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Ludwig Hirschfelds „Was nicht im Baedeker steht: Wien“
„Ist er ein Jud?“
Suchte man in den 1920er-Jahren einen wirklichen Wien-Kenner, stieß man unweigerlich auf Ludwig Hirschfeld (1882–1942). Der bekannte Schriftsteller und Feuilletonist galt mit seinen vielen bereits veröffentlichten historischen „Skizzen“, aber auch mit seinen aktuellen Alltagsschilderungen als einer der erfahrensten Stadt-Experten. Immer wieder stellte sich Hirschfeld bei seinen Wienbeobachtungen vor, ein Fremder in der eigenen Stadt zu sein, sie mit den Augen eines Touristen zu sehen. Zu Vergleichszwecken besaß er mehrere Reiseführer, allen voran einen „Baedeker“, zudem einschlägige Werke der Verlage Woerl, Grieben und Geuter. In ihnen blätterte und las er regelmäßig, um dann jedes Mal festzustellen, dass sie die Wirklichkeit doch einigermaßen verzerrten und immer wieder die gleichen Wien-Klischees tradierten.
Ähnlich sah dies der Münchner Piper-Verlag, der daher Mitte der 1920er-Jahre eine programmatische Reihe initiierte unter dem Motto „Was nicht im ‚Baedeker‘ steht“. Die Bände sollten, in einem lockeren feuilletonistischen Stil geschrieben, europäische, vornehmlich deutsche Städte und Regionen vorstellen abseits der touristischen Mainstream-Wahrnehmung. Von 1927 bis 1938 kamen 17 Bände heraus. Den Anfang machten Berlin und Wien, dann München, Budapest, Bonn, Leipzig, später auch Paris, London, Rom oder die Riviera, Oberitalien und die Schweiz. Die markanten Cover dieser Reihe entwarf der junge Grafiker Walter Trier (1890–1951), der auch die Kinderbücher von Erich Kästner illustrierte. Für die Innengestaltung der Bücher konnten ebenfalls namhafte Karikaturisten gewonnen werden. Bei den Autoren favorisierte der Piper-Verlag Journalisten und humoristische Schriftsteller, die einen kurzweiligen Blick hinter die Kulissen versprachen. Das Buch über Wien sollte Ludwig Hirschfeld schreiben.
Dieser stimmte dem Verlagsangebot zu, wobei er neben Wien auch kurz Budapest zu behandeln hatte, eine Kombination, die allerdings später wieder fallen gelassen wurde. Im Frühjahr 1927 war es dann soweit: Der neue Wienführer erschien, im handlichen Format, knapp 250 Seiten stark. Als Zielpublikum fungierten, vom Autor auch explizit so bezeichnet, die mondäne Dame und der mondäne Herr, am Cover humoristisch abgebildet, gemeinsam mit Schlagworten, die den Inhalt des Buches vorwegnehmen: Tanz, Restaurants, Sport, Theater. Nicht die klassischen Sehenswürdigkeiten standen somit im Zentrum, sondern die moderne Stadt von heute. Unterstützt wurde dies durch Originalzeichnungen von Adalbert Sipos und Leopold Gedö, zwei renommierte Karikaturisten, die später noch andere Bände der Piper-Reihe illustrieren sollten.
Ludwig Hirschfeld widmete das Buch seiner Ehefrau Elly, die ironisch als gerne einkaufend und tanzend beschrieben wird, erneut ein Hinweis auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung des Bandes. Gekonnt bot er in der Folge die wichtigsten Grundinformationen über die Stadt: die nach der Ankunft zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel, Hotels und Speiselokale, Unterhaltungs- und Sportstätten, Einkaufsmöglichkeiten und Ausflugsziele. Wobei er sich weniger mit detaillierten Schilderungen der jeweiligen Örtlichkeiten aufhielt, sondern die Aufmerksamkeit stets auf die dort verkehrenden Menschen lenkte. Er kannte sie ja (fast) alle. Mit dem „Who is Who“ von Wien war er seit Jahrzehnten vertraut. Und so lebte er sich in dem Buch als Zeitzeuge und Adabei aus, als leichtfüßiger Society-Reporter, der den Lesern die Prominenz der Wiener Gesellschaft vorstellte. Ein permanentes Namedropping durchzieht das Buch, wobei die Palette breit gestreut ist: Polizeipräsident Schober kommt ebenso vor wie die Theaterdirektoren Jarno und Reinhardt, die Operettenkomponisten Marischka, Lehar und Kalman, die Schriftsteller Perutz, Kuh, Friedell und Polgar, die Schauspieler Grünbaum und Farkas, natürlich die Werbezirk oder das Künstlerduo Selim und Benatzky, um nur einige wenige zu nennen.
