Hauptinhalt
Elfriede Mejchar als Pionierin der österreichischen Fotografie
Avantgardistische Heimatforscherin
Elfriede Mejchar hat ihr Leben lang ausschließlich in Österreich gearbeitet und fotografiert. Obwohl der geografische Radius ihrer Tätigkeit eng war, ist ihre Arbeit von einer großen Offenheit und Neugier geprägt. Sie hat die Orte und Gegenden in ihrem heimatlichen Umfeld fotografisch ganz neu entdeckt. Neben ihrer Tätigkeit als Auftragsfotografin nahm sich Mejchar Zeit, ihre direkte Umgebung auf ungewohnte Weise zu dokumentieren – auf ihren zahlreichen Reisen für das Bundesdenkmalamt ebenso wie an den Wochenenden in ihrer Heimatstadt Wien.
Die Wiener Stadtlandschaft spielt in ihrem Werk eine große Rolle, über Jahre hinweg fotografierte sie diese aus ungewöhnlichen Perspektiven. Historische Stadtensembles, schön gepflegte Parkanlagen oder touristische Highlights der Innenstadt haben sie freilich nie interessiert. Stattdessen wandte sich Mejchar konsequent den Wiener Außenbezirken zu: den Rändern der Stadt, den Brachen, den verwilderten Flächen – „Gstett’n“ genannt – und ehemaligen Industriearealen, also Orten weitab von klassischen Wiener Postkartenmotiven. Auffallend in ihrer Arbeit ist die Nähe zu US-amerikanischen Positionen der Landschaftsfotografie aus den 1970er- und 1980er-Jahren. Woher kommt diese Affinität?
In den 1950er-Jahren beschritt Mejchar mit ihrer Serie „Licht und Schatten“ in der österreichischen Nachkriegsfotografie einen neuen, eigenständigen Weg. Ihr Zugang unterschied sich schon damals erheblich vom Mainstream der Wiener Fotoszene, die stark durch die von Henri Cartier-Bresson beeinflussten Life-Fotografie geprägt war. Nicht das Dogma des einen, speziellen Augenblicks interessierte Mejchar, sondern vielmehr die Abfolge von scheinbar unspektakulären Stadtszenerien des ewig gleichen und tristen Nachkriegsalltags. Menschen spielen in ihren Aufnahmen eine untergeordnete Rolle, oft sind sie nur Statist:innen in einer häufig düsteren Umgebung. Unscheinbare Details rücken stattdessen in den Vordergrund: Öl- und Wasserflecken auf der Straße, die Gitterstruktur eines Mistkübels, die Reste von verdrecktem Schnee oder eine Litfaßsäule. Mit präziser Lichtführung, langen Schattenwürfen und starken Schwarz-Weiß-Kontrasten interpretiert Mejchar die Stadtlandschaft neu.
Teilweise erinnern ihre Aufnahmen an Szenen des Film noir, wie wir sie aus Carol Reeds Der dritte Mann oder aus Tote schlafen fest von Howard Hawks kennen. Mejchar selbst verweist in einem Interview auf den Einfluss der filmischen Beleuchtungsdramaturgie auf ihre damalige Arbeit. Wie im neorealistischen Film setzt auch Mejchar in ihren frühen Stadtfotografien oftmals die Ästhetik des Gegenlichts, lange Schattenwürfe und das Changieren zwischen Hell und Dunkel ein, um ein düsteres Stimmungsbild der Großstadt wiederzugeben.
