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Werner Michael Schwarz, 20.3.2022

Galizien in Wien

Umstrittenes, umkämpftes Land

Teile der Westukraine und Südpolens gehörten einst zu Galizien. Die Beziehungen zwischen dem Habsburgischen Kronland und Wien waren stark von der jüdischen Migration und dem grassierenden Antisemitismus, aber auch von polnischen und ukrainischen Emanzipationsbestrebungen geprägt.

Zwischen Wien und Galizien fanden unablässig Bewegungen statt – Menschen, Güter, Sprachen, Nachrichten, Techniken, Ideen, Geschmäcker, Moden: Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dürften sich diese Bewegungen allerdings noch in Grenzen gehalten haben. Erst die Eisenbahn mobilisierte stark, verschob ökonomische Strukturen, griff massiv in die kleinräumlichen Wirtschaftsbeziehungen ein und zwang Menschen zur Abwanderung, verteilte Risiken und Chancen neu, verringerte generell Distanzen, erleichterte das Weggehen (Wien war seit 1861 von Lemberg nur noch eine Tagesreise entfernt). Ein anderer Faktor waren die Verfassungen seit 1860, die die rechtliche Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung endgültig aufhoben und auch die Niederlassungsfreiheit garantierten.

In dieser Phase war Wien für Zuwandernde besonders empfänglich. Die Stadt boomte, wurde zum bedeutenden Industriestandort. Die liberale Gesetzgebung räumte (dem Kapital) maximale Handlungsspielräume ein, um den Preis des maximalen Risikos für jene, die in der Hauptstadt ihr Glück suchten. In Relation zu seiner Einwohnerzahl und Größe (um 1910 lebten in Galizien über acht Millionen Menschen auf 78.497 km²) kamen dennoch wenige dauerhaft nach Wien. Selbst nach der „großen“ (jüdischen) Einwanderung ab den 1880er-Jahren waren Menschen aus Galizien keine in Zahlen herausragende Größe. Die letzte Volkszählung der Monarchie von 1910 erhob knapp mehr als 42.000 Personen mit Geburtsorten in Galizien, das waren zwei Prozent der Wiener Bevölkerung. Bei knapp 4.000 wurde Polnisch als Umgangssprache, bei über 1.000 Ruthenisch erfasst, wobei die Erhebungsmethoden gezielt auf eine Bevorzugung des Deutschen abzielten. Das für viele jüdische Zuwanderer und Zuwanderinnen aus Galizien gebräuchliche Jiddisch war als Sprache nicht anerkannt. Sie wurden unter „deutschsprachig“ subsumiert.

Dieses Moment der „Unauffälligkeit“ Galiziens zeigt sich auch an den Repräsentationen des Kronlands in Wien. Dazu zählen Denkmäler in der Stadt oder die Teilnahme Galiziens bei Ausstellungen und dynastischen Feierlichkeiten. Die Verbindungen zum Herrscherhaus reichen an einem Ort aber tiefer: 1775 hatte Maria Theresia das ehemalige Jesuitenkonvikt und die dazugehörende Barbarakapelle in der heutigen Postgasse der griechisch-katholischen Kirche als Priesterseminar gestiftet. Acht Jahre später wurde das Seminar, das sogenannte Barbareum, nach Lemberg verlegt. Die Barbarakirche blieb aber Mittelpunkt der kleinen Gemeinde, die anfangs auch von den in Wien lebenden Polinnen und Polen frequentiert wurde, die hier in ihrer Sprache kommunizieren konnten. Das geschah ganz in Umkehrung der im Königreich Polen herrschenden Verhältnisse, wo die griechisch-katholische Kirche von der Orthodoxie als abtrünnig und von der römisch-katholischen als nicht gleichwertig angesehen wurde. In jedem Fall spielte die dynastische Zuwendung auf längere Sicht eine wichtige Rolle für die ruthenische/ukrainische Emanzipations- und Nationalbewegung im 19. Jahrhundert, und noch am Ende der Monarchie waren Geistliche als Bildungselite unter den ruthenischen Abgeordneten vergleichsweise zahlreich vertreten. Auch leitete sich aus dieser Zeit die Vorstellung der besonderen Loyalität der Ruthenen zu Österreich und dem Kaiserhaus ab.

