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Michaela Lindinger, 14.10.2019

Haarkult

Geschichten einer Obsession

Kaiserin Elisabeth wurde mit ihren langen Haaren zum Role Model, die Sutherland Sisters tourten als „Real Life Rapunzels“ durch die Welt. Und auch im Gedenken an Verstorbene spielten Haare seit dem 18. Jahrhundert eine besondere Rolle, wie Kultobjekte aus der Museumssammlung beweisen.

„An meinen Haaren möchte´ ich sterben / Des Lebens ganze, volle Kraft / Des Blutes reinsten, besten Saft / Den Flechten möchte´ ich dies vererben. O ginge doch mein Dasein über, / in lockig seidnes Wellengold, / das immer reicher, tiefer rollt / Bis ich entkräftet schlaf hinüber!“ 

So dichtete Kaiserin Elisabeth, das bis heute bekannteste „Haar-Model“ des 19. Jahrhunderts, über ihre knöchellangen Haare. Stiche und Fotos nach dem Gemälde des Salonmalers Franz Xaver Winterhalter, das die österreichische Monarchin im weißen Galakleid und mit Diamantsternen im Haar zeigt, gingen um die Welt und erhoben die „Steckbrief-Frisur“, wie Elisabeth selbst ihre aufwändigen Flechtfrisuren nannte, zum Stilvorbild. Auch Frauen, die nicht mit einer Haarpracht kaiserlichen Ausmaßes gesegnet waren, wollten diese Frisuren tragen und mussten auf Haarteile zurückgreifen. Das Geschäft mit den falschen Flechten boomte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Auf den Einfahrtsstraßen in die Großstädte standen Bauernmädchen und verkauften ihre Zöpfe, um Schauspielerinnen und Society-Ladies die „Elisabeth-Frisur“ zu ermöglichen. Die ersten Imitatorinnen ihres Idols waren Elisabeths Schwestern, die ebenso mit überdurchschnittlichem Haarwuchs ausgestattet waren. Heute sind einige Friseure der Ansicht, dass eine solche Haarlänge nicht der Norm entspricht, also von den meisten Menschen trotz hingebungsvollen „Langhaarzüchtens“ nicht erreicht werden kann. Das natürliche Haarwachstum ist individuell verschieden und vermag im Allgemeinen die Knöchellänge nicht zu erreichen. Es könnte sich bei Elisabeth und ihren Schwestern um eine gemeinsame, ihnen vererbte genetische Mutation gehandelt haben.

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Sexsymbol Haare

Diese These untermauert der beispiellose Erfolg der sieben Sutherland Sisters aus den USA, die als „Real Life Rapunzels“ ihre Haare auf Jahrmärkten, in Theatern und Parfümerien zur Schau stellten. Die langen Haare galten als Inbegriff weiblicher Erotik. Männer bezahlten einiges Geld, um die Haare einer „Sister“ berühren zu dürfen. Der geschäftstüchtige Vater der Damen, ein ehemaliger Reverend, erfand ein als Wundermittel beworbenes Haarwuchstonikum, das die Töchter dann mit Werbesprüchen wie „A woman’s hair is her crowning glory“ anpriesen. Die Geschäfte gingen glänzend. Der fetisch-artige Charakter, der (Frauen-) Haaren in den viktorianischen Jahrzehnten anhaftete, zeigt sich auch in den sieben Puppen, die die Schwestern nach ihrem Vorbild herstellten. Diese Puppenhaare wurden von Dienstmädchen aus den ausgekämmten Haaren der Sutherland-Sisters gebunden und die Puppen selbst fungierten als Stellvertreterinnen der langhaarigen Sex-Symbole. Konnte keine Schwester Zeit für einen Promotion-Auftritt erübrigen, so wurden die Puppen in die Auslagen der Drug-Stores gestellt. Natürlich mit dem Hinweis, dass es sich bei den Puppenhaaren um „Real Sutherland Hair“ handelte.