Wirklich ausführliche Beschreibungen gönnte sich der Autor speziell bei drei Themen: Zunächst beim Kaffeehaus, mit dessen Wiener Usancen er zutiefst vertraut war und die er schon oft mit jenen im Ausland verglichen hatte. Mit sicherer Hand beschrieb er die verschiedenen Lokaltypen, lobte die enorme Vielzahl an Zeitungen und Zeitschriften um dann auch kritische Worte über die dort tätigen Literaten zu finden: „Heute befaßt man sich nicht mehr mit geistiger und artistischer Revolution, sondern lieber mit Konkurrenz, Neid und Mißgunst. (…) Und wenn sie so bis sieben, acht Uhr hier gesessen sind und vielleicht noch irgendeinen armen Teufel oder Narren aufgezogen haben, dann gehen sie nach Hause. Wahrscheinlich dichten. Auf jeden Fall aber sehr befriedigt, weil sie wieder einen ganzen Nachmittag aufeinander achtgegeben haben, damit es ja keiner zu weit bringt …“.
Nicht weniger ausführlich beschrieb Hirschfeld die Vielzahl der Wiener Theater und die dort tätigen Personen. Und auch hier platzierte er neben viel Lob und Anerkennung eine spitze Kritik, nämlich, „dass es in Wien sehr wenig Menschen gibt, die freiwillig den angeschriebenen vollen Kassapreis bezahlen. Das gilt direkt als eine Schande, weil es beweist, daß man gar keine Beziehungen zum Theater hat, nicht einmal zu einer Choristin oder Garderobefrau. Und Beziehungen sind doch in Wien alles.“
Das dritte wichtige Thema, ein Muss für einen modernen Reiseführer der 1920er-Jahre, war das Nachtleben. Bälle und Tanzveranstaltungen werden genannt, oft schon am Nachmittag beginnend und bis in den Abend und die Nacht hinein reichend. Auch ein generelles Lob auf die Musikstadt Wien durfte im neuen Reiseführer nicht fehlen, konnte man hier doch mittlerweile viele Stilrichtungen hören, von klassischer Musik bis modernen Jazz. Es folgten Bemerkungen über die Wienerin und die Wiener Erotik und natürlich über Möglichkeiten zum „Shopping“ und zum Flanieren.
Abgerundet wurde das moderne Wien-Bild sodann durch Ausflugstipps in die nähere und weitere Umgebung der Stadt. Hirschfeld schwärmte von der Rax, die mit Eisen- und Seilbahn so leicht wie nie zuvor erreichbar sei, vom Semmering, der – mit allem Komfort ausgestattet – eine mondäne „Bergvorstadt von Wien“ darstelle, und von Budapest, die Stadt stromabwärts der Donau, die seit jeher mit Wien zusammengehöre.
