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Philipp Reichel-Neuwirth, 11.3.2022

Fallbeispiel Maximilianplatz

Leere und Fülle

Karl Friedrich Gsur hat 1906 in einem großformatigen Gemälde den Maximilianplatz (heute: Rooseveltplatz) vor der Votivkirche „inszeniert“. Doch wie sah die Realität aus? In Kombination mit zeitgenössischen Fotografien lässt sich anhand des Kunstwerkes die damalige – und nach wie vor aktuelle – Diskussion um menschenleere Großplätze augenscheinlich erläutern.

Der Vorhang geht auf, begleitet von ein paar Takten Orchestermusik. Die Operette kann beginnen! Die Bühne: ein Platz in Wien in der Morgensonne. Die Kulisse: die Votivkirche zentral im Hintergrund, links und rechts Häuserreihen. Eher hinten auf der Bühne: Pferdeomnibusse, Tramway, Kutsche, Bevölkerung auf der Straße. Im Vordergrund rechts, am Rand der Bühne: eine Blumenverkäuferin, unweit davon ein Dienstmann beim Anzünden einer Zigarette. Eher links, „Alte Herren“ einer Studentenverbindung (?) beim Tratsch mit Zigarre im Mund, ganz links ein Dienstmädchen mit Hund und Einkaufskorb, die von Uniformierten angeflirtet wird. Oder bloß angestarrt. Sind sie die Hauptfiguren des Lustspiels, das gleich beginnt? Alle Gesichter eher ausdruckslos, bis auf das Dienstmädchen. Das lächelt verlegen und hält ihr Kleid kokett. Der Hund passt auf.

Der Maler Karl Friedrich Gsur inszeniert den Maximilianplatz (1906) im gleichnamigen Gemälde wie den Anfang einer Operette, man könnte meinen -  ja, weil halt Wien so war? Wien und das Theater, das war doch eine Wirklichkeit. „Jeder – ob Dienstmann, Straßenbahnfahrer, Graf oder Kaiser – erfreute sich daran, Rollen zu spielen, schlagfertige Antworten zu geben, und machte so jede gesellschaftliche Begegnung zur ausgefeilt interpretierten Szene", so beschreibt es der amerikanische Historiker William M. Johnston.

In diesem Fall, zugegeben, wären es sehr subtile Szenen, fast erscheint das Bild beiläufig und alltäglich. Wie Schauspiel oder Malerei soziale Realität darstellen können (Dienstmänner, Pferdeomnibusse und Uniformierte waren im Stadtbild um 1900 tatsächlich präsent), so können es auch Verhältnisse beschönigen, z.B. dass das  Dienstmädchen links im Bild in der Realität oft unfreiwillig „süßes Mädel“ war und im Theater als auch der bildenden Kunst meist als Männerphantasie kokett lächelnd imaginiert wurde. Die Kunst kann auch geschickt räumliche Realitäten verschleiern, wie die Distanz zwischen den Menschengrüppchen im Vordergrund und der Votivkirche im Hintergrund: damals wie heute ein riesiger und leerer „Platz“, der Maximiliansplatz, heute Rooseveltplatz samt vorgelagertem Sigmund-Freud-Park.

Gsur malt eine Theaterbühne und erinnert uns daran, wie sehr Malerei und Architektur, sogar Stadtplanung, von der Idee der perspektivisch gestalteten Schaubühne seit der Renaissance ausgegangen waren. Nachdem wir uns auf der rechten Bildhälfte an Dienstmann samt Signatur des Malers auf der Holzkiste, Blumenverkäuferin und Pferdeomnibus mit „Odol“-Reklameschild satt gesehen haben, zieht uns die Aufmerksamkeit eigentlich vielmehr nach links. Links beginnt’s, das Lustspiel! Die Reihen der Pflastersteine auf der Straße führen uns zum Fluchtpunkt, der sich irgendwo am Ende der Universitätsstraße verliert, aber verführen uns eigentlich zum geheimen Mittelpunkt der Szenerie, dem Dienstmädchen. Sämtliche Menschen im Häuserschatten sind im Aktionsbereich, der schmale, sonnenbeschienene Zwischenbereich mit den Laternen dahinter fügt sich eher in die statische Kulisse ein, zum „Bild im Bild“ mit den Architektursilhouetten. Nur die Kutsche führt unsere Blicke in Richtung Portal der Kirche, ansonsten bleibt sie unbeteiligte Beobachterin im Hintergrund.

