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Christine Dobretsberger, 2.6.2023

Geschichte des Langstreckenlaufs in Wien

Als Wien laufen lernte

Heute sind die zumeist farbenfroh gekleideten Jogger und Joggerinnen aus dem Wiener Stadtbild nicht wegzudenken. Doch das war nicht immer so. Sich freiwillig und aus rein sportlichen Motiven im Laufschritt durch die Stadt zu bewegen, galt in früheren Zeiten als Kuriosität.

Wir schreiben den 25. Juli 1897 um acht Uhr morgens in Neu-Kagran, im heutigen 22. Wiener Gemeindebezirk. Wohl kaum einer der anwesenden Zuschauer ahnte in diesem Moment, Augenzeuge eines historischen Sportmoments zu sein. Denn das Teilnehmerfeld dieser ersten modernen Laufveranstaltung in Wien war durchaus überschaubar: Acht Männer stellten sich der Herausforderung, eine Distanz von 25,6 Kilometer in Angriff zu nehmen. Start- und Wendepunkt der Route, die über Aspern und Essling nach Groß-Enzersdorf, Oberhausen und wieder retour führte, war jeweils eine Gastwirtschaft. Diesbezüglich orientierten sich die Organisatoren an den historischen „Schau- und Berufsläufen“, bei denen Wirtshäuser als markante Streckenpunkte dienten. Auf diese Weise wurde den Zuschauern auf gesellige Art die Wartezeit verkürzt und zugleich die Umsätze der Gaststätten angekurbelt. Bis ins Ziel – bei „Friedmann’s Gasthaus“ – schafften es letztendlich fünf Teilnehmer, von denen Mauricio Diego Albala mit einer Zeit knapp unter zwei Stunden der schnellste war.

Wenngleich diese Veranstaltung den Beginn der modernen „Zeitrechnung“ in der Geschichte des Langstreckenlaufs markiert, sind Österreichs Laufwurzeln im Brauchtum zu finden und reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Damals wurde die Grundfertigkeit des Laufens unter dem Aspekt der Vorbereitung auf militärische Auseinandersetzungen geschult. Gegen Ende des Mittelalters wurde Laufen vereinzelt bereits wettkampfmäßig praktiziert. Diese Laufbewerbe erfreuten sich vor allem in den unteren Gesellschaftsschichten großer Beliebtheit und waren das Gegenstück zum prestigeträchtigen Wettreiten der bürgerlichen Schicht. Um ein Beispiel zu nennen: Zwischen 1382 und 1534 wurde zweimal jährlich das sogenannte „Barchentrennen“ ausgetragen. An dieser Veranstaltung durften ausschließlich Läuferinnen teilnehmen. Als Rennstrecke diente der heutige Rennweg „zwischen den Weingärten in Richtung stadtauswärts“. Für die Gewinnerin gab es als Siegespreis eine Bettdecke, einen sogenannten „Barchent“.

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das ehemalige Berufsbild des „Laufers“. Hierbei handelte es sich vorwiegend um junge Männer, die Bedienstete des Kaiserhauses oder von Adeligen waren. Mit langen Stäben in der Hand und in den Wappenfarben ihrer vornehmen Herrschaften gekleidet, liefen sie vor deren Kutschen einher, um die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken bzw. den Kutschen den Weg freizumachen. In der Nacht trugen sie Fackeln oder Windlichter, um den Kutschern den Weg zu weisen. Zur Ausübung ihres Berufs bedurften sie eines Lehrbriefs und zum Abschluss ihrer Ausbildung mussten sie einen „Freilauf“ über 18 Kilometer in einem bestimmten Zeitlimit absolvieren. Bereits unter Leopold I. finden sich Laufer in kaiserlichen Diensten, auch unter Maria Theresia beschäftigte der Hof noch 14 Laufer, nicht zuletzt zum schnelleren Austausch von Informationen.

Ab 1822 fanden im Prater dann alljährlich am 1. Mai sogenannte „Lauferfeste“ statt, im Zuge derer – unter regem Publikumsinteresse – die schnellsten Herrschafts- und Botenläufer der Stadt ermittelt wurden. Das Spektakel hatte Volksfestcharakter, kam mit den Jahren aber immer mehr in die Kritik. Ferdinand I. schaffte 1847 den Beruf der Laufer dann als „inhuman und unzeitgemäß“ ab. Das letzte Lauferfest fand somit am 1. Mai 1847 statt

Doch zurück zum eingangs erwähnten ersten rein sportlich motivierten Langstreckenlauf in Wien bzw. zu dessen Sieger: Mauricio Diego Albala wurde am 15. Juni 1877 in Temeswar (Rumänien) geboren und gehörte zur relativ kleinen Gruppe der sephardischen Juden in Wien. Er war nicht nur einer der besten Läufer seiner Zeit, sondern ein sportliches Allroundtalent, im Rad- und Skisport aktiv sowie u.a. Mannschaftsmitglied beim Fußballverein „AC Victoria“. Albala war auch der erste Österreicher, der an einem Marathon teilnahm. Die Veranstaltung fand am 25. September 1897 in Budapest statt. Damals wurden Marathons üblicherweise nicht über die klassische Distanz von 42,195 Kilometer ausgetragen, sondern über 40 Kilometer. Albala sicherte sich damals mit einer Zeit von 4 Stunden und 6 Minuten den dritten Platz.

