmen, wo seine geographischen Grenzen verlaufen werden, welche politische Rolle es spielen wird. Umso wichtiger ist es, eben heute schon auf seine kulturelle Rolle hinzuweisen. Denn eine Kultur lässt sich nicht zerschlagen und zertrampeln wie ein Land. Und die österreichische Kultur, die Kultur einer überlegenen und vergangenheitsreichen Weltstadt, die Kultur Wiens, kann und soll, so alt sie auch sein mag, in einer neuen und jungen Volksgemeinschaft die Mission übernehmen, geistige Werte verschiedener Nationalität zu erhalten und zu vermitteln.
Man darf nicht vergessen, dass die wahren Vertreter dieser Kultur immer schon Kosmopoliten waren. Und es ist gewiss kein Zufall, dass es ein großer Österreicher war, Franz Grillparzer, der vielleicht als erster in Europa mit hellseherischem Blick in dem beschränkten und überhitzten Nationalismus seiner Zeit bereits den keimenden Nazismus sah. Mit Ironie sprach er von jener deutschen Literatur, die „den Deutschen einen ganz neuen Charakter andichten, sie aus einem ruhigen verständigen und pflichttreuen Volke zu Feuerfressern und Weltverschlingern machen wollte“. Voll Verachtung sprach er von „des Einzelnen schmählicher Ermattung, dem Kultus der Nationen und der Gattung“, voll Abscheu von dem „Weg der neueren Bildung“, der da geht „von Humanität durch Nationalität zur Bestialität.“ Hätten die Nazis, die den toten Grillparzer heute gerne feiern, den Lebenden erwischt, sie hätten ihn in ein Konzentrationslager geschleppt, falls er nicht rechtzeitig emigriert wäre. Sollte er solch ein Schicksal und damit das österreichische Schicksal überhaupt vorausgeahnt haben, als er 1867 schrieb: „Als Deutscher war ich geboren – Bin ich noch einer? Nur, was ich Deutsches geschrieben, das nimmt mir keiner.“
Der Text folgt orthografisch der Vorlage im Typoskript aus dem Nachlass der Autorin. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlag Das vergessene Buch aus dem Band Maria Lazar: Made in Austria. Feuilletons und Essays, der im Herbst 2025 erscheinen wird, erstmals aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Albert C. Eibl. Soeben erschienen sind eine erweiterte Neuauflage von Lazars antifaschistischem Widerstandsroman Die Eingeborenen von Maria Blut sowie der Band Die vergessenen Theaterstücke.
Am 20. September führt der Verleger im Rahmen eines Stadtspazierganges zu zentralen Lebens- und Wirkstätten der Autorin in den 20er und frühen 30er Jahren sowie zu Orten, die literarisch im Werk reflektiert wurden.
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