Relativ ausgespart blieben im Buch die gesellschaftspolitischen Verhältnisse in Wien. Lediglich eine wichtige Anmerkung gestattete sich Hirschfeld dazu. Denn zu den „Eigentümlichkeiten, an die man sich gewöhnen muß“ – dieses Kapitel empfahl er als erstes zu lesen! – gehörte für ihn zweifellos der Umgang mit der jüdischen Bevölkerung: „‚Ist er ein Jud?’ Sie werden sagen: auch anderswo gibt es Juden. Möglich. Auch anderswo sind die Juden nicht beliebt und es fällt mir auch gar nicht ein, hier plötzlich eine Debatte über die Judenfrage eröffnen zu wollen. Ich möchte Sie nur auf die spezifisch wienerische Judenfrage aufmerksam machen. Sie hat gar nichts mit Politik und Rassenantisemitismus zu tun, denn diese Frage wird hier von allen, ohne Unterschied der Konfession, gestellt, von Hakenkreuzlern wie von Juden: ‚Ist er ein Jud?’ Alle andern Fragen kommen nachher: Ob der Komponist, der Schriftsteller wirklich Talent hat, ob der berühmte Arzt schon viele Patienten geheilt, der Fußballchampion schon viele Goals geschossen hat. Die primäre Frage lautet: ‚Ist er ein Jud?’ Erst wenn sie beantwortet ist, dann stellt man sich zu der Leistung des Schriftstellers, des Universitätsprofessors entsprechend ein. In jedem Gespräch wird man Ihnen damit aufwarten. Wenn Sie Ihrer Verwunderung Ausdruck geben, daß unser größter Gelehrter, Professor Sigmund Freud, der Schöpfer der Psychoanalyse, ein Mann von europäischer Geltung, noch nicht Ordinarius an der Wiener Universität ist – Antwort: Er ist doch ein Jud.“
Wie auch bei anderen kritischen Stellen im Buch, bot Hirschfeld nach diesem politischen Statement gleich wieder leichter verdauliche, unterhaltsame Kost. Denn bei aller Ironie und Kritik dominierte im Buch doch eine Stimmung des Wohlwollens und des lächelnden Einverständnisses. Und wenn Hirschfeld am Ende sein Fazit über Wien im internationalen Vergleich zog, dann hob er genau dies noch einmal hervor: „Trotz allem … diese zwei Worte müßten eigentlich im Wappen der Stadt Wien stehen, denn sie sind vielleicht das heimliche Motiv unserer Geltung in den Herzen der Welt. Man kann uns auf die Dauer nicht böse sein.“
Das Buch war von Beginn an ein enormer Verkaufserfolg. Von der ersten Auflage wurden sogleich 10.000 Stück verkauft, bei der noch im selben Jahr erschienenen zweiten Auflage – diesmal ohne Budapest – wurden erneut 10. 000 Exemplare gedruckt. Mit zum Erfolg trugen die vielen, durchwegs positiven Rezensionen bei. Die führenden Zeitungen und Zeitschriften des Landes brachten teils ausführliche Kritiken. In Hirschfelds Stammblatt, der „Neuen Freien Presse“, lobte Kurt Sonnenfeld seinen Kollegen in höchsten Tönen: „Er zeigt den Besuchern Wiens nicht die offizielle Fassade der Stadt, ihr Allerweltsgesicht, (...) sondern er sucht die Essenz der Stadt zu destillieren, knackt ihre Eigentümlichkeiten, das vielfältige Gehäuse ihrer liebenswürdigen Unarten und Bodenständigkeiten wie mit einem Nußknacker auf und bietet mit lässiger Ironie, hinter der er seine Liebe zu Wien geschickt zu verstecken weiß, den Kern ihres Wesens dar.“ Felix Salten schlug später in derselben Zeitung nochmals in die gleiche Kerbe und betonte ebenfalls den heiteren, satirischen Ton Hirschfelds: „Dieses ‚Buch von Wien’ hat er mit all seinen Gaben fertiggebracht, mit einer Konzentration all seiner Gaben. Und es ist ein lustiges Buch, das jedem Leser Vergnügen bereitet, dem Fremden ebenso wie dem eingeborenen Wiener.“
Und auch der Schriftsteller und Journalist Carl Marilaun freute sich im „Neuen Wiener Journal“ über die „fast dreihundert außerordentlich amüsanten Seiten“. Zwar seien manche Textstellen mitunter „ein bißchen empfindsam oder ausfällig“ geraten, aber die in der Stadt allgegenwärtige Judenfrage anzusprechen, ohne „in die Wiener Politik oder was wir so nennen, auszurutschen“, sei dem Autor hoch anzurechnen. Sein Fazit: Der neue Führer „informiert zwar, läßt es aber nicht merken, und ist infolgedessen eines der sehr wenigen Bücher, die Wien ähnlich sehen.“
Noch zahlreiche weitere Rezensionen ließen sich nennen, alle überaus wohlwollend. Kritische Stimmen gab es so gut wie keine. Nur die „Wiener- Sonn- und Montags-Zeitung“ merkte an, dass Hirschfeld in dem neuen Stadtführer zwar „flott, munter und witzig“ erzähle, dabei aber auch „jeder Versuchung, tiefer zu gehen, mannhaft widersteht“. Die „Arbeiter-Zeitung“, die Hirschfeld gegenüber stets kritisch bis feindselig eingestellt war, enthielt sich einer ausführlichen Rezension.
