Website Suche (Nach dem Absenden werden Sie zur Suchergebnisseite weitergeleitet.)

Hauptinhalt

Gerhard Milchram, 7.10.2019

Luigi Toscanos Porträts von Schoah-Überlebenden

Zerschnitten und genäht

In Wien wurden im Mai 2019 Porträts von Schoah-Überlebenden an der Ringstraße geschändet. Engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft setzten sich dagegen zur Wehr, reparierten die Werke und hielten Mahnwachen ab. Zwei  Bilder aus der Serie überließ der Fotograf Luigi Toscano nun dem Wien Museum für seine Sammlung.

Am 7. Mai 2019 eröffnete Bundespräsident Alexander van der Bellen auf der Ringstraße eine Ausstellung des deutsch-italienischen Fotografen und Filmemachers Luigi Toscano. Dieser hatte für sein Projekt mehr als 300 Überlebende der Schoah porträtiert, die heute in Österreich, den USA, Deutschland, der Ukraine, Israel, Rußland und Weißrussland leben.

„Wir alle kennen die Zahl der Ermordeten“ sagte der Bundespräsident „aber Zahlen sind das eine, wir haben Schwierigkeiten uns vorzustellen, was Vertreibung, Folter, Erniedrigung für jeden einzelnen Menschen bedeutete. Ich glaube wir werden nie ganz nachfühlen können, was all diese Menschen empfunden haben. Und wir werden nie ganz verstehen, was andere dazu bewogen hat, wie Menschen anderen Menschen so viel Leid antun konnten.“

Für seine Ausstellung „Gegen das Vergessen“ hatte Toscano die Überlebenden dazu ermutigt, ihre Geschichte zu erzählen und diese damit in die Welt zu tragen und dem Vergessen zu entreißen.
 

Beim Heldenplatz

Die Ringstraße vor dem Heldenplatz ist diesbezüglich ein besonderer Ort, jener Platz, an dem die Massen nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland Adolf Hitler frenetisch zujubelten. Gleichzeitig zog der Mob durch die Straßen und plünderte jüdische Geschäfte, zerrte Juden und Jüdinnen aus ihren Wohnungen und zwang sie mit scharfer Lauge auf den Knien rutschend die Straße von den Schuschnigg- und Österreich-Parolen zu reinigen. Damit begann in Wien die Verfolgung, Beraubung, Exilierung und schlussendlich die Deportation von Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager.

Österreich wird im Mai 2019 von einer Koalition aus der rechtskonservativen ÖVP und der weit rechtsstehenden FPÖ regiert. Insbesondere aus der FPÖ kommen immer wieder antisemitische und ausländerfeindliche Aussagen, und FPÖ-Politiker haben eine bedenkliche Nähe zu eindeutig rechtsradikalen und naziverherrlichenden Gruppierungen. Werden diese publik, werden sie zumeist als bedauerliche „Einzelfälle“ abgetan. 

Viele in der Bevölkerung fühlen sich nun ermutigt, ihren antisemitischen und ausländerfeindlichen Einstellungen freien Lauf zu lassen. Einige fühlten sich von der öffentlichen Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus provoziert und schritten zur Tat, beschmierten mehrmals die Fotografien mit Hakenkreuzen oder zerschnitten sie. An keinem anderen Ort, an dem die Ausstellung gezeigt wurde, kam dies jemals vor.

Überspringe den Bilder Slider
1/4

© Luigi Toscano/Repro:Heribert Corn

Vorheriges Elementnächstes Element
2/4

© Luigi Toscano/Repro:Heribert Corn

Vorheriges Elementnächstes Element
3/4

© Luigi Toscano/Repro:Heribert Corn

Vorheriges Elementnächstes Element
4/4

© Luigi Toscano/Repro:Heribert Corn

Vorheriges Elementnächstes Element
Springe zum Anfang des Bilder Slider

Spontane Gegenaktionen

Gegen diesen Vandalismus und diese Manifestation des Judenhasses gab es nicht nur eine Welle der Empörung, sondern auch spontane Gegenaktionen. Mehrere Organisationen riefen zu Mahnwachen auf und begannen, die zerstörten Porträts mit Nadel und Zwirn wieder zusammen zu flicken. Die Young Caritas, die katholische Jugend Wien, die Muslimische Jugend Österreichs, der Kunstverein Nesterval, die Gewerkschaft Vida und wer immer mitmachen wollte, bewachten in der Nacht die Porträts, um sie vor weiteren Zerstörungen zu bewahren. Ein kraftvolles Zeichen der Zivilgesellschaft, die sich gegen den rechten Mainstream mit all seinen negativen Begleiterscheinungen zur Wehr setzte.

Zwei dieser zerstörten und wieder zusammengenähten Porträts überlies Luigi Toscano dem Wien Museum, um sie für die Zukunft zu bewahren. Diese beiden Objekte zeigen in einer betroffen machenden Weise die Verfasstheit und Zerrissenheit der österreichischen Gesellschaft 2019. Auch in einigen Jahren werden die beiden zerstörten und wieder „geheilten“ Porträts noch lesbar sein. Mithin sind sie, mit der ihnen innewohnenden Geschichte, die idealtypischen Ausstellungsobjekte, die uns auf mehreren Bedeutungsebenen Geschichte/n erzählen können. Gegen das Vergessen und für das Erinnern.

Gerhard Milchram, Studium der Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien. Studien- und Forschungsaufenthalte in Israel, Absolvent der internationalen Sommerakademie für Museologie der Universitäten Klagenfurt, Wien, Graz und Innsbruck, ab 1993 Kulturvermittler und wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 1997–2010 Kurator im Jüdischen Museum Wien. Seit 2011 Kurator im Wien Museum.

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Keine Kommentare