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Galizien im Parlament

In mindestens zweifacher Beziehung war das Parlament ein galizischer Ort in Wien. Hier war das Kronland durch seine Abgeordneten repräsentiert war und hier wurden mehr als 50 Jahre lang teils heftige Debatten über Galizien geführt, wodurch es zu einem wichtigen Ort für die Produktion und Distribution von Galizien-Images wurde.

Die große Bedeutung, die es in den Parlamentsdebatten spielte, korrespondierte mit dem Einfluss der Abgeordneten aus dem nordöstlichen Kronland. Der Polenklub, ein Zusammenschluss mehrerer polnischer Parteien, dem vereinzelt auch ruthenische Abgeordnete angehörten, war über die gesamte Periode eine der einflussreichsten Fraktionen im Abgeordnetenhaus und das Jahr 1897 gilt in der Regierungsgeschichte der Monarchie als das „polnischste“: Neben Kasimir Felix Graf Badeni als Ministerpräsident gehörten noch drei weitere Politiker aus Galizien der Regierung an (Eduard Rittner als Minister für Galizien, Leon Biliński als Finanzminister und Agenor Gołuchowski als Außenminister).

Deutliche Machtverschiebungen ergaben erst die Parlamentswahlen 1907, die nach dem Allgemeinen Männerwahlrecht durchgeführt wurden. Die traditionellen Eliten verloren stark an Einfluss, zu den Gewinnern zählten auch die ruthenischen Parteien, deren Abgeordnetenzahl sich auf 27 verdreifachte. Erstmals war im Parlament auch eine jüdisch-nationale Fraktion vertreten. Drei der vier Abgeordneten kamen aus Galizien. Jüdische Abgeordnete aus dem Kronland hatten bis dahin überwiegend dem Polenklub angehört, was sie teilweise vor schwierige Aufgaben stellte, insbesondere wenn es um den Antisemitismus in Galizien ging. Der Abgeordnete Emil Byk, ab 1902 Vorstand der Kultusgemeinde in Lemberg, bot für die Pogrome 1898 dennoch eine für die Austauschbeziehungen zwischen Wien und Galizien bedeutsame Erklärung, indem er diese als ein „Einfuhrprodukt aus Wien“ bezeichnete (gemeint waren die Christlichsozialen unter dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger). Der Polenklub hatte einen hohen Anteil von Aristokraten in seinen Reihen, wie insgesamt das polnische Wien stark mit Repräsentanten des Adels assoziiert wurde. Familien wie Czartoryski, Lubomirski und Lanckoroński waren in das gesellschaftliche Leben der Residenz fest integriert, besaßen Palais und traten als Mäzene in Erscheinung.

Juden aus Galizien in Wien

Der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk fokussierte in seinen Überlegungen zu „Galizien in Wien“ auf die Gegenüberstellung von den bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Wien eingewanderten Juden und Jüdinnen aus Böhmen, Mähren und Ungarn, die sich überwiegend assimiliert hatten, und den erst seit den 1880er-Jahren verstärkt zugewanderten aus Galizien. Diese hätten stärker an ihren religiösen Bindungen festgehalten, waren insofern „sichtbarer“ oder besser gesagt wurden „sichtbar“ gemacht, waren häufiger arm, trafen aber vor allem auf ein sich politisch grundlegend wandelndes Wien: Sie kamen zu einem Zeitpunkt, als sich der Antisemitismus, der sich mit aller Wucht und Feindseligkeit auf die neu Zugewanderten stürzte, zu einer politischen Ideologie und mit den aufstrebenden antiliberalen Parteien zu einer Massenbewegung radikalisiert hatte. Die Juden aus Galizien wurden zum Vorwand genommen, um generell die (Wiener) Juden und Jüdinnen als fremd, zunächst im sozialen und bald im biologischen Sinn, abzuwerten. Auch die assimilierten Wiener Juden reagierten zunächst oft ähnlich abweisend, um die scheinbare Ursache der antisemitischen Agitation aus der Welt zu schaffen.

Angesichts der Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die Antisemiten kehrte sich diese Abwehr allerdings oft in eine Bewunderung der Glaubensgenossen aus dem Osten um, die als authentisch und unverfälscht angesehen wurden. Martin Bubers chassidische „Geschichten des Rabbi Nachman“ (1906) wurden auch dadurch zu einem Welterfolg. Dazu zählen auch die Werke des Malers Isidor Kaufmann. Tatsächlich setzten die  Juden und Jüdinnen aus Galizien in Wien starke Akzente der Selbstorganisation und Selbstbehauptung: Es gab Bet- und Unterstützungsvereine, Landsmannschaften, und viele galizische Juden waren früh in der zionistischen und der nationaljüdischen Bewegung engagiert. Letztere forderten die Anerkennung der Juden als eigenständige Nation und des Jiddischen als Nationalsprache in der Habsburgmonarchie. Wichtige Orte waren die zahlreichen Bethäuser, wo der Gottesdienst im polnischen Ritus abgehalten wurde, und 1893 wurde die Synagoge in der Leopoldgasse im zweiten Bezirk, die sogenannte Polnische Schul, eröffnet.