Ganz in der Tradition der ersten Stadtveduten zieht der Maler die Kirchtürme künstlich in die Höhe. Zusätzlich zu dieser Turmverlängerung verpasst der Maler der Votivkirche architektonische Schulterpolster, rechts mit dem Palais Angerer (und bald darauf bis heute Hotel Regina; Architekt: Emil von Förster) und links mit einem Ferstelbau (Universitätstraße 2). Wenn man die etwas ungelenke Positionierung, wie Zinnsoldaten, der drei Männer im linken Vordergrund (die beiden „Alten Herren“ mit Zigarre sowie der Lesende) milde toleriert, dann wirkt das Bild eigentlich harmonisch. Der große leere Stadtraum zwischen Schottengasse und Votivkirche ist gefüllt und belebt.

Vielleicht hat der Maler Gsur das Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen  (1889), von Camillo Sitte im Hinterkopf oder wusste von dessen Plänen zur Verbauung des Maximiliansplatzes. In dieser einflussreichen Analyse europäischer Platzgestaltung kritisierte Sitte die leeren und unmotiviert unverbauten Flächen entlang der Ringstraße (u.a. auch den Rathausplatz). Er schlug vor, sie mit Gebäuden so zu gestalten, dass kleinere Plätze im Sinne der antiken Foren oder mittelalterlichen Plätze entstünden, wo Begegnungen zwischen Menschen und interessante Blickperspektiven auf die Monumentalbauten möglich wären. Seiner Meinung nach ist die Wiener Stadterweiterung, die nach ungezielt geplanten Rechteckrastern vonstatten ging, ein Sakrileg – im Vergleich zur altehrwürdigen Platzgestaltung in den europäischen Städten des Mittelalters, der Renaissance und des Barock. Anstatt der bewussten oder unbewussten organischen Asymmetrien in Straßenzügen, interessant verbauter Kirchen und anderer wertvoller Architekturtraditionen wäre man nach Sitte in Wien einfach nach dem Reißbrett vorgegangen und hat bezugslose riesige Leerräume geschaffen, die man widersprüchlich „Plätze“ nennt.

Seine Pläne für Gebäude vor der Votivkirche, dem Rathaus und entlang der Ringstraße, die die Monumentalbauten besser eingerahmt und zur Geltung gebracht hätten, wurden nicht realisiert – Sitte galt zwar einigen als praktischer Visionär, aber anderen als Träumer. William M. Johnstons Urteil: „Sitte verkörperte den Wiener Ästhetizismus vor allem in seiner völligen Nichtbeachtung funktioneller Probleme. Wie ein Bühnenbildner sollte seiner Ansicht nach der Stadtplaner darauf aus sein, das Auge des Beschauers zu erfreuen, ohne jede Rücksicht auf die täglichen Erfordernisse. Sitte schien die Städte in Tiefenszenerien romantischer Opern verwandeln zu wollen.“

Im Vergleich zu Gsurs Ansicht, die eben einer solchen Theaterkulisse gleicht, zeigen zeitgenössische Fotografien die große Leere, die auch mit Bäumen nur schlecht als recht kompensiert wurde. Sitte: „Was bedeutet denn ein freier Platz als Visurraum noch, wenn er mit Laubwerk verstopft ist?“

Eine (neo-)gotische Kirche braucht für ihre Wirkung eine enge Verbauung, wie im Mittelalter, in deren engen Städten sie ursprünglich entstand. Die Votivkirche steht einsam „in der Gegend herum“, so sinngemäß Sitte, kein bewusster Blickraum, kein Bezug, weder räumlich, noch architektonisch, ist vorhanden.

