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Thomas Keplinger, 12.11.2023

Entlang der dunklen Bäche der Stadt

Ohne Parfum im Untergrund

Unter den Gehsteigen, den Straßen und Gassen, Parks und Grünflächen, Plätzen und Häusern rauschen beständig reinigende Flüsse durch den Untergrund: die Bachkanäle und ihre Zuleitungen. Einst unheilbringende Wildbäche, plätschern sie heute als Hauptadern der städtischen Entwässerung durch finstere Gewölbe dem tiefsten Punkt der Stadt, der Hauptkläranlage in Simmering, entgegen. Eine unterirdische Begehung unter fachkundiger Leitung.

Ich stehe im Büro von Hakan Arabaci und erhalte eine Sicherheitsbelehrung: Den Anordnungen Folge zu leisten, die Gruppe nicht zu verlassen und weitere wichtige Punkte auf der Liste sollen für die wohlbehaltene Rückkehr aus dem Kanal sorgen. Schon an diesem Punkt beschleicht mich eine vage Ahnung der Gefahren, die im Entwässerungsnetz lauern.
 

Der Währinger Bach

Im Mannschaftswagen fahren wir zu einer sternförmigen Schachtabdeckung schräg vis-a-vis der Volksoper, wo an jenem Abend das Stück „Der Zauberer von Oz“ läuft. Öffnet man den „Stern“, so erscheint darunter eine Wendeltreppe, die hinabführt in das dunkle nasse Reich unter der Stadt.

Gerade als wir die Stufen abwärts gehen, kämpft im Opernhaus die vom Winde verwehte Dorothy gemeinsam mit dem Blechmann, dem Löwen und der Vogelscheuche gegen Hexen, fliegende Affen und Jitterbugs. Der Ort, der sich mir nun offenbart, regt ganz ohne die Existenz überirdischer Geschöpfe die Phantasie an.

Das Rauschen des vom nachmittäglichen Regen gespeisten Währinger Bachs empfängt uns im unterirdischen Gang, der von der Wendeltreppe zum Bach führt. Im Gerinne des 1910 eingeweihten neuen Kanals, der gebaut wurde, um den Währinger Bach in Richtung Althangrund umzuleiten, tost selbiger zu Tale. Dazu mischen sich über die Kanalschächte die Geräusche der hunderten Fahrzeuge, die oben am Gürtel über unsere Köpfe donnern. Lärm hallt durch die Gewölbe – Kommunikation verläuft rufend, aber vorerst gibt es ohnehin nicht viel zu sagen. Der Mann mit dem Gaswarngerät geht vorneweg, ich in der Mitte und ein dritter macht das Schlusslicht.

Auffallend wenig Geruch liegt in der Luft. Wäre mir nicht bewusst, am betonierten Ufer eines Baches zu stehen, der die Abwässer tausender Haushalte und Betriebe ableitet, könnte es sich genauso gut um die Frischwasserzufuhr des Heilbades eines Kurhotels handeln. Die Bewegung auf dem „Gehsteig“ seitlich des Gerinnes ist relativ angenehm, glitschige Flächen sorgen für etwas Schweiß auf der Stirn. Ich passe mich gebeugt gehend dem Gewölbebogen an, von dem vereinzelte Spinnweben, Stofffetzen und Papierreste herabhängen. Da endet der „Gehsteig“, vor uns rauscht der Bach. „Was nun?“, denk ich mir, da macht es der vorderste schon vor. Die Manschetten der schweren Stiefel, die im Normalfall schon bis über die Knie reichen, werden hochgeklappt. Vorsichtig steigen wir in den Bach. Das Wasser spritzt und entfaltet spürbaren Druck am Stiefel. Zum Festhalten gibt es hier nichts, Trittsicherheit bekämpft das Adrenalin.

Einer unangenehmen Vorstellung folgend frage ich in die Runde, ob es schon vorkam, dass einer ausrutschte und baden ging. Ich ernte amüsierte Gesichter und die Auskunft, das würde jedem einmal passieren. Im Latein der Kanalarbeiter wird ein derartiges Ereignis die „Taufe“ genannt. Mich innerlich auf mein agnostisches Wesen berufend nehme ich mir fest vor, diesen Ort ungetauft zu verlassen. Nach drei Metern entsteigen wir dem Gewässer auch schon wieder und stehen im alten Gewölbe des Währinger Bachs. Während dessen neues Bett schön verputzt ist, besteht dieses Bauwerk, das zwischen 1846 und 1848 errichtet wurde, im ganzen Profil aus blanken Klinkerziegeln.

