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Michaela Lindinger, 16.2.2020

Geschichte des Lippenstifts

Alles auf Rot!

Aufregend und provokant. Verwandlungskünstler und Ausdruck von Mut und Selbstbestimmung. In lustfeindlichen Epochen wurde die künstliche Lippenfarbe aufgrund ihrer sinnlichen Komponente verteufelt. Und bei den US-Streitkräften im zweiten Weltkrieg hatte roter Lippenstift sogar eine patriotische Funktion.

„Dieses scheußliche Weib! Ihre lila Lippen!“, echauffierte sich der Komponist Gustav Mahler um 1900, als Pauline Metternich, Vorbild vieler modischer Frauen in Wien, einen neuen Pariser Trend ausführte. Es war wichtig, dass alles zusammenpasste. Die Fürstin Metternich, als Ehefrau des österreichischen Botschafters in Frankreich stets bestens informiert über le dernier cri der Modemetropole, fuhr in einer violetten Kutsche vor und kleidete ihre Dienerschaft in violette Livréen. Violett war als Farbton an sich noch ziemlich neu. Es handelte sich um die erste künstliche Farbe der Welt, die erst in den 1850er-Jahren in England als „Anilin-Purpur“ erfunden worden war. Kaiserin Eugénie von Frankreich, eine gute Freundin der Fürstin Metternich, gehörte zu den ersten, die violette Kleidung salonfähig machten. Auf französisch hieß die Farbe Mauve. Sie lasse ihre Augen strahlen, verkündete Eugénie. Da konnte es nicht mehr lange dauern, bis Lila auch auf den Lippen in Mode kam.

„Lausige“ Farben

Dass Frauen (und immer wieder mal auch Männer) Farbe auf den Lippen trugen, war Ende des 19. Jahrhunderts freilich nichts Neues. Im alten Ägypten und in der römischen Antike wurden rote Lippenpomaden aus Läusen hergestellt. Man bewahrte sie in kleinen Fläschchen oder Tiegeln auf. Die Gewinnung des purpurnen Farbstoffs, der etwa auch für die roten Streifen der Senatorengewänder in Rom verwendet wurde, war ausgesprochen mühsam. Für 50 Gramm Farbstoff benötigte man 150.000 Läuse…

Mitte des 16. Jahrhunderts, nach der Eroberung der mittelamerikanischen Reiche durch die Spanier, kam die Cochenillelaus nach Europa. Diese Tierchen verfügten über einen höheren Farbstoffgehalt als die europäischen Läuse und die Herstellung der Farbe wurde billiger. Auf den Inseln Fuerteventura und Lanzarote entstanden gigantische Lausfarmen, die zu einem großen Teil mit Sklavenarbeit betrieben wurden. Regentinnen wie Elisabeth I. von England galten als Stilvorbilder und propagierten einen Look, der ein weiß geschminktes Gesicht mit rot betonten Lippen und Wangen vorsah. Sittenwächter traten auf den Plan.

„Es solle jede Frau mit dem Tod bestraft werden, die sich schminkt, um schön zu wirken“, tönte der italienische Dominikaner Tommaso Campanella Anfang des 17. Jahrhunderts.

Seine Forderungen blieben nicht ungehört. Das englische Parlament verabschiedete später eine Resolution, wonach Ehemänner ihre Ehen annullieren konnten, sollten sie einer rotlippigen Frau erlegen sein. Geschminkte Frauen machten sich, so das Gesetz, des Betrugs schuldig.

Im 18. Jahrhundert schminkten sich zeitweilig beide Geschlechter und das nicht zu knapp. Rote Lippen und vor allem Rouge in himbeerrosa punkteten in der Rokoko-Epoche bei Frauen und Männern aller Altersklassen. Ganz besonders die Älteren griffen kräftig in den Farbtopf. Noch um 1870 exportierten die Kanarischen Inseln unglaubliche 3000 Tonnen Farbstoff aus den Cochenille-Farmen. Bis heute findet sich der als E 120 bezeichnete Lebensmittelfarbstoff vereinzelt noch in Lippenstiften.

Sex, Emanzipation und Individualität

Stifte für die Lippen konnten ab Ende des 19. Jahrhunderts benutzt werden. Im Jahr 1883 wurde der erste Lippenstift auf der Weltausstellung in Amsterdam präsentiert. Damals war es zwei Parfumeuren in Paris gelungen, rote Pomade mit Hirschtalg zu festigen. Das Kosmetikprodukt sah aus wie ein kleiner Wachsmalstift, war in Seidenpapier eingeschlagen, extrem teuer und daher – global gesehen – ein Flop. Die phallusförmige Form, anfangs „saucisse“ (= Würstchen) genannt, erregte außerdem die Gemüter. Berühmte Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt und die großen Kurtisanen des zweiten französischen Kaiserreichs trugen den „stylo d’amour“, wie er bald „skandalöserweise“ bezeichnet wurde, allerdings sofort. Sie konnten sich ein solches Luxusprodukt problemlos leisten. Es dauerte zwar ein wenig, doch bald wurde der Lippenstift zum ersehnten Frauenaccessoire. In den 1920er-Jahren kam die Schiebehülsen-Varianten auf und schließlich wurde in den USA die heute übliche Form zum Herausdrehen vorgestellt. Studien beweisen, dass jemand, der rote Lippen trägt, 7,3 Sekunden lang die Aufmerksamkeit seines Gegenübers erhält. TrägerInnen nudefarbener Lippenstifte schaffen es nur auf 2,2 Sekunden.

