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Schriftkunst im öffentlichen Raum
FLEISCH WURST dringend gesucht
Zwischen unserem Magazin und Ihrer Arbeit besteht ja eine gewisse Verbindung. Unser Kollege Tom Koch widmet sich in seinen Projekten Schrift und Stadtschrift. Und das hat Sie beide zusammengeführt, richtig?
Tom hat 2022 die Ausstellung „Finding Forte. The Typeface Everyone Knows” im designforum Wien organisiert und mich gefragt, ob ich mit einem meiner Leerstandsanagramme eine Außenstelle zur Ausstellung beitragen möchte. Er hat sein Atelier im 16. Bezirk und auf der Hernalser Hauptstraße gab es eine leerstehende Konditorei und Bäckerei, deren Geschäftsaufschrift in Forte gehalten war. Er hat mich darauf aufmerksam gemacht und mir hat es viel Spaß gemacht, Vorschläge für ein Anagramm daraus zu entwickeln.
Was kann man unter Leerstandsanagramm verstehen und wie gehen Sie dabei vor?
Ich sehe mir eine Beschriftung im öffentlichen Raum an, probiere hin und her mit den einzelnen Buchstaben und Sonderzeichen, und überlege mir eine Lösung passend zu dem Ort. Die halte ich in einer Fotomontage fest und präsentiere sie den beteiligten Leuten. So ein Projekt steht und fällt mit den Eigentümer:innen und Mieter:innen eines Gebäudes. Im Gespräch entscheidet sich, ob mein Gegenüber etwas mit der Idee anfangen kann, ob die Person einen Sinn dafür hat, oder eben nicht. Ohne dieses OK kann das Projekt nicht real stattfinden. Dann gibt es Postkarten oder Videos von nicht-realisierten Ideen, aber die Königsdisziplin ist die Umsetzung tatsächlich in der Stadt sichtbar zu machen. Deswegen führt der allererste Weg immer zu diesen Personen, in dem Fall zum Bäcker! Tom und ich sind gemeinsam zu Herrn Muhammed Günay gegangen, wir haben ihn in einer seiner Filialen angetroffen und ihm meine Lösung vorgeschlagen – und er war sofort dabei! Wir sollen nur machen.
Und was war die Lösung?
Aus „BÄCKEREI KONDITOREI“ habe ich „COOKIE: ARBEITERKIND“ gemacht, wobei das Trema des Ä zum Doppelpunkt geworden ist. Der Anspruch, wirklich bis zum letzten Zeichen alles wiederzuverwenden, ist erfüllt. Die Lösung ist eine biographische Hommage an Tom Koch, den ich Cookie genannt habe, und dessen Vater nicht nur Koch hieß, sondern auch als Koch arbeitete. Der Schriftzug ist nach wie vor so zu sehen. Solange kein Umbau passiert oder das Lokal weitervermietet wird, bleibt das wohl auch so.
Bei Ihren Anagrammen handelt es sich also nicht um Nonsens, sondern Sie wollen neben dem Spaß mit der Sprache auch Botschaften vermitteln?
Die Idee ist schon, dass es eine Anknüpfung an den Ort und die involvierten Personen gibt. Ein Beispiel ist das Zwischennutzungsprojekt eines ehemaligen Parkhauses „Garage Grande“ in Ottakring. Darauf war ein Schriftzug angebracht mit Bindestrich und vielen Zahlen: „GARAGE DER STADT WIEN ERRICHTET IN DEN JAHREN 1973–1974“. Da ergeben sich viele Möglichkeiten fürs Anagrammieren. Schlussendlich habe ich eine dreiseitige Lösung entwickelt, bestehend aus einem Slogan, einem Titel und einem Inserat. Der Slogan „INTERNET WAR GESTERN“ gefällt mir besonders gut, weil ich gerne analog arbeite und alle meine Lösungen davon leben, dass man den Kopf nicht im Handy hat, sondern auf seine Umgebung schaut. Der Titel „DIE DACHGÄRTEN“ hat sich auf die Begrünung des Hauses bezogen, wobei der frühere Bindestrich zum Strich-Trema für das Ä geworden ist. Und für die dritte Seite ist ein Inserat geblieben: „HIRE A DJ 11 34 77 99“ – bisher kein Anschluss unter dieser Nummer! Ich habe noch nichts davon gehört, dass ein DJ-Kollektiv die Nummer zu sich umgeleitet hat, aber wer weiß. Mittlerweile ist die Schrift von einem gemalten Netz auf der Fassade und vielen Pflanzen umrankt, aber sie ist immer noch zu sehen.
Wie ist Ihnen die Idee für Ihre Leerstandsanagramme erstmals gekommen?