Ab den 1960er-Jahren verlässt Mejchar zunehmend den innerstädtischen Raum und begibt sich mit ihrer Kamera an die Ränder der österreichischen Metropole. Es ist der Beginn einer jahrelangen fotografischen Auseinandersetzung mit der Stadtperipherie rund um das Gaswerk Simmering, die Simmeringer Heide und den Erdberger Mais. Die 1978 unter Denkmalschutz gestellten Gasbehälter wurden in den 1980er-Jahren stillgelegt und teilweise demontiert. 1996 entschied die Stadt, die restlichen Gasometer zu Wohnbauten umzugestalten. Mejchars Motiv war ursprünglich nicht die Dokumentation des Areals vor dem Abriss, vielmehr hatte es der Fotografin die abseitige und raue Gegend selbst angetan. Die Orte rund um den Erdberger Mais waren eine Mischung aus Gemüsegärten, Wohnhäusern, Industrieanlagen und „Gstett’n“, in die ab den 1970er-Jahren zum Teil großangelegte Bürogebäude gebaut wurden. Und genau dieser Grenzbereich zwischen urbanen und ländlichen Räumen, zwischen bewirtschafteten und sich selbst überlassenen Gegenden war für Mejchar der bevorzugte Ort ihrer fotografischen Erkundungen.
Besonders interessierten sie Landschaften, die menschlichen Eingriffen ausgesetzt sind. Auf ihren Fotografien korrespondieren Strommasten mit Fabrikschloten, Neubauten stehen neben windschiefen Hütten, im Vordergrund sind oft dörfliche Strukturen zu erkennen, im Hintergrund die Silhouetten großer Industriebauten oder die Gasometer. Ihre Liebe gilt dem Abseitigen, Übersehenen und Vergessenen, das sonst niemanden interessiert. Mit perfekten Lichtstimmungen, fein justierten Bildausschnitten, präzisen Grauabstufungen und teils extremen Abstraktionen in kontrastreichem Schwarz-Weiß tariert Mejchar gekonnt räumliche Gegebenheiten aus. Sie tastet die bebaute und unbebaute Gegend seriell ab, denn das Einzelbild vermag die Komplexität der ruinösen, aber in ihren Augen schönen Landschaft nicht zu erfassen. Erst die Serie erlaubt es ihr, die unterschiedlichen Facetten eines Themas aus immer neuen Blickwinkeln zu zeigen. Mit ihrer künstlerisch-konzeptuellen Arbeitsweise beschritt Mejchar einen völlig neuen Weg in der österreichischen Fotografie.
Für ein fotointeressiertes Publikum war Mejchars Stadt- und Landschaftsfotografie anfangs neu und ungewohnt. Das zeigt die überaus verhaltende Kritik auf ihre erste Einzelausstellung Simmeringer Heide und Erdberger Mais 1976 im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien. Müllablagerungen, öde Vorstadtstraßen und Industrielandschaften waren für die Besucher:innen damals offenbar noch nicht foto- oder ausstellungswürdig.
Woher bezog Mejchar ihre Inspirationen für die fotografische Neuinterpretation urbaner Landschaften? Sie selbst sprach immer wieder von dem Einfluss der amerikanischen Fotografie auf ihr eigenes künstlerisches Werk. Zum einen hatte sie in ihrer Schul- und Lehrzeit in Norddeutschland von amerikanischen Soldaten Zeitschriften wie LIFE erhalten, zum anderen erwähnte sie in Interviews auch ihr großes Interesse an der Künstlervereinigung Forum Stadtpark in Graz, welche unter anderem die amerikanische Fotografie nach Österreich geholt hatte.
In den 1970er-Jahren war die künstlerische Fotoszene in Österreich noch überschaubar und im Aufbau begriffen. Das Grazer Forum Stadtpark war damals einer der wenigen Orte, der sich der zeitgenössischen Fotografie in Ausstellungen und Symposien widmete. Es setzte einen kritischen Austausch zwischen im Land arbeitenden Fotokünstler:innen und Fotograf:innen aus dem Ausland in Gang. 1977 präsentierte das Forum Stadtpark unter großem medialen Interesse die Ausstellung American Photographers, die anschließend vom Museum des 20. Jahrhunderts in Wien übernommen wurde. Gezeigt wurden unter anderem Arbeiten von Lewis Baltz oder Stephen Shore, um jene zu nennen, deren Werke durchaus mit dem von Elfriede Mejchar verglichen werden können. Abbildungen menschenleerer Straßen, durchzogen von Stromleitungen und Masten oder Ansammlungen von Einfamilienhäusern in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten zeigen uns amerikanische Vorstädte aus der Sicht der damals noch neuen fotografischen Bewegung der sogenannten New Topographics.
