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Kinderbewahranstalten im 19. Jahrhundert
Pädagogik in Kinderschuhen
Versetzt man sich in die Situation einer kinderreichen Arbeiterfamilie Anfang des 19. Jahrhunderts, sah man sich mit einer Vielzahl an Problemen konfrontiert: Der Arbeitstag war lang, enorm hart und schlecht bezahlt. Zumeist mussten beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit nachgehen, um die Familie notdürftig ernähren zu können. Spätestens ab dem 10. oder 12. Lebensjahr waren auch die Kinder dazu angehalten Geld zu verdienen – sei es in der gewerblichen Hausarbeit, in Textilfabriken, wo billige Arbeitskräfte mit „kleinen, flinken Händen“ gefragt waren oder als Straßenverkäufer. Ein Blick auf die Statistik der Säuglingssterblichkeit in Wien im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts unterstreicht die prekäre Situation. Im Jahr 1800 erreichten von 100 Neugeborenen nur rund 40 das erste Lebensjahr, dreißig Jahre später war die Situation zwar schon etwas besser, die Säuglingssterblichkeitsrate lag aber immer noch bei knapp 40 Prozent. Natürlich betraf diese hohe Mortalitätsrate nicht nur die ärmere Bevölkerungsschicht – aber diese im Besonderen.
Angesichts des harten Arbeitsalltags der ärmeren Bevölkerungsschicht stellt sich die Frage, wer sich tagsüber um die kleinen bzw. ganz kleinen Kinder gekümmert hatte, während die Eltern auswärts Geld verdienten? Falls keine Großeltern vorhanden waren, die diese Aufgabe übernehmen konnten, gab es drei Optionen: Entweder passten die älteren auf ihre jüngeren Geschwister auf, sie wurden bei Pflegefamilien untergebracht oder notgedrungen sich selbst überlassen, was auch außerhalb der Grenzen der Habsburgermonarchie zu einer zunehmenden Verwahrlosung der Kinder führte.
Erste sozialfürsorgliche Maßnahmen, um einer fortschreitenden Verelendung der Arbeiterfamilien entgegenzuwirken, wurden in England gesetzt. Zu nennen sind hier vor allem die sogenannten „Infant Schools“ des britischen Unternehmers und utopischen Sozialisten Robert Owen. Er setzte sich dafür ein, dass Kinder so früh wie möglich in Gemeinschaftseinrichtungen erzogen werden sollten, die mit genügend wirtschaftlichen Ressourcen wie Essen, Kleidung und geeigneten Räumlichkeiten ausgestattet sein mussten. Er vertrat die Auffassung, dass die Kinder hier einen besseren Start ins Leben hätten, als unter alleiniger Obhut ihrer schwer arbeitenden Eltern. Die erste dieser Kleinkindereinrichtungen wurde 1809 gegründet und war an eine von Owens Baumwollfabriken angeschlossen. Hier wurden die Kinder der Fabrikarbeiter aufgenommen und „ohne Furcht vor Strafen erzogen“. Neben Spiel, Gesang und Tanz gehörten auch Geographie, Naturkunde und körperliche Übungen zum Lehrplan. Owens erste Ansätze einer ganzheitlichen Erziehung blieben allerdings für die weitere Entwicklung der Kleinkindpädagogik in England weitgehend ohne Einfluss. Gesellschaftsverändernde Ideen hatten in der Folge auch in den von Samuel Wilderspin gegründeten britischen Einrichtungen keinen Platz und somit auch nicht in jenen – nach Wilderspins Vorbild – in Deutschland gegründeten Kleinkinderbewahranstalten.
Vorrangig hatten diese Einrichtungen vielmehr drei Aufgaben zu erfüllen: Sie sollten der Verbrechensverhütung dienen, indem sie der Verwahrlosung vorbeugen, den Schulbesuch älterer Kinder fördern, die demzufolge nicht mehr auf ihre jüngeren Geschwister aufzupassen hatten und sie bildeten den Anfang einer christlichen Erziehung. Vor allem letzterem Gedanken wurde in Österreich ein besonderer Stellenwert zuteil.