In seinem Resümee über die Unterschiede zwischen den assimilierten Wiener Juden und jenen aus Galizien hebt Yoram Kaniuk ihren „Spürsinn für Probleme“ hervor, was dazu führte, dass sie den Antisemitismus weniger unterschätzt hätten. So finden sich unter ihnen exponierte Kämpfer gegen den Antisemitismus, wie der 1850 in Dukla geborene Floridsdorfer Rabbiner Joseph Samuel Bloch, der seit den frühen 1880er-Jahren als Publizist, Zeitungs- und Vereinsgründer einen „Guerillakrieg“, wie es Robert Wistrich nannte, gegen die österreichischen Antisemiten führte. Berühmt wurde seine Kontroverse mit dem katholischen Theologen und Anhänger der Ritualmordlegende August Rohling, den er als Fälscher entlarvte.

Die Universität

Orte in Wien, wo sich Angehörige der unterschiedlichen Gruppen aus Galizien mit Sicherheit begegneten, waren die Universität, die Akademien und Hochschulen. Statistiken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen regelmäßig einen beachtlichen Anteil von Studierenden aus Galizien. Zwischen 1860 und 1900 lag dieser an der Universität Wien zwischen fünf und zehn Prozent, wobei der Anteil jüdischer Studenten besonders hoch war und etwa um 1900 mehr als die Hälfte betrug. Auch bei den seit 1897 zum Studium zugelassenen Frauen waren Studentinnen aus Galizien mit zehn Prozent stark vertreten. In den scheinbar nüchternen Erfassungsbögen der Universität finden sich auch Spuren brisanter politischer Debatten. Studierende und Professoren an der Universität Lemberg hatten 1906 dazu aufgerufen, mit der Angabe von „Jüdisch“ als Muttersprache für die Anerkennung einer jüdischen Nation zu demonstrieren. Neun Frauen folgten diesem Aufruf.

1868 wurde der ruthenische/ukrainische Studentenverein „Sitsch“ gegründet, dem (später) wichtige Gelehrte und Intellektuelle angehörten: so der Physiker und Elektrotechniker Johann Puluj, oder der Biochemiker Iwan Horbatschewskyj, der 1917 zum ersten Gesundheitsminister Österreichs ernannt wurde. Auch das heute zur Polnischen Akademie der Wissenschaften gehörende Dom Polski in der Boerhaavegasse im dritten Wiener Bezirk wurde 1908 als Bildungsinstitution gegründet.

Einen starken Bezug zu Galizien hatte auch die jüdische Studentenverbindung „Kadima“ (1882), die zunächst nationaljüdisch und bald zionistisch ausgerichtet war und den Boden für Theodor Herzl vorbereitete. Rückwirkungen dieser Bildungsmobilität auf Galizien finden sich insbesondere an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Dort bildeten die „Wiener“, wie sie zeitgenössisch genannt wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den „Kern des Professorenkreises“. Und der „Doktor aus Wien“ genoss insbesondere unter Juden und Jüdinnen in Galizien ein besonders hohes Ansehen, wie insgesamt die Wiener Ärzte und Spitäler stark zur Anziehungskraft der Stadt beitrugen.

Im studentisch intellektuellen Milieu betätigten sich viele auch als Vermittler zwischen Wien und Galizien und warfen so Fragen nach einer galizischen Identität auf. Das betrifft Literaten, Journalisten und Übersetzer, die zwischen den Sprachen wechselten und deutlich machten, dass eine traditionelle nationale Zuordnung oft eine grobe Vereinfachung darstellte. Sie spielten bei der Vermittlung künstlerisch-literarischer Strömungen wie aktueller politischer Themen eine wichtige Rolle. Tadeusz Rittner zählte zu ihnen, der von sich selbst behauptete, zwischen „Deutsch und Polnisch“ zu stehen, und maßgeblich dazu beitrug, die Autoren der Wiener Moderne einem polnischen Publikum näherzubringen. Der Schriftsteller und sozialdemokratische Politiker Iwan Franko, zuletzt wegen seiner antisemitischen Aussagen intensiv diskutiert, verfasste zu aktuellen politischen Themen in Galizien regelmäßig Artikel in Wiener Zeitungen, insbesondere in der von Hermann Bahr herausgegebenen Wochenschrift „Die Zeit“. Der Schriftsteller Ostap Hrycaj publizierte auf Deutsch und Ukrainisch und war ein wichtiger Übersetzer ukrainischer Dichtung ins Deutsche.
 