Manche Fotografien scheinen diesen baulichen Fehler (nach Sitte) anhand von neuen Perspektiven zu kaschieren. Von der Position aus den Arkaden des Gebäudes Reichsratstraße 15-17 aufgenommen wirkt die Votivkirche malerisch und zurückhaltend, wie eine geheimnisvolle Figur einer Oper im Hintergrund des dramatischen Geschehens, aber darin eingebunden und nicht einsam.

Die verbindende Nähe zwischen Architekturen entspricht der Nähe zwischen Menschen im öffentlichen Raum, eine Qualität, die Sitte schmerzlich vermisst: „Das Volksleben zieht sich seit Jahrhunderten stetig, hauptsächlich aber in neuester Zeit, von den öffentlichen Plätzen zurück, wodurch ein gut Teil ihrer einstigen Bedeutung verlorenging und es so beinahe begreiflich wird, warum das Verständnis für schöne Platzanlagen in der großen Menge bereits so arg verschrumpfen konnte.“ (Sitte, S. 117).

Der öffentliche Raum des Volkslebens birgt aber eben auch einige Gefahren. So wagen sich die Kaiser zwar seit Joseph II. in den öffentlichen Raum, um Volksnähe zu zeigen, sind aber Attentaten ausgesetzt – Franz Joseph I. entgeht einem Angriff nächst dem Kärntner Tor im Jahr 1853, aus Dank wird die Votivkirche gebaut.

Der Initiator der Baus der Votivkirche, sein Bruder Ferdinand Maximilian, späterer Kaiser Maximilian von Mexiko, wird 1867 in Mexiko hingerichtet. Das bedeutet, namentlich und symbolisch ist der Maximiliansplatz mit Votivkirche im Hintergrund mit der Gewalt an Mitgliedern des Kaiserhauses verbunden. Die Nähe des Platzes zur Universität als potentielles „Unruhenest“ ist auch nicht irrelevant, so erwähnte Camillo Sitte die militärische Notwendigkeit der großen offenen Plätze als Aufmarschgebiet im Falle einer Revolution wahrscheinlich bewusst nicht. Der Maximiliansplatz war funktional offen (im militärischen Sinn), aber nicht öffentlich, wie es Gsur uns vortäuscht. Friedlich spazieren oder gaffen die Uniformierten im Gemälde von Gsur, die Alten Herren einer ehemals gefährlichen Studentenschaft rauchen ihre Zigarren. Reale Räume der Überwachung werden künstlerisch als Plätze der Begegnung inszeniert.
 

Literatur:

Johnston, William M.: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938 (orig. 1972 The Austrian Mind), 4. Auflage (Wien 2006).

Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889). Reprint der 4. Auflage von 1909 (Basel/Boston/Berlin 2001).

Philipp Reichel-Neuwirth, geboren 1984 in St.Pölten studierte Geschichte an der Universität Wien (Mag. phil. und MA) und lernte Schauspiel an der Schule des Theaters Wien (Diplom der Bühnenreife der paritätischen Prüfungskommission). Er arbeitet in der Kunst- und Geschichtsvermittlung für Museen seit 2007 (Kunsthalle Krems, Belvedere, Wien Museum) und macht als zertifizierter Austria Guide freiberuflich Stadtführungen, Museumsführungen, Vorträge und Kulturreisen. Philipp arbeitet darüber hinaus als Performer (u.a. Theater im Nestroyhof) und Präsentationstrainer. Die erste historisch-kulturwissenschaftliche Publikation „Herrschaft und Protest in Wiener Sagen. Wahrzeichen und ihre religionspolitische Propagandafunktion“ erfolgte 2021 bei Verlag Böhlau.

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