Denn in der Habsburgermonarchie wurde – auch nach Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht im Jahr 1774 – Bildung für Kinder im vorschulpflichtigen Alter nicht als Aufgabe des Staates betrachtet. Die Gründung von Bewahranstalten lag in der Hand von karitativen Vereinen, Wohltätern aus der Adelsschicht oder dem Bürgertum und wurde in letzter Instanz von der katholischen Kirche kontrolliert. Mit anderen Worten: Die Bewahranstalten waren zuallererst im Kontext der Armenfürsorge zu sehen, die mit einer generellen Bevölkerungszunahme einherging. Während Wien im Jahr 1818 ca. 224.000 Einwohner zählte, sollte sich die Bevölkerung im Laufe der kommenden 30 Jahre fast verdoppeln.
Die erste Gründung einer Kinderbewahranstalt auf Habsburgischen Boden geht auf Gräfin Therese Brunsvik de Korompa zurück. Im heutigen ersten Bezirk von Budapest wurde im Juni 1828 der erste sogenannte „Engelsgarten“ eröffnet. Ziel der Gräfin war es, Kinder aus vorrangig armen Familien zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr auf der Grundlage der Frömmigkeit und Sittlichkeit zu erziehen, wobei auch dem Unterricht ein größerer Stellenwert eingeräumt wurde. Trotz dieser hehren Ziele erhoben sich jedoch bald Bedenken gegenüber dieser neuen Einrichtung, die Regierung befürchtete die Unterstützung revolutionärer Ideen und versuchte die Entwicklung dieser Einrichtungen einzudämmen. Die Gräfin ließ sich davon allerdings nicht abhalten, unternahm pädagogische Reisen durch Europa und kam u.a. in Kontakt mit dem Schweizer Schul- und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi. Nach ihrer Rückkehr kontaktierte sie den jüdischen Kaufmann Josef Ritter von Wertheimer, der sich in Wien gerade um eine Genehmigung zur Errichtung von Bewahranstalten bemühte. Wertheimer zeichnete auch für die deutsche Übersetzung von Samuel Wilderspins Werk „Über die frühzeitliche Erziehung der Kinder und die englischen Kleinkinderschulen“ verantwortlich, brachte das Buch zunächst auf eigene Kosten heraus und ergänzte es mit eigenen Überlegungen.
Als Argument für die Errichtung von Kinderbewahranstalten führte Wertheimer die Tatsache an, dass in den Armenvierteln Wiens doppelt so viele Kleinkinder starben, verunglückten oder krank waren als in wohlhabenderen Stadtteilen. Die Regierung ließ dieses Ansuchen in 32 Pfarrämtern Wiens begutachten, wobei lediglich zwei Pfarrer dieses Ansinnen unterstützten. Einer von ihnen war Pfarrer Johann Lindner. In ihm fand Wertheimer einen Förderer seiner Idee und 1830 konnte die erste Kinderbewahranstalt am Rennweg eröffnet werden.
Aufgrund der hohen Nachfrage entstanden weitere Bewahranstalten, die von Kaiserin Karoline Auguste, der vierten Gemahlin von Kaiser Franz I., prominente Fürsprache und Unterstützung erhielten. Bald hegte die Kaiserin allerdings den Verdacht, dass die Kinder der ärmeren Schichten in diesen Einrichtungen durch zu viel Aufklärung und Bildung ihr eigenes Los erkennen und sich gegen die Regierung auflehnen könnten. Um dem entgegenzuwirken wurde 1831 vom „erzbischöflichen Consortium“ ein „Centralverein für Kinderbewahranstalten“ ins Leben gerufen. Präsident des Vereins war der Fürsterzbischof von Wien, womit die Kirche das Kontrollrecht der Anstalten innehatte. Kaiserin Karoline Auguste wurde zur obersten Schutzfrau der Kinderbewahranstalten ernannt.
Einem Reisebericht des deutschen Pädagogen und Theologen Christoph Kröger zufolge gab es 1840 in Wien bereits sechs Bewahranstalten, in denen rund 900 Kinder betreut wurden. 1843 gründete Wertheimer in der Leopoldstadt die erste israelitische Kleinkinderbewahranstalt, die u.a. von der Salonière Sophie von Todesco unterstützt wurde. In den Folgejahren entstanden in ganz Österreich ähnliche Einrichtungen nach Wiener Vorbild. Initiatoren und Geldgeber waren wohltätige Vereine, Privatpersonen oder der katholischen Kirche nahestehende Institutionen.