Um diesen Bericht mit ansprechenden Fotos zu untermalen, hatte ich geplant, die eine oder andere Ratte abzulichten, doch so viele gibt es gar nicht. Nur wenige tauchen im Lichtkegel der Lampe auf, bevor sie im gestreckten Galopp das Weite suchen. Keine einzige Ratte erschien, um für ein Foto stillzuhalten. 

Wir erreichen ein spannendes Bauwerk, wo das neue Gerinne des Währinger Bachs das alte überquert. Während oben der Bach fließt, plätschert im alten Bett ein müdes Rinnsal, das nur nach starken Regenfällen oder im Zuge der Schneeschmelze anschwillt und bei der Markthalle in den Alserbach mündet.

Unser Weg führt uns unterhalb des oberirdischen Bertha-Löwi-Wegs vom Gürtel hinab zur Nußdorfer Straße, da tut sich mit einem Male ein Abgrund von etwa drei Metern Höhe vor uns auf. Zum Ausgleich des Niveauunterschieds hatten die Baumeister des 19. Jahrhunderts hier eine Steilstufe errichtet, über die in früheren Zeiten wohl ein regelrechter Wasserfall brauste.

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Der Alser Bach

Am Ende des alten Gewölbes stehen wir vor einem breiten Fluss. Es ist der Alser Bach, der hier in einem knapp 5,70 Meter breiten Bett fließt. Die Höhe zum First beträgt 2,20 Meter. Unmittelbar hinter der Einmündung teilen sich die Wässer auf zwei Stränge auf, die bis kurz vor der Friedensbrücke parallel verlaufen. Der Grund dafür ist praktisch: Wird ein Strang gereinigt, gewartet oder renoviert, so leitet man das Wasser in den jeweils anderen um, um trocken arbeiten zu können.

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Etwas weiter flussaufwärts befindet sich unterhalb des Zimmermannplatzes ein faszinierendes Highlight der Wiener Kanalisation – ein Schotterfang. Wieder steigen wir nach Öffnung eines „Sterns“ über eine Wendeltreppe ab.

Eine riesige Halle verbirgt sich unter dieser unscheinbaren Verkehrsfläche. Der von außerhalb des Gürtels kommende Alser Bach durchfließt hier tiefe Becken, in denen sich schwere Dinge wie etwa eingespülte Steine, Metallstücke oder Gegenstände, die in den Kanal gefallen sind, absetzen. Von Zeit zu Zeit wird der Inhalt der Becken abgesaugt. Bei Inspektionen finden die Arbeiter auch außerhalb der Schotterfänge teils erstaunliche Dinge: Gebisse, Handys, Schneestangen und sogar Erwachsenenspielzeuge für schöne Stunden finden sich in den Fluten.

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Der Ottakringer Bach

Spät abends fahren wir weiter in den sechzehnten Bezirk. In der Fröbelgasse steigen wir über einen Schacht in einen Zufluss des Ottakringer Bachs ab. Ein altes Ei-Profil erwartet uns, eineinhalb Meter hoch, einen Meter breit. Wahrscheinlich war es zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme vollständig verputzt, mittlerweile liegen die Ziegel im Gerinne frei. Moderne Kanäle entstehen in Betonbauweise, hier hingegen fließt der Bach durch Bauwerke, die zwischen 1890 und 1903 entstanden sind.
 

Nach dem Aufstieg aus dem Zufluss frage ich Thomas, der die Pylonen zur Absicherung des offenen Schachts wieder im Mannschaftswagen verstaut, wie die Reinigung der Kanäle vor sich geht. Zum größten Teil geschieht diese Arbeit mittels LKW von oben durch Spülung und Absaugung. Nur dort, wo der Lastwagen nicht zufahren kann, müssen die Kanäle per Holzschieber geräumt werden. Die Arbeit ist anstrengend, im kleinsten schliefbaren Profil von 105 x 70 Centimetern ist es Schwerstarbeit.

Der Abstieg in den zwischen 1837 und 1840 eingewölbten Ottakringer Bach beschert uns neugierige Blicke. Inmitten des Wartebereichs der Straßenbahn befindet sich der Schacht, über den wir in die Tiefe klettern. Unten umspült dunkelbraunes Wasser die Stiefel. Ausnahmsweise ist deutlicher Geruch wahrzunehmen – es duftet nach dem Malz der Ottakringer Brauerei. Die dunkle Färbung des Wassers stammt von den Abwässern der Bierproduktion.

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Schreiberbach

Im Bereich der Zahnradbahnstraße in Döbling verschwindet der Schreiberbach seit 1885 im Untergrund. Ein Kreisprofil mit 140 Zentimetern Durchmesser nimmt die Wässer auf.

