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Historische Schlaglichter auf das Wiener Radwegenetz
„Separierte Bankette“
Die Wiener Freunde der zweirädrigen Fortbewegung befanden sich zu Anfang der 1880er Jahre, als sich „Bicycles“ und „Tricycles“ in anderen europäischen Städten explosionsartig verbreiteten, in einer unangenehmen Situation. Einige Jahre zuvor war nämlich ein Fahrverbot für „Velocipedes“ erlassen worden. Diese direkt durch Pedale an den Naben angetriebenen Zweiräder kamen etwa zwischen 1867 und 1869 in Mode. Nach Unfällen auf Gehwegen und durch scheuende Pferde folgte das autoritäre Aus der ersten einspurigen Welle. Doch die Bewegung war nicht tot – auf erlaubten Übungsplätzen durfte weiterhin gefahren werden, etwa 1883 bei der Rotunde: „Neuestens haben sich die Byciclisten an den Magistrat und abermals an die Polizei gewendet, um die Aufhebung des Fahrverbotes zu erlangen. Und abermals ‚langte ein ablehnender Bescheid herab;‘ und abermals sitzen die Führer des Bycicle-Clubs auf ihren ‚Zweiradlern‘ hinter der Rotunde, lauter Scipios auf den Ruinen von Carthago, und weinen, weinen, weinen […]“
Am 1. und 8. Mai 1884 veröffentlichten die vereinigten Wiener Bicycle-Clubs ein Memorandum in der Allgemeinen Sport-Zeitung, in dem sie um die Öffnung der Wiener Straßen und ein entsprechendes Regelwerk für den Verkehr baten. Die Bemühungen zeigten Erfolg. Im Mai 1885 erschien die „Fahrordnung“ für „Velociped-Fahrer“, die allerdings sehr streng die Benutzung der Zwei- und Dreiräder auf öffentlichen Straßen reglementierte. Und obwohl diese Verordnung weiterhin die Benutzung einer Reihe von Straßen untersagte, war nun endlich der Bann gebrochen, sodass sich vor allem die Zweiräder binnen weniger Jahre zu einem beliebten Sport- und Verkehrsmittel entwickeln konnten (wobei die Nutzung als Sportgerät zu dieser Zeit eindeutig überwog).
Schon 1894 erklangen aus Paris erste Rufe nach Radwegen. Ein „Trottoir für Radfahrer“ sollte hier baulich getrennt von Straße und Gehweg entstehen. Die Idee schwappte über London nach Wien, wo Ende März 1896 entsprechende Überlegungen angestellt wurden: „Im Londoner Hyde Park geht man mit dem Plane um, eine größere Anzahl von Reitwegen in solche für Radfahrer umzuwandeln. Nun macht man auch in Wien den Vorschlag, die Reitwege an der Ringstraße in Radfahrerwege umzuwandeln, da behauptet wird, daß auf einen Reiter immer 200 Radfahrer kommen.“
Im September des gleichen Jahres beschloss der Wiener Stadtrat, bei zukünftigen Straßenbauten „auf die Anlage eigener Radfahrwege Rücksicht zu nehmen“, sofern es zweckmäßig erschien. Anfang April 1897 wurde in einer Enquete zur Regelung des Radfahrwesens in Niederösterreich zwar beschlossen, eigene Radfahrerwege seien in Wien nicht notwendig, offensichtlich bezog man sich damit aber nur auf bauliche Herstellungen, denn gleichzeitig wurde in der Prater-Hauptallee ein Radfahrweg für den Verkehr freigegeben. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Verordnung des k.k. Statthalters im Erzherzogthume Österreich unter der Enns vom 13. April 1897. Darin heißt es unter Paragraf 3 und man fühlt sich bereits an die Gegenwart erinnert: „Wo längs öffentlicher Strassen eigene Radfahrwege für das Zweirad vorhanden sind, haben die Radfahrer nur diese Fahrbahn zu benützen.“
Der Absatz regelte wohl hauptsächlich den Radverkehr auf Landstraßen. Ebenfalls 1897 konstituierte sich der Österreichische Touring-Club (ÖTC), der sich an die Fahnen heften konnte, schon kurz nach seiner Gründung einige der ersten Fahrradwege und Radfahrstreifen Wiens geschaffen zu haben. Dazu zählten etwa jene im Prater, am Hubertusdamm oder aus der Stadt hinaus nach Purkersdorf.