Doch nun zur Frage wie man sich generell die Organisation und das Betreuungsangebot in diesen Vorläufern des Kindergartens vorstellen darf? Hierzu ist im „Bericht über den Zustand der Kinderbewahranstalten Wiens und Umgebung im Jahre 1873“ zu lesen: „Die Kinder besuchen die Anstalten an den Wochentagen von 7 bis 12 Uhr Vormittag und von 1 bis 7 Uhr Nachmittag im Sommer, im Winter von 8 bis 12 Uhr Vormittag und von 1 bis 6 Uhr abends. Im Sommer bringen sie diese Zeit im Garten oder auf ihren Spielplätzen im Freien zu, und werden dort unter der Aufsicht mütterlicher Wärterinnen bewahrt und ihren Kräften und Fähigkeiten angemessen beschäftigt. Die Mädchen erhalten den ersten Unterricht im Stricken und Häkeln, wozu vom Centralverein und anderen Wohltätern die Strickwolle beigeschafft wird, so zwar, dass sehr viele arme Kinder mit warmen Strümpfen, Jäckchen und dgl. versehen werden können“.
Als pädagogisches Personal fungierten jeweils ein Lehrer als Leitung und Kinderbewahrerinnen. 1832 wurde der Pädagoge und Schriftsteller Leopold Chimani vom Hauptverein der Kinderbewahranstalten beauftragt, eine theoretische Grundlage für die pädagogische Arbeit in den Anstalten zu verfassen. Dieser „Theoretisch-praktische Leitfaden für Lehrer in Kinderbewahranstalten“ gilt als erstes detailliertes Curriculum zur Arbeit in den österreichischen Kinderbewahranstalten. Das Inhaltsverzeichnis verweist auf ein umfangreiches Aufgabengebiet. So gibt es u.a. Anregungen zur körperlichen Ertüchtigung, zur Entwicklung des Erkenntnisvermögens, des Gehörsinns und des Anschauungsvermögens sowie zur religiösen, moralischen und sittlichen Erziehung der Kinder durch Gesang, Gebet und Geschichten. Des Weiteren finden sich Anleitungen für Spiele und diverse handwerkliche Beschäftigungen wie beispielsweise Gartenarbeit, zumal „Kinder, welche die Bewahranstalten besuchen, mehrheitlich durch die Arbeit ihrer Hände ihren Unterhalt sich verdienen werden müssen“. Lehrer und Bewahrerinnen werden zudem im Vorwort darauf hingewiesen, das Alter der Kinder immer angemessen zu berücksichtigen, da jedes „weitere Vorschreiten im Entwickeln“ und das Erlernen „unnützer und unverständlicher Worte“ eine „schädliche Frühreife hervorbringe“ und ein „eitles und für die künftigen Entwicklungsstufen der Kinder schädliches Treiben sei“.
Trotz einiger fortschrittlich anmutender Ansätze bewertete Chimani die Bildung von Kindern aus den unteren Bevölkerungsschichten als vernachlässigbar. In erster Linie sollten sie aus ihrem „Elend“ befreit und zu gehorsamen Bürgern erzogen werden. Nicht nur zum Wohle der Kinder, sondern auch zum Erhalt von Recht, Moral, Sitte und Ordnung im Staat. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass Kinderarbeit als „pädagogisch wertvoll“ eingestuft wurde. Durch eine frühzeitige Einbindung von Kindern ins Arbeitsleben erhoffte man, Erziehungsideale wie Fleiß, Pünktlichkeit, Gehorsam, Geschicklichkeit und Ausdauer vermitteln zu können. Pädagogische emanzipatorische Bestrebungen, Kinder aus dem Proletariat zu gebildeten und selbstbewussten Menschen zu erziehen, rückten erst mit dem Entstehen der Arbeiterparteien Ende des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund.
Pädagogik als Luxus
Parallel zur Entstehungsgeschichte der Bewahranstalten entwickelte auch das Bürgertum zunehmend Interesse an familienergänzenden Bildungsangeboten für Kleinkinder, deren Mütter nicht zur Erwerbsarbeit gezwungen waren und sich „den Luxus eines pädagogischen Schutzraumes leisten konnten“. Dies markiert den Beginn der beiden bis heute bestehenden Stränge öffentlicher Kleinkindererziehung – einerseits das Bewahren, andererseits das Erziehen und Fördern.
