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Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 2
Gassenbuben
Plötzlich sind sie da auf der menschenleeren, von Stille hallenden Straße, ein loser Trupp: Späher auf feindlichem Terrain
Aufgetaucht aus der Leere, kein anderer Mensch unterwegs. Aber sie will trotzdem ins Zuckerlgeschäft, fest hält sie das Zehn-Groschen-Stück in der Faust, das sie gerade von der Mutter erbettelt hat, sie wird sich trotz der Buben jetzt die neue Film-Bensdorp kaufen.
Mit niedergeschlagenen Augen durchquert sie den Bubenschwarm, sie weiß, was sie sehen würde, wenn sie sich hinzuschauen getraute: wie Säcke die Hosen über den bloßen Füßen, zerschundene Beine, geschorene Köpfe, das ist wegen der Läuse, hat die Mizzi gesagt, ihre weißen, schiefen Gesichter wie ohne Augen.
Aber heute keine erhobene Faust, keine Drohungen und Schimpfwörter, die sie nicht kennt.
Da ist sie schon durch die Tür und im süßen Hafen: hinter der in Glasbehältern gestapelten, vielfältigen Zuckerlpracht in allen Farben sitzt die Frau Dina, dunkel und breit im weißen Arbeitsmantel, und hinter ihr der Franzose, ihr Mann, mit seiner ölig glatten Frisur und dem Oberlippenbärtchen, wenn er den Mund aufmacht, wird er sie vielleicht auf Französisch anreden. Aber er steht nur da und schaut zu, wie sie unter den auf einem Ständer wartenden in Bensdorpblau gewickelten Schokoladentäfelchen lange sucht, ob sie nicht doch die Olga Tschechowa entdeckt, die exotische Schöne, aber sie sieht hinter den durchsichtigen Papierfensterchen nur die aufgeklebten Fotos von der langweiligen Martha Eggerth und dem Willi Forst. Sie wird also auf die Olga Tschechowa noch warten müssen und nimmt halt den Willi Forst.
Sie hat das Draußen ganz vergessen.
Jetzt fallen ihr die Gassenbuben wieder ein, vorsichtig tritt sie durch die Geschäftstür, da liegt zum Glück die Straße friedlich leer, die Gassenbuben haben sich wieder dorthin verzogen, wo sie hingehören: in die engen Seitengassen der Krim, dort treiben sich ihre Banden zwischen von Gerümpel überquellenden »Gstätt’n« und Betonmauern herum, holen sich hie und da aus verwilderten Gärten die dürren Äste von verkrüppelten Apfelbäumen als Knüppel; mit Steinen schießen sie auf scheppernde Blechtrommeln, spielen Fußball mit Fetzenlaberln und boxen und stoßen einander, johlen und schreien, bis ihre hageren Mütter die Fenster aufstoßen und laut hinunterschimpfen. Das hat sie manchmal gesehen, wenn sie auf ihrem Fahrrad die ganz nahen grauen Gassen durchquerte, dann fuhr sie schneller und mit abgewandten Augen, als flüchtete sie vor einer Gefahr
Der Text stammt aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Ein weiterer Text daraus ist bereits erschienen: Eislaufplatz.
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