1901 formulierte Moriz Oransz, Obmann des Wiener Radfahrervereines „Wanderrad“, seine Ideen eines Radwegenetzes. Für die damals in Wien aktiven 70.000 Radfahrer*innen sollte es vor allem dem Zweck dienen, möglichst zügig die Stadt verlassen zu können, um sich in der Natur zu erholen oder sportlich zu betätigen. Sein pragmatisch-einfacher Vorschlag eines Radwegnetzes bestand aus zwei ringförmigen und 18 radial verlaufenden Radwegen. Die innere Ringstrecke folgte den heute als 2er-Linie bekannten Verkehrswegen sowie der Unteren und der Oberen Donaustraße, während die äußere über Gürtel, Handelskai, Engerthstraße und durch den Prater zur Schlachthausgasse führte.
Die Herstellung der Radwege plante er auf vorhandenen Straßen oder Grünstreifen – teilweise wäre die Anlage makadamisierter oder betonierter Wege notwendig gewesen. Bei seiner Linienführung achtete er unter dem Aspekt der Bequemlichkeit darauf, möglichst gut ausgebaute Straßen zu wählen. Über deren Zustand schrieb er einen launigen Absatz: „Der Radfahrer z.B., der heutzutage gelegentlich einer Ausfahrt den Weg von der Josefstadt oder von Neubau, sagen wir bis zur ehemaligen Matzleinsdorferlinie, oder vom oberen Theile Währings bis zum Praterstern zurückgelegt hat, hat eigentlich genug des Guten. Die körperliche Uebung, die er anstrebte, hat er voll und ganz vollbracht, erschöpft und verschwitzt, die Augen und Nerven von dem fortwährenden Aufpassen, Ausweichen, Rütteln, Rutschen, Läuten und Zurufen abgespannt, steht er da an der Peripherie der Stadt, und in diesem Zustande soll er die schöne, freie Natur aufsuchen und für sie schwärmen.“
Ob Oranszs Vorschläge in die reale Schaffung von Radwegen einfloss, ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls entstanden noch vor 1915 neue Radwege, beispielsweise entlang der Donau und des Donaukanals sowie an Teilstrecken des Gürtels, die sogar ausgeschildert waren. Im Oktober 1929 konstituierte sich nach deutschem Vorbild die Österreichische Zentralstelle für Radfahrwege. Ihr Ziel bestand in der Schaffung und Erhaltung von Radwegen.
Die Mitglieder der Zentralstelle rekrutierten sich aus dem ÖTC, dem Händlerverband, der Fahrrad- und Gummiindustrie sowie großen Radfahrervereinen, etwa dem Arbeiterradfahrerbund Österreichs. Zu ihrer finanziellen Absicherung wurde ein Wegbaufonds ins Leben gerufen. Der erste Beschluss der Zentralstelle lautete, einen drei Kilometer langen nur dem Radverkehr vorbehaltenen Weg von der Sophienbrücke zum Praterspitz zu bauen. Auf Betreiben der Zentralstelle gab der Wiener Magistrat zwischen 16. Juli und 30. September 1931 die Seitenfahrbahnen der Ring-, Dresdner- und Nordbahnstraße sowie der Kolingasse und Hernalser Hauptstraße versuchsweise für den Fahrradverkehr frei. Dennoch war ihr offensichtlich kein langes Leben beschieden. Nach 1931 lassen sich keine Aktivitäten der Zentralstelle mehr nachweisen. Überhaupt ist es aus heutiger Sicht verwunderlich, dass das Fahrrad zwar in der Sozialdemokratie zumindest symbolisch einen Stellenwert hatte, das „Rote Wien“ aber keinesfalls einen Schwerpunkt auf die Schaffung entsprechender Infrastruktur legte – im Gegenteil.
Etwa seit Ende 1935 konnte in Wien zunehmender Fahrradverkehr beobachtet werden, der wohl als Konsequenz der krisenhaften Zeiten betrachtet werden kann. Von langen Jahren der Stagnation war in den Tageszeitungen die Rede und einem sprunghaften Anstieg im Laufe des Jahres 1936. Nur wenige konnten sich ein Auto leisten, ein Fahrrad hingegen war erschwinglich. Die Stadt Wien baute nun in größerem Umfang neue Radwege in Form „separierter Bankette“. Das Sport-Tagblatt meldete: „Endlich, endlich! Die Radfahrer waren schon nahe daran, an dem Erfolg ihrer Bemühungen zu verzweifeln, als aus der Rathausstube die Nachricht kam, daß die Gemeinde Wien nun doch Radfahrwege anlegen wolle."