Doch nicht nur als aktiver Sportler schrieb Albala Sportgeschichte, er organisierte „athletische Sportfeste“, zählte zu den Gründern der Leichtathletiksektion im Wiener Athletiksport Club (WAC) und gehörte dem „Comité zur Veranstaltung von Fußballwettspielen“ an. Diese 1898 gegründete Vereinigung bildete den ersten verbandsähnlichen Zusammenschluss im österreichischen Fußballsport und war damit Vorläufer des Österreichischen Fußballbundes. Albala war auch Mitglied des prominent besetzten „Marathonkomitees“, das ab 1924 jährlich einen Marathon in Österreich veranstaltete.

Wann genau der erste Marathon auf österreichischem Boden stattgefunden hat, darüber herrscht in der Fachliteratur Uneinigkeit. Die meisten Hinweise sprechen für den 14. Juli 1901, als vom „Neubauer Sport-Club“ ein Marathon über 40 Kilometer veranstaltet wurde. Im Vorfeld meldeten sich 16 Läufer zur Teilnahme an, zum Start erschienen allerdings nur fünf Läufer, einer von ihnen war Albala, der als Favorit ins Rennen ging. Allerdings stand dieser Lauf für ihn unter keinem guten Stern – in Vösendorf ereilte ihn eine Ohnmachtsattacke, woraufhin er eine halbe Stunde pausieren musste und letztlich als Drittplatzierter das Ziel erreichte. Der Sieg ging damals in 3:59:04 an Fritz Lust. Im Folgejahr war diese Veranstaltung schon deutlich besser organisiert und die Läufer wurden auf der Strecke Wiener Neustadt – Wien von „radfahrenden Schrittmachern“ unterstützt. Dies wirkte sich offensichtlich positiv auf die rund 50 Minuten schnellere Siegerzeit eines aus Prag stammenden Läufers aus.  

Beruflich war Albala als Sportjournalist tätig und zählte zu den frühen und prägenden Vertretern der Branche. Im April 1920 wurde er bei der Gründungsversammlung des Österreichischen Sportjournalistenverbandes zu dessen erstem Präsidenten gewählt. Er schrieb u.a. für die „Wiener Allgemeine Zeitung“ (1927 bis 1930 als Chefredakteur) und 25 Jahre lang für die „Wiener Sonn- und Montagszeitung“, wo er Leiter der Sportrubrik war. Am 1. Juni 1935 starb Mauricio Diego Albala an den Folgen eines Schlaganfalls. Sein Wirken als Pionier des österreichischen Sports ist nahezu in Vergessenheit geraten.

 

Blickt man auf die Entwicklungsgeschichte des Laufsports in Österreich, so waren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erfreuliche Tendenzen zu verzeichnen – sowohl was die Leistungssteigerung der Athleten, die Anzahl der Wettkämpfe sowie das immer größer werdende Publikumsinteresse anlangt. Eine Reihe von neuen Laufbewerben wie der „Auhoflauf“ oder der Geländelauf „Hütteldorf – Hohe Warte“ belegen, dass der Laufsport an Breitenwirksamkeit dazugewann. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam diese Entwicklung naturgemäß ins Stocken, danach setzte diese positive Entwicklung aber umgehend wieder ein und als Novum ist auch zu verzeichnen, dass sich immer mehr Läuferinnen für diese Sportart zu interessieren begannen.

Bester Beweis für den Aufwärtstrend des Laufsports war die erste Austragung des sogenannten „Quer-durch-Wien-Laufs“ am 28. September 1919. Die Idee, in Wien einen Stafettenlauf ins Leben zu rufen, kam aus Deutschland, wo bereits 1908 der Staffellauf Potsdam – Berlin über die Bühne gegangen war. Von medialer Seite wurde bereits im Vorfeld stark die Werbetrommel für diese Veranstaltung gerührt. Der „Quer-durch-Wien-Lauf“ sollte nach der langen Kriegsunterbrechung die ersehnte „Propagandaveranstaltung“ für den Laufsport darstellen. Und dieser Plan ging auf. 85 Mannschaften und insgesamt 1.275 Läufer hatten sich an diesem Tag entlang der sieben Kilometer langen Strecke eingefunden. Der Startschuss erfolgte beim Wiener Westbahnhof und die Laufstrecke führte über die Mariahilfer Straße in 15 Teiletappen bis in die Prater Hauptallee zum WAC. Rund eine Viertelmillion Zuschauer verfolgten den Staffellauf auf den Straßen Wiens und tags darauf war im „Wiener Sporttagblatt“ zu lesen „Was wir Sportleute gestern in Wien erlebt haben, war ja die Erfüllung eines Traumes, von dem wir bisher lange fürchten mussten, dass er immer ein Trugbild bleibe. [...] Ganz Wien war auf den Beinen und eine Sportveranstaltung von nie dagewesener Dimension ist in Wien klaglos unter imposanter Teilnahme der Bevölkerung vor sich gegangen“.