Die Haare und der Tod

Wie aus dem eingangs zitierten Gedicht der Kaiserin Elisabeth ersichtlich hängen die Haare der Menschen eng mit deren Sterben zusammen. In den Haaren befinden sich nach alten Vorstellungen der Sitz des Lebens und die Körperkraft und schon die frühen Menschen beobachteten, dass die Haare (und die Fingernägel) als Einziges am menschlichen Körper sich auch im Erwachsenenleben sichtbar regenerieren und nach dem Eintritt des physischen Todes nicht vergehen. Oft ändern sie nicht einmal ihre Farbe.

Und so wie wir heute die Locke eines Neugeborenen in ein Erinnerungsalbum einkleben, schnitt man vor allem im Lauf des 19. Jahrhunderts verstorbenen Familienmitgliedern die Haare ab, um daraus Gedenkschmuck herzustellen. Die Stücke wurden in der Trauerzeit getragen, also ein Jahr lang nach dem Tod des Familienmitglieds. Der viktorianische Trauerkult brachte diese Gebilde so sehr in Mode, dass viele ihre Haararmbänder oder Haarbroschen jahrelang trugen, manchmal das ganze Leben. Haare stehen als pars pro toto für den gesamten Menschen. Trägt man ein Armband aus den Haaren des Toten, so begleitet dieser den Lebenden – im guten Sinn – weiterhin und wacht wie ein Schutzengel über dessen Wohlergehen.

Haare verstorbener Menschen künstlerisch zu verarbeiten hat in Europa und in den USA eine lange Tradition. Das Victoria & Albert Museum in London besitzt die europaweit größte und beeindruckendste Sammlung solcher Haararbeiten. Wer mit derartigen Objekten nicht vertraut ist, bekommt unweigerlich eine Gänsehaut, geht doch eine spürbar merkwürdige bis einnehmende Anmutung von den Ringen, Ketten, Broschen und Armbändern aus, die in abgedunkelten Schränken und Laden „für die Ewigkeit“ bewahrt werden.

Haare wurden wie „Kultobjekte“ behandelt. Man findet sie eingearbeitet in Medaillons, entweder zu einfachen Mini-Sträußchen gebunden oder zu komplizierten Zopfarrangements geflochten. Es gab eigens dafür ausgebildete professionelle Künstler, doch meist übernahmen es die Frauen einer Familie, die Haare der Verwandtschaft zu „verarbeiten“.

Kultobjekt Haare

Auch das Wien Museum besitzt mehrere Objekte in diesem Kontext, wie etwa ein Arrangement aus Haaren des Dichters Franz Grillparzer. Besonders eindrucksvoll veranschaulicht dieses Erinnerungsstück den Zusammenhang zwischen Tod, Haar und Memoria. Als „Memoria“ bezeichnen wir das Gedenken an Verstorbene. So gesehen ist jedes Museum ein Ort der Memoria, da hier oft an berühmte Tote erinnert wird. Zu dem Medaillon, in dem sich einige Haare des Dichters aus verschiedenen Lebensaltern befinden, gesellt sich ein Sträußchen getrockneter Blumen von einem der unzähligen Kränze, die bei seinem Begräbnis 1872 seinen Sarg zierten. Das Ganze wird – wie die damals sehr gefragten Wachsblumensträuße – unter einem Glassturz aufbewahrt. Die Haare und die Blumen sollten so lange überdauern wie die öffentliche Erinnerung an den Dichter – also nach Möglichkeit auf immer und ewig.

Als Ludwig van Beethoven und Franz Schubert exhumiert und in ihre heutigen Ehrengräber auf dem Zentralfriedhof verlegt wurden, sammelte man die verbliebenen Haarreste ein. Auch sie kamen ins Museum und sind bei thematisch passenden Ausstellungen zu sehen.

Michaela Lindinger, Kuratorin, Autorin. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Ägyptologie und Ur- und Frühgeschichte an der Universität Wien. Seit 1995 kuratorische Assistentin, seit 2004 Kuratorin im Wien Museum. Ausstellungen und Publikationen zu biografischen und gesellschaftlichen Themen, Frauen- und Gender-Geschichte, Porträts, Wien-Geschichte, Tod und Memoria, Mode.
 

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