Gegenüberstellung: Die Bilder vergleichen die Radwege zwischen 1936 und 2022, Aufnahmestandpunkt vis-a-vis des Karl-Marx-Hofes, Hausnummer 84, Stiege 49, Blickrichtung stadtauswärts. Fotos: „Das Kleine Blatt“, 10. Dezember 1936 (Quelle: ANNO/ÖNB) bzw. Thomas Keplinger.
Die ersten Wege dieses Booms entstanden an der Heiligenstädterstraße, betonierte Radfahrwege an der Donaustrandpromenade und entlang der Wientalstraße. Wo die Straßen zu schmal für eigene Bankette waren, behalf man sich mit Radfahrstreifen. Zum Vergleich: Berlin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Radwege in 318 Kilometern Länge, in Hamburg waren es 294 Kilometer.
1937 erfolgte der Radwegausbau an der Triesterstraße bis in den vierten Bezirk, vom Praterstern zur Reichsbrücke und in der Brünnerstraße. Einzelne Lücken zwischen den Teilstrecken des Gürtelradwegs wurden geschlossen. Entlang der Wientalstrecke und an der Schlossallee trennten Randsteine den Radverkehr vom motorisierten Verkehr und eine Hecke verlief zwischen Geh- und Radweg.
Gegenüberstellung: Gegenüber des Hauses Triester Straße 31 entstanden diese Fotos: Zu sehen sind die Radwege von 1936 und 2022, Blickrichtung stadteinwärts. Fotos: Allgemeine Automobil-Zeitung, 1. Dezember 1937 (Quelle: ANNO/ÖNB) bzw. Thomas Keplinger.
1938 kamen weitere Radstrecken an der Wienerbergstraße, Triesterstraße, der äußeren Favoritenstraße sowie der Linzer- und Heiligenstädterstraße dazu. Im selben Jahr wurde der Ausbau fehlender Teilstrecken des Gürtelradwegs in Angriff genommen, sodass bis 1939 ein durchgehender Radweg von der Nußdorfer Straße bis zur Landstraßer Hauptstraße entstanden war. Noch 1941 fand man die Kapazitäten sich über Radwege Gedanken zu machen – kurz darauf widmete sich die Bautätigkeit der Gemeinde bis Kriegsende nur noch militärischen und kriegswirtschaftlichen Projekten.
Ab den 1950er Jahren setzte mit steigendem Wohlstand der Aufschwung des Autos ein, der die Radwegplanung völlig an den Rand drückte: 1977 bestanden nur elf Kilometer Fahrradwege in Wien, deutlich weniger als noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit . Erst ab 1983 trug der Bau von etwa 270 Radwegkilometern im Rahmen des Radwegegrundnetzes dem neuen Aufschwung Rechnung. Seither erlebte das Fahrrad als Sport- und Transport- sowie als alltagstaugliches und gesellschaftsfähiges Verkehrsmittel eine Aufwertung, die ungebrochen bis heute anhält. Die offizielle Zahl von derzeit 1.660 Kilometern Radverkehrsnetz in Wien umfasst übrigens sämtliche für den Fahrradverkehr ausgewiesene Verkehrsflächen, also auch jene, die nicht baulich getrennt sind, wie etwa Fahrstreifen gegen die Einbahn.
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Kommentare
Ein gleichermaßen interessanter wie aktuell wichtiger Beitrag, der zeigt, wie langsam die Mühlen des Fortschritts im Verkehr mahlen. Immer noch werden die Radfahrer in Wien an den Rand gedrängt (im Wortsinn: eine für den Radverkehr geöffnete Einbahn etwa, die in Wien zu den Radwegkilometern gezählt wird, ist auch für geübte Radfahrer eine Herausforderung). Der Dusika-Abriss ist da nur das Tüpfelchen auf dem sprichwörtlichen I, wenn auch für den Alltagsradler mehr theoretisch, denn praktisch relevant. Wann, zum Beispiel, wird eine Spur der Ringstraße für die Radfahrer abgezwackt, die sich derzeit – für alle Beteiligten gefährlich – zwischen Bäumen und Fußgängern schlängeln? Wann ringt sich die Stadt durch, jene zu fördern, die zu Gunsten des Rades und der öffentlichen Verkehrsmittel auf ein Auto verzichten? Die Probleme, die durch solche Maßnahmen gelöst werden könnten – Umgestaltung von Straßen durch die so mögliche Aufhebung von Parkplätzen etc. -, sind Legion.