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Angesichts des großen Erfolges fand der „Quer-durch-Wien-Lauf“ auch in den Folgejahren statt und bereits ab 1920 mit reger weiblicher Beteiligung. Dieses publikumswirksame Format entwickelte sich zum alljährlichen Saisonhöhepunkt des Wiener Laufsports und wurde auch während des Zweiten Weltkrieges ausgetragen. Teilnahmeberechtigt waren damals allerdings nur noch Vereine, die dem „Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen“ angehörten. Eine Vielzahl an erfolgreichen Vereinen und Staffeln waren somit vom „Quer-durch-Wien-Lauf“ ausgeschlossen. Prominentes Beispiel ist der jüdische Verein Hakoah, der in der Vergangenheit zahlreiche Siege und Podestplätze verzeichnete. In den Nachkriegsjahren konnte der „Quer-durch-Wien-Lauf“ dann allerdings nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen und wurde schließlich am 23. Oktober 1966 zum letzten Mal ausgetragen.

Dies tat der steigenden Laufbegeisterung in Wien allerdings keinen Abbruch, zumal sich mittlerweile eine neue Laufveranstaltung durchgesetzt hatte, die alle bisherigen Rekorde in den Schatten stellte: Der sogenannte „Zweibrückenlauf“, der bereits bei seiner ersten Austragung am 11. April 1964 mehr als 7.500 Teilnehmer:innen verzeichnete. Diese Veranstaltung, die in den Folgejahren viermal durchgeführt wurde, gilt als Initialzündung für die allgemeine Volkssport- und Fitnesswelle in Österreich, die ein Jahrzehnt später dann mit den Nationalen Fitläufen und Fitmärschen endgültige Etablierung finden sollte. Die Route des Zweibrückenlaufs führte über eine rund zwei Kilometer lange und 400 Meter breite Strecke zwischen Floridsdorfer Brücke und Reichsbrücke. Viele Läuferinnen und Läufer besichtigten die Laufstrecke bereits einige Tage vor dem Rennen und liefen diese probeweise ab. In einer Zeit, in der Jogger und Joggerinnen noch nicht zum Stadtbild Wiens gehörten, stellten diese Probeläufe eine Kuriosität dar. Die hohe Anzahl der Anmeldungen führte auch zu Vergleichen mit großen Volksläufen wie jenen in Brüssel oder Sao Paulo.

Kurzum: Der Zweibrückenlauf ging als erster Volkslauf in die Wiener Laufgeschichte ein und senkte speziell für Hobbyläufer die Hemmschwelle, an derlei Wettbewerben teilzunehmen. 

Heutzutage sind Laufveranstaltungen – allen voran der Vienna City Marathon, der heuer zum 40. Mal über die Bühne gegangen ist – Megaevents mit bis zu über 30.000 Teilnehmer:innen. Umso mehr sei an dieser Stelle jenen Pionieren gedankt, die vor 127 Jahren bei „Friedmann’s Gasthaus“ bei Kilometerstein 1 die Faszination für diesen Sport ins Laufen brachten.

Literatur

Norbert Adam, Leichtathletik. Die Königin des Sports. 100 Jahre Österreichischer Leichtathletik-Verband, Wien 2002

Erich Kamper, Karl Graf, Österreichs Leichtathletik in Namen und Zahlen, Graz 1986.

Stephan Oettermann, Läufer und Vorläufer. Zu einer Kulturgeschichte des Laufsports, Frankfurt/Main 1984.

Johannes Schwaiger, Laufsportveranstaltungen in Österreich. Vom Lauf „Quer durch Wien“ über den Zweibrücken und Höhenstraßenlauf bis zu den nationalen „Fitläufen und Fitmärschen“, Wien 2018.

Hannes Strohmeyer, Die Wiener „Laufer“ und ihr Fest am 1. Mai (1822-1847), in: M. Lämmer (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Sports in Österreich (Bd. 12-13), Wien 1986.

Christine Dobretsberger, geboren 1968 in Wien. Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften und Philosophie an der Universität Wien. Langjährige Kulturredakteurin der „Wiener Zeitung“. Initiatorin der Gesprächsreihe „Wiener Salongespräche“ und „Seelenverwandte“. Seit 2005 freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Ghostwriterin und Herausgeberin von Texten. Sie ist Gründerin der Text- und Grafikagentur „linea.art“ (www.lineaart.at) und befasst sich schwerpunktmäßig mit kulturellen Themen.

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