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Tom Koch, 10.11.2020

Mid Century Vienna

Zurück in die Zukunft

Jugendstil, Gründerzeit oder die Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit werden gemeinhin als das Wiener Stadtbild prägende Stilrichtungen assoziiert. Architektur, Design und Interieurs der 1950er bis 1960er Jahre dagegen haben in der kollektiven Wahrnehmung bislang weit weniger Beachtung gefunden.

Dabei sind die Wiener Repräsentanten des „Mid Century Modern“ allgegenwärtig. Ein neues Projekt will sie nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und sucht die verbliebene Hinterlassenschaft der 1950er und 1960er Jahre. Hier drei Beispiele, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten.

Boschstraße 24:
Ein ganz gewöhnlicher Gemeindebau? 

Unweit der U4 Station Heiligenstadt, in der Boschstraße 24 befindet sich eine Wohnhausanlage mit 272 Wohnungen, die dank ihrer Lage gegenüber des Karl-Marx-Hofs den Paradigmenwechsel im kommunalen Wohnbau der Nachkriegsjahre im Vergleich zur Zwischenkriegszeit eindrucksvoll veranschaulicht.

Auf der einen Straßenseite: der nach außen hin geschlossene Karl-Marx-Hof mit Torbögen, die an Festungsanlagen erinnern. Gegenüber: einzelne, zur Straße hin geöffnete