Der überwältigende Erfolg des Buches im In- und Ausland ließ neben der deutschen bald auch den Wunsch nach einer englischen Ausgabe entstehen. Als Übersetzer konnte der Piper-Verlag den gebürtigen Briten Thomas Watson Mac Callum (1881–1966) gewinnen, der in Wien als Vortragender und „Radioliebling“ bekannt war und schon mehrere zweisprachige Lehrbücher herausgegeben hatte. Seit vielen Jahren lebte Mac Callum in Wien, der ideale Experte also für die englische Version des Stadtführers. „The Vienna that’s not in the Baedeker“ erschien im Sommer 1929; das Titelbild, den Stephansdom und einen Geige spielenden Engel darstellend, stammte erneut von Walter Trier, die Illustrationen im Inneren steuerten diesmal Tibor Gergely und Adalbert Sipos bei.
Auch dieses Buch geriet zu einem internationalen Verkaufserfolg. Immerhin war es das einzige aus der Piper-Reihe, das ins Englische übertragen wurde. 1931 erschien dann sogar eine eigene Ausgabe in New York, publiziert vom Verlag Robert M. McBride.
Mehrmals wurde Ludwig Hirschfeld in den folgenden Jahren auf eine Neuauflage des Buches angesprochen. Ein schwieriges und undankbares Projekt, wie er wusste. Denn sämtliche erwähnten Personen müssten überprüft und aktualisiert werden, und auch sonst galt es zu überlegen, was in der Stadt alles gleich geblieben war. Leider, so erkannte er Ende 1932 immer deutlicher, vor allem das Eine: die Einstellung „nach besonders verdienstlichen Leistungen die besorgte Erkundigung: Ist er ein Jud? ...“ Und eine Neuauflage des Buches käme, meinte er resigniert, so oder so zustande: „Denn es arbeiten schon andere daran, daß die verschlechterte Ausgabe von Wien unaufhaltsam in Vorbereitung ist.“
Hatte Hirschfeld – aus heutiger Sicht – seinen Anspruch, ein alternatives Bild von Wien zu zeigen, letztlich eingelöst? Wohl nicht, denn viele Klischees transportierte auch er weiter. Wie jenes von Wien als Musikstadt oder den Mythos von der Stadt der Kaffeehausliteratur, die beide bis heute ungebrochen tradiert werden. Allerdings: Seine in der Frage „Ist er ein Jud?“ auf den Punkt gebrachte Sichtbarmachung des Wiener Antisemitismus, sollte letztlich zu den meistzitierten Stellen des Reiseführers in der modernen zeithistorischen Literatur werden. Belegt sie doch, wie sehr das rassistische Schema „Juden gegen Arier“ im Alltagsdiskurs seit Langem verbreitet war. Nicht nur bei den Antisemiten, sondern, wie der Historiker Steven Beller anmerkt, gezwungenermaßen auch bei vielen akkulturierten Juden wie beispielsweise Arthur Schnitzler. Hirschfeld hatte die „Judenfrage“ auf seine ganz spezielle Art wörtlich genommen.
Das Aufgreifen dieses bis heute viel diskutierten Themas war es wohl auch, das die Neuedition des Stadtführers im Milena-Verlag im Jahr 2020 nahelegte. Besitze er doch, so Herausgeber Martin Amanshauser im Nachwort, „auch nach beinahe hundert Jahren und etlichen ‚Umstürzen’ eine über das Historische hinausragende Relevanz.“
Ludwig Hirschfeld: Wien und Budapest. Was nicht im „Baedeker“ steht. München 1927 (1. Auflage).
Ludwig Hirschfeld: Wien. Was nicht im im „Baedeker“ steht. München 1927 (2. Auflage).
Thomas W. Mac Callum: The Vienna that’s not in the Baedeker. From the original by Ludwig Hirschfeld. München 1929.
Steven Beller: Was nicht im Baedeker steht. Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit. In: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus. Wien-Köln-Weimar 2009, 1-16.
Ludwig Hirschfeld: Wien. Was nicht im Baedeker steht. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Martin Amanshauser. Wien 2020.
Ludwig Hirschfeld: Wien in Moll. Ausgewählte Feuilletons 1907–1937. Herausgegeben und kommentiert von Peter Payer. Wien 2020.
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