Das geht auf ein Projekt am Land zurück, beim Viertelfestival im Mostviertel 2016. Fabian Faltin hat mich eingeladen, etwas gemeinsam mit seinem Kulturschuppen in Pixendorf im Tullnerfeld zu machen, und wir haben die Idee des Gemischten Satzes entwickelt – das ist sozusagen die Ursuppe aller Leerstandsanagramme: Wir sind im ganzen Mostviertel ausgeschwärmt, um den Letternschatz der Region zu heben und mit den Fundstücken einen neuen Letternsatz zu bilden. Wir haben in alten Schuppen gesucht und Ausschau gehalten nach Beschriftungen verlassener Geschäfte. Da waren Bäckereien, Tischlereien, und vor allem viele tote Fleischer am Wegesrand. Und in dieser Zeit habe ich versucht, einzelne Schriftzüge an Ort und Stelle zu anagrammieren. Der erste Fall war in einem kleinen Ort in Niederösterreich, wo ich damals mit einer Freundin herumgekurvt bin und auf einmal sehe ich in einer Seitengasse eine Aufschrift: „FLEISCH WURST“. Mein Anagramm daraus war „SCHWULE FIRST“. Ich habe die Eigentümer mit meiner Fotomontage kontaktiert und erstmals lange nichts gehört. Dann habe ich nachtelefoniert und die Dame am anderen Ende hat gemeint, nein, das würde ihrem Bruder sicher nicht gefallen … Ich habe es noch einmal in Wien im 16. Bezirk bei einem anderen Fleischer versucht, da hat es aus anderen Gründen nicht geklappt. Dieses Anagramm würde ich noch sehr gerne umsetzen, wenn mir wieder ein verlassener Fleisch Wurst-Schriftzug unterkommt.
Haben Sie das Gefühl, dass politische Statements schwieriger umzusetzen sind?
Ich habe mich nicht wirklich gewundert, dass das in einem kleinen Ort am Land nicht klappt. Aber es hätte auch sein können! Man weiß das vorher nie. Vorannahmen entpuppen sich oft als falsch. Ich kann in dem Zusammenhang ein Beispiel aus Kärnten erzählen, das nichts mit Anagrammen aber mit einem Schriftzug zu tun hat. Das war im Sommer 2016, also kurz nach dem Gemischten Satz, im Zuge einer Ausstellung des Kulturvereins UNIKUM. Es gab ein wunderschönes Gipfelrestaurant am Berg Ofen, der genau am Dreiländereck zwischen Italien, Österreich und Slowenien liegt. Dem Betreiber, Herrn Ewald Krassnitzer, habe ich vorgeschlagen, die Aufschrift Alhamdulillah über den Eingang zu montieren, also Gottseidank auf Arabisch, und das in einer knallroten Schriftart, die an einen sehr bekannten österreichischen Limonadenhersteller erinnert. Gemeinsam mit den Kurator:innen bin ich auf dem Lift zum Gipfel gesessen und es war absolut unklar, wie das Gespräch mit ihm verlaufen würde. Im Sommer 2016 war die große Migrationsbewegung aus Syrien und Afghanistan von 2015/16 sehr präsent. Ich habe dem Wirt dann erklärt, dass man 20 Minuten mit der Seilbahn zu seinem Gasthaus hinauffährt und wenn man dann ankommt und wieder festen Boden unter den Füßen hat, denkt man zuerst „Gottseidank“. Alhamdulillah sagt man so wie bei uns zu jeder Gelegenheit, wenn man zum Beispiel gerade noch die U-Bahn erwischt. Es ist also ein sehr alltäglicher Ausdruck – der dank der Limonadenschrift auch in ganz alltäglichem Gewand daherkommt. Herr Krassnitzer hat sofort gesagt, „Das schaut klass aus, das mach‘ ma!“ Und so wurde der zirka drei Meter breite, geschwungene Schriftzug dann gehängt und es gab auch passende Gläser dazu.
Ist dieser Schriftzug heute noch am Berg?
Die Ausstellung, im Zuge derer er entstanden ist, war irgendwann zu Ende, aber der Schriftzug ist geblieben und hat sich so in den öffentlichen Raum eingeschrieben. Es haben sich dann aber Nachbarn mit einer Unterschriftenaktion beim Wirt gemeldet, weil sie der Meinung waren, Arabisch gehört nicht hierher und der Schriftzug müsse weg. Herr Krassnitzer hat dem aber entgegengestellt, dass er nicht wüsste, warum man das abnehmen sollte, es ist ein Kunstwerk und das gehört sehr wohl hierher. Er hat mich vor der Aktion nicht gekannt, hat sie aber trotzdem gegenüber seinen tagtäglichen Nachbar:innen verteidigt. Und er hat nicht einmal damit geprahlt – ich habe das erst sehr viel später von einem der Kurator:innen erfahren – sondern er hat das einfach getan, weil er hinter dem Projekt gestanden ist. Besser kann ich mir das nicht vorstellen. Zwei Jahre später haben wir den Schriftzug aber doch abgenommen, weil sich die Limonadenfirma gemeldet hat und wir keinen weiteren Zores damit haben wollten. Ich denke, es hat seine Zeit gehabt.
Ist das Ihr Zugang zum öffentlichen Raum generell, dass Sie diese Langlebigkeit und das Eigenleben der Arbeiten spannender finden, als im abgeschlossenen Raum einer Galerie auszustellen?
Das ist auf jeden Fall das, was mich interessiert. Ich bin eine Person, die stark auf Plakate, Aufkleber, Graffiti und alle möglichen Zeichen im öffentlichen Raum reagiert. Deshalb ist das der Ort, der mir am meisten gefällt, und es macht mir am Spaß, Dinge zu kreieren, die den Alltag begleiten und sich hier einschreiben. Es kommt auch schon mal vor, dass die Nachbarschaft gleich mitwirkt. Ein Beispiel aus dem 14. Bezirk in der Huttengasse fällt mir dazu ein, das im Zuge der Wienwoche 2017 realisiert worden ist. Dort haben wir den Schriftzug „BILDHAUER KUNSTSTEINWERK“ gefunden, also ein aufgelassenes Gewerbe für Grabsteine und ähnliche Produkte. Ich hatte zwei Anagramme zur Auswahl für die Eigentümer:innen, „KISTENWEISE RANDKULTUR“ oder „ABER HEUTE WIRKST DU LINKS“. Sie haben sich für zweiteres entschieden – aber ohne mit der Nachbarschaft zu rechnen ... Wir haben also den Satz montiert, die Waschbetonplatten waren unmöglich zu bohren, deshalb haben wir die Buchstaben mit Silikon geklebt und über Nacht trocknen lassen. Als wir am nächsten Tag wieder hingekommen sind, fehlte das letzte S. Jetzt stand hier „ABER HEUTE WIRKST DU LINK“, was ja gleich etwas ganz anderes bedeutet! Tatsächlich haben Nachbar:innen schon während unserer Montage nachgefragt, was das denn jetzt heißen soll, ob da ein Flüchtlingsheim herkommen soll? Sie waren besorgt, dass ihre angrenzenden Eigentumswohnungen an Wert verlieren könnten. Wir nehmen an, dass diese Nachbar:innen in der Nacht mitgeschrieben haben – es war nicht einfach der Wind, der das S verschwinden hat lassen.
Ist es dann quasi als gemeinschafltiche Kreation so geblieben?
Wir haben es so – also ohne das letzte S – stehen gelassen. Aber mittlerweile wurde das Haus geschliffen. Momentan ist da eine Baustelle.
Für alle, die jetzt neugierig geworden sind und die Stadt nach Ihren Anagrammen absuchen möchten – wo werden sie aktuell noch fündig?
Momentan sind von bisher elf im Wiener Stadtraum realisierten Leerstandsanagrammen noch sieben zu sehen. Das letzte wurde 2023 im 20. Bezirk in der Jägerstraße 54 montiert, das war die immerwütende, anhaltend rasende Rachegöttin, die Permafurie, die sich an der Fassade einer ehemaligen Parfumerie eingenistet hat. An dieser Fassade konnte man noch ganz leicht die längst übermalten Ghostletter der alten Aufschrift erkennen. Im Bezirksmuseum Brigittenau habe ich schließlich eine Aufnahme aus dem Jahr 1956 gefunden, auf der die Parfumerie im Hintergrund deutlich zu sehen ist. Durch einen glücklichen Zufall konnte ich dann die Buchstaben einer anderen ehemaligen Parfumerie im 10. Bezirk auf der Favoritenstraße vor der Verschrottung bewahren und, transformiert zur „Permafurie“, an der neuen Fassade im 20. Bezirk montieren. Das ist übrigens auch 2017 schon einmal vorgekommen, als ich nämlich die großen Leuchtbuchstaben einer Putzerei aus dem 16. Bezirk kurz vor Abriss des Gebäudes bekommen konnte, um sie dann ein paar Kilometer stadteinwärts, im 8. Bezirk, in der Lange Gasse 2, an der Fassade einer anderen, ehemaligen Putzerei wieder auferstehen zu lassen, und zwar als „PURE ZEIT". Auch die „PURE ZEIT" leuchtet immer noch! Und zum Schluss ein transdanubischer Bonustrack: Wer an der S-Bahn-Station Siemensstraße vorbeifährt, wird aus dem Zugfenster die „TRUE FACTS ARENA" erblicken, die vom „CAFE RESTAURANT" des abgerissenen Hotels Karolinenhof im nahen Jedlesee stammen.
Weblinks und weitere Infos:
Am 22. Juni 2024 wird Natalie Deewans Gleichzeituhr am Fuße der Schallaburg in Anzendorf (Niederösterreich) angebracht und im Rahmen der Open-Air-Ausstellung „Eine Frage der Perspektive“ feierlich eröffnet. Sie ist doppelseitig und zeigt durch einen zweiarmigen Stundenzeiger sowohl die Zeit vor Ort (mitteleuropäische Normalzeit) als auch die westasiatische Normalzeit (z.B. Pakistan) an.
Kurzvideos zu Natalie Deewans Leerstandsanagrammen sind auf ihrer Website oder ihrem vimeo-Channel zu sehen.
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Kommentare
Witzige Idee. Klar, wenn es kontroversieller wird, gibt es Widerstände. - Andererseits muss man auch nicht alles der Öffentlichkeit aufdrängen / zumuten.