Wie fast alle Bachkanäle dient auch dieser der Aufnahme von Lichtwellenleitern, die sich als grüner Streifen durch die Dunkelheit winden. Das ultraschnelle Glasfaserinternet kommt in Wien vielerorts aus dem Kanal.
 

Ameisbach

Der Aufenthalt im Ameisbach, der kurz vor seiner Einmündung in den linken Wienflusssammelkanal in einem Ei-Profil mit einer Breite von 110 und einer Höhe von 165 Centimetern fließt, geht schnell vorüber. Kaum waten wir im heftig strömenden Bach, da schlägt das Gaswarngerät an. Das laute Kommando „Auf!“ signalisiert den an der Oberfläche sichernden Kollegen, dass der Trupp sofort wieder aufsteigen muss. Die größte Gefahr stellen Faulgase mit hohem Methan-Anteil dar und der damit verbundene Sauerstoffmangel.

Linker Wienflusssammelkanal und Wienfluss

Zwischen 1836 und 1839 entstand innerhalb des Gürtels der linke Wienflusssammelkanal, der den Wienfluss parallel begleitet. Durch einen Schacht in einer Grünfläche steigen wir – wie auch beim Abstieg in die anderen Kanäle per Seil am Gurt gesichert – in eine hohe Kammer ab. Drei Meter über dem Boden verläuft der Kanal. Bei Überlastung fließt das Wasser durch eine direkte Verbindung aus der Kammer in den zwischen 1898 und 1904 überwölbten Wienfluss.

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Bei der Unterquerung der Stadt durch die historischen Bachkanäle tauchen vor meinem inneren Auge die Bilder der Strotter auf, die man aus Büchern kennt. Sie fristeten auf ihrer Suche nach Metall, Knochen und Fett ein klägliches Dasein, das sich zum größten Teil unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen in den damals noch fürchterlich stinkenden Kanälen abspielte. Als Orson Welles Ende der 1940er Jahre den Schmuggler Harry Lime im Film „Der dritte Mann“ verkörperte, parfümierte er sich erst intensiv ein, bevor er die nächste Szene des seit Jahrzehnten Kultstatus genießenden Films spielte. Heute ist die Entwässerung ein gut durchlüfteter Ort, der einen der für das Gemeinwohl der Bevölkerung wichtigsten Arbeitsplätze Wiens darstellt.

 

Ich danke Josef Gottschall sehr herzlich für die freundliche Genehmigung, die Bachkanäle besichtigen zu dürfen und Matthäus Milkovits für die Organisation. Großer Dank geht an Hakan Arabaci für die Tourenplanung, die zahlreichen Informationen und Auskünfte sowie an Daniel, Marcel, Mario und Thomas, die mich in den Kanälen begleitet, geführt und gesichert haben.

Thomas Keplinger hat Geschichte an der Universität Wien studiert. Er betreibt das detailhistorische Forschungs- und Dokumentationsprojekt „Worte im Dunkel“. Darin widmet er sich in Form eines Blogs Beschriftungen, Graffiti, Schildern, Aushängen, Zeichnungen und Symbolen des Zeitraums zwischen 1932 und 1955, die noch heute dort anzutreffen sind, wo sie einst angebracht oder aufgehängt wurden.

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Kommentare

Thomas Keplinger

Hallo Daniel, ja, war ein spannender Ausflug in die Unterwelt. Freut mich, wenn dir die Fotos gefallen.

Daniel

Danke nochmals für die tollen Foto‘s !!! Hat spass gemacht LG Daniel :)

Thomas Keplinger

Ich danke auch den Kommentator*innen der neu hinzugekommenen Beiträge für das schöne Feedback!

Heinz Wieland

Besten Dank für diesen hochinteressanten Beitrag. Als geborener Ottakringer wollte ich immer schon wissen, was der Ottakringer Bach da unten so treibt.

Thomas Keplinger

Ich danke Ihnen beiden für das positive Feedback! Das Fotografieren in den Kanälen war tatsächlich nicht ganz einfach, am schwierigsten aber war es in dem alten Zuflusskanal zum Ottakringerbach (das geziegelte Ei-Profil). Dort musste ich die Klemmen des Stativs in den Ziegelfugen einhängen und hoffen, dass die Stativbeine nicht vor Ende der Belichtungszeit in die Mitte des Gerinnes rutschten.

Karin Moorfeld

Ganz lieben Dank für den hochinteressanten Bericht.
Gruß nach Wien aus Norddeutschland.

Hoffmann, DGPh, Berlin

Schließe mich dem Erstkommentar an. Fotografisch gelungene Darstellung. Kompliment für die engagierte Arbeit in schwierigem Umfeld.

Severin Hohensinner

Danke für diesen höchst interessanten und ausgesprochen schön illustrierten Artikel!