Dass Rot Eindruck macht hatten schon die Frauenrechtlerinnen der ersten Frauenbewegung erkannt. Unter anderen erklärte die aufgrund ihres Werkes „Die gelbe Tapete“ und ihres Lebenslaufes im Allgemeinen hochinteressante US-Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman den roten Lippenstift zu einem Symbol der Frauenemanzipation. Im Jahr 1912 demonstrierten die Suffragetten in New York mit knallrot geschminkten Lippen für das Frauenwahlrecht. Das auffällige Schminkutensil galt da noch immer als ein wenig „halbseiden“ – es waren weiterhin hauptsächlich Frauen aus der Welt des Theaters oder der Sexarbeit, die rote Lippen ganz ungeniert zur Schau trugen. Eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein war bei den Frauenrechtlerinnen immer dabei. Die Beautypionierin Elizabeth Arden unterstützte ihre Anliegen, indem sie höchstpersönlich ihre Produkte an die Demonstrantinnen verteilte - eine Marketingstrategie mit nachhaltigen Folgen. Emmeline Pankhurst, britische Parade-Suffragette, brachte den Trend nach Europa. Sie und ihre Anhängerinnen schafften es schließlich, dass Lippenstift nicht nur mit Showgirls und Verführung, sondern auch mit Stärke und Selbstbestimmtheit assoziiert wird. Die in vielen Bereichen fortschrittliche Dekade der 1920er-Jahre mit ihren Schlagworten „Girl Culture“ oder „Bubikopf“ tat ein Übriges. Stummfilmstars machten „Bienenstich“-Münder en vogue. Man konnte dafür Schablonen erwerben und den gewünschten Schwung punktgenau aufmalen. Fast schwarzes dunkelrot avancierte zur Farbe der progressiven Frauen.

Elizabeth Arden wurde auch im zweiten Weltkrieg wieder aktiv. Sie kreierte zwei „Kriegs-Farben“ um Frauen, die beim Militär Dienst taten, zu unterstützen, aber auch um ganz grundsätzlich die Moral der Amerikanerinnen zu heben. „Victory Red“ und „Patriot Red“ hießen die Farben, die sorgfältig geschminkte Frauen als sichtbare Vertreterinnen des Durchhaltewillens zur Schau trugen. Amerikaner waren es auch, die bei der Befreiung der NS-Konzentrationslager gerettete Insassinnen nicht nur mit Lebensmitteln, sondern auch mit Lippenstiften versorgten. Die Frauen sollten so rasch wie möglich wieder Individuen sein können, nicht mehr die eintätowierten Nummern auf ihren Armen. Im KZ Ravensbrück, wo hauptsächlich Frauen interniert waren, wurden vergrabene Lippenstifte gefunden. Gefangene Frauen schminkten sich damit, um gesünder zu erscheinen. Sie „durften“ weiter arbeiten und konnten so manchmal ihr Leben retten. Wer krank aussah, wurde in die Vernichtungslager abtransportiert.

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Accessoire für alle

Im Pariser Künstlermilieu erstrahlten die Lippen der Avantgardistinnen schon um 1900 in der Farbe des damaligen Kultgetränks Absinth: Giftgrün. Die Farbe war allerdings aus Grünspanpulver hergestellt worden und tatsächlich lebensgefährlich. Einige Frauen sollen daran gestorben sein, jedenfalls wurde der exzentrische Farbton wieder aus dem Verkehr gezogen.

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Würde Pauline Metternich das heutige Lippenstiftangebot sehen können wäre sie nicht zu stoppen. Es gibt Lippenstifte nicht nur im von ihr propagierten Lila, sondern auch in (ungefährlichem) Grün, Blau, Türkis, Silber und in vielen anderen, von Rot abweichenden Farben. Die in den letzten Jahren zu neuem Glanz gelangte italienische Modefirma Gucci präsentiert ihre nostalgisch verpackten Lippenstifte, die Namen wie Fay Turquoise, Three Wise Girls oder The Painted Veil tragen, auch an Männermodels.

Michaela Lindinger, Kuratorin, Autorin. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Ägyptologie und Ur- und Frühgeschichte an der Universität Wien. Seit 1995 kuratorische Assistentin, seit 2004 Kuratorin im Wien Museum. Ausstellungen und Publikationen zu biografischen und gesellschaftlichen Themen, Frauen- und Gender-Geschichte, Porträts, Wien-Geschichte, Tod und Memoria, Mode.
 

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Redaktion

Liebe Liz Tanzer, vielen Dank für den wertvollen Hinweis! Bei 350.000 Plakaten in der Sammlung der Wienbibliothek können schon mal Fehler passieren - umso wichtiger ist der Input von Leser_innen wie Ihnen! Ist bereits korrigiert!

Liz Tanzer

Der Entwurf für das Plakat Le Rouge Baiser aus dem Jahr 1949 war das erste Sujet einer Serie von Illustrationen für diesen Lippenstift von René Gruau, einem sehr berühmten Modeillustrator in Frankreich. "Gman" ist ein unfassbarer kuratorischer Lapsus...

Liebe Grüße