Einen Überblick über die damaligen unterschiedlichen Kleinkindereinrichtungen gab Alois Fellner, einstmals Schulinspektor und Direktor der Wiener Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt, in Form eines Leitfadens „für die Gründung und Führung von Kleinkinder-Erziehungsanstalten“. Als Betreuungseinrichtung für die Allerjüngsten, also für Kleinkinder von zwei Wochen bis drei Jahren, deren Eltern beide „außer dem Hause“ arbeiten, wird die Krippe angeführt. Die erste österreichische Krippe, die Breitenfelder-Kinderkrippe, wurde in Wien 1849 vom Arzt Carl Helm gegründet. Als Folgeeinrichtung empfiehlt Fellner den Volkskindergarten, der nach einem Ministererlass vom 8. Juni 1884 für die arbeitende Bevölkerung durchgesetzt werden konnte und eine Mischform aus Bewahranstalt und Kindergarten darstellte. Das Kinderasyl war als Versorgungsstätte für Waisen oder verlassene Kinder gedacht und folgte ähnlichen Kriterien wie die Bewahranstalt. Für die bürgerliche Schicht wird der Kindergarten im Sinne des deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel angeführt. Allein dieser Einrichtung wurde der Erziehungsauftrag zugesprochen, Kinder ab dem vierten Lebensjahr auf die Schule vorzubereiten.
Der erste Kindergarten nach Vorbild Fröbels wurde 1863 von Georg Hendel in Wien eröffnet, zeitgleich wandelte Joseph von Wertheimer seine israelitische Bewahranstalt in einen Kindergarten um und zählte 1868 zu den Mitbegründern der ersten österreichischen Privat-Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen, die in der Schiffamtsgasse 15 angesiedelt war. In der Folge entstanden in ganz Österreich Kindergärten, als Träger dieser Einrichtungen fungierten überwiegend private Wohltätigkeitsvereine. Zielgruppe waren fast ausschließlich bürgerliche bzw. finanziell gut gestellte Familien, da die monatliche Besuchsgebühr ein bis zwei Gulden betrug – zu hoch für Kinder aus Arbeiterfamilien.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich dann allmählich die pädagogischen Motive für die Kleinkinderbetreuung durchzusetzen und den anfänglichen Gedanken der Armenfürsorge zu verdrängen. Mitverantwortlich für diese Entwicklung war das österreichische Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869, das u.a. die Unabhängigkeit der Schule von der Kirche definierte. Mit dem Ministererlass vom 22. Juni 1872 wurde dem Kindergartenwesen in Österreich dann öffentliche Anerkennung zugestanden, verbunden mit einer offiziellen gesetzlichen Regelung und verbindlichen Bestimmungen für die Kindergärten. Die ersten öffentlichen Kindergärten wurden in Wien dann zwischen 1889 und 1893 geschaffen, der allererste am Enkplatz 2, wo sich heute das Amtshaus und Bezirksmuseum Simmering befindet.
Literatur
Wilma Aden-Grossmann: Der Kindergarten. Geschichte – Entwicklung – Konzepte, Weinheim 2011.
Ludwig Boyer: Annäherung an die Schulwirklichkeit zur Zeit Maria Theresias, Wien 2006.
Gisela M. Gary: Geschichte der Kindergärtnerin von 1779 bis 1918, Wien 1995.
Heidemarie Lex-Nalis, Katharina Rösler: Geschichte der Elementarpädagogik in Österreich, Weinheim 2019.
Maria Papathanassiou: Zwischen Arbeit, Spiel und Schule. Die ökonomische Funktion der Kinder ärmerer Schichten in Österreich 1880 – 1939, Wien 1999.
Gerhard Melinz, Susanne Zimmermann: Über die Grenzen der Armenhilfe. Kommunale und staatliche Sozialpolitik in Wien und Budapest in der Doppelmonarchie, Wien/München/Zürich 1991.
Jürgen Reyer, Diana Franke-Meyer: Die Kindergärtnerin. Zur Geschichte einer Semi-Professionalisierung, Weinheim 2021.
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