Der Name dieser Fotorichtung leitet sich von der Ausstellung New Topographics: Photographs of a Man-altered Landscape ab, die 1975 im George Eastman House in Rochester, New York, gezeigt wurde und in der auch Werke von Shore und Baltz vertreten waren. Versammelt waren in dieser Schau insgesamt neun künstlerische Positionen, die eine neuartige Sichtweise auf die amerikanische Landschaft etablierten. Schlichte Alltagsszenen, Mobile homes, Gewerbeparks, Bungalows oder Motels und Autobahnen waren die Motive. Ähnlich wie bei Mejchar ging es auch hier nicht mehr um die ideale Naturlandschaft, stattdessen rückte die von Menschen benutzte, umgestaltete und gemeinhin als hässlich empfundene Landschaft ins Zentrum des fotografischen Blicks.
Da Mejchar eine rege Ausstellungsbesucherin war, dürfte sie die Arbeiten der amerikanischen Fotograf:innen aus diesem Umfeld in der Wiener Ausstellung sehr wohl gesehen haben. So wie in der amerikanischen Fotografie der 1970er-Jahre spielt auch bei Mejchar die Dokumentation des Ist-Zustands von trivialen oder als hässlich unschön empfundenen Szenerien in nüchternen, aber ästhetisch hochwertigen Fotografien in Schwarz-Weiß oder auch in Farbe eine große Rolle. Beispielhaft lassen sich diese Ähnlichkeiten an ihrem Exkurs in die Farbfotografie in der Serie „Wienerberger Ziegelöfen“ (1979–1981) zeigen.
Auch wenn es zahlreiche Parallelen zwischen der neuen amerikanischen Landschaftsfotografie und den Arbeiten Elfriede Mejchars gibt, darf man ihre fotografische Neubewertung der Landschaft eher als parallele Entwicklung zur New-Topographics-Bewegung sehen. Schließlich hat die österreichische Fotografin ihre Landschaftsserie bereits in den 1960er-Jahren begonnen, also lange vor der legendären amerikanischen Ausstellung. Mit ihrer fotografischen Präzision, ihrem ästhetischen Blick auf das vermeintlich Uninteressante und ihrem konzeptuellen Ansatz eröffnete Mejchar gänzlich neue Zugänge in der dokumentarischen Fotografie in Österreich. Aus diesem Grund kann sie unbestreitbar als Pionierin und Vorreiterin in der künstlerischen Fotografie des Landes bezeichnet werden.
Dieser Text stammt aus der Begleitpublikation zum Elfriede Mejchar-Ausstellungsprojekt von Wien Museum, der Landesgalerie Niederösterreich und dem Museum der Moderne Salzburg. Die Ausstellung im Wien Museum MUSA ist von 18. April bis 1. September 2024 zu sehen und wurde von Frauke Kreutler und Anton Holzer kuratiert. Die Publikation ist vor Ort und im Online Shop des Wien Museums sowie im Buchhandel erhältlich.
Elfriede Mejchar – ein Leben mit Fotografie, Video: Butterbrot 17, 2010, 2 Teile
Elfriede Mejchar im Gespräch mit Wolfgang Kos, in: Lisa Wögenstein, Elfriede Mejchar. Fotografien von den Rändern Wiens, Salzburg 2008, S. 66
Elfriede Mejchar im Gespräch mit Roswitha Straihammer, in: Elfriede Mejchar: Fotografie, Weitra: Bibliothek der Provinz, 2014, S. S. 201, 208
Elfriede Mejchar im Gespräch mit Anna Hanreich, in: Walter Moser (Hg.), Österreich. Fotografie 1970-2000, Wien 2017, S. 172
Doris Blätterbinder: Licht und Schattendramaturgie im Film Noir, Masterarbeit Hagenberg 2018
Kommentar schreiben
Kommentare
Keine Kommentare