Galizien nach Galizien

„Galizien in Wien“ endete nur offiziell 1918. Insbesondere Polen und Polinnen, die ganz oder temporär in Wien gelebt hatten, als Beamte oder Militärs, verließen 1918 die Stadt. Allerdings wurde auch innerhalb einzelner Familien von verschiedenen Optionen Gebrauch gemacht. Der Kunstsammler und Denkmalschützer Graf Karl Lanckoroński blieb, während sich seine Tochter Karolina für Polen entschied, wo sie zu einer bedeutenden Kunsthistorikerin und berühmten Patriotin wurde. Für viele Ruthenen/Ukrainer mit galizischen Wurzeln erhielt Wien nach 1918 eine neue Bedeutung. Die Stadt wurde zum Exilort, nachdem die Kämpfe für einen eigenständigen ukrainischen Staat verloren gegangen waren.

Viele der jüdischen Kriegsflüchtlinge (die Angaben schwanken zwischen 75.000 und 120.000) verließen Wien, nicht zuletzt aufgrund des Antisemitismus und der politischen und behördlichen Schikanen beim Erwerb der Staatsbürgerschaft. Von den 2.434 Personen in Wien, die 1923 „Jiddisch“ als ihre Umgangssprache angaben, besaßen nur 614 die österreichische Staatsbürgerschaft. Das erwies sich bereits 1939 für viele als tödliche Falle. Wenige Tage nach dem Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden mehr als 1.000 jüdische Männer im Wiener Praterstadion inhaftiert. Sie galten als staatenlos, obwohl sie bereits vor 1918 aus Galizien nach Wien emigriert waren. Die Männer wurden nach Buchenwald deportiert, wo nur 26 die Befreiung erlebten.

Wien war in den 1920er Jahren für kurze Zeit ein pulsierendes Zentrum für jüdische/jiddische Kultur. Das betraf das Theater, wo vor allem Zugewanderte und Flüchtlinge aus Lemberg federführend waren, gilt aber auch für die Literatur, wo sich in nur wenigen Jahren eine kleine, hochaktive Szene formierte, die sich als Jung-Galizien bereits vor dem Ersten Weltkrieg gebildet hatte und von der auch faszinierende Wien-Erzählungen stammen, wie Mosche Abraham Fuchs (Fuks) expressionistischer Roman „unter der brik/Unter der Brücke“ (1924). Während des Krieges waren mehrere chassidische Rabbiner mit ihren Höfen nach Wien übersiedelt, unter ihnen der Czortkower Rebbe Israel Friedman, der in der Heinestraße residierte.

Viele Beziehungen wurden nach 1918 aufrechterhalten – private, geschäftliche, politische. Auch tradierte sich die Bedeutung der Wiener Universität und der Hochschulen für Studierende aus der Region. So kam die Mehrheit der Dissertanten und Dissertantinnen des Seminars für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien nach wie vor aus dem ehemaligen Galizien. Das eigentliche Ende kam 1938. Es begann mit der Zerstörung der Synagogen und Bethäuser und der zwangsweisen Auflösung der Vereine und Organisationen und endete mit der Emigration und Ermordung von tausenden Menschen, die aus Galizien nach Wien gekommen waren.

 

Der Text ist eine stark gekürzte Version des Katalogbeitrags „Galizien in Wien“, erschienen in: Jacek Purchla, Wolfgang Kos, Źanna Komar, Monika Rydiger, Werner Michael Schwarz (Hg.): Mythos Galizien, Wien 2015. Die Ausstellung war 2014/2015 im International Cultural Centre Kraków und im Wien Museum zu sehen.

Werner Michael Schwarz, Historiker, Kurator am Wien Museum. Publikationen, Ausstellungen und Lehre mit Schwerpunkt Stadt-, Medien- und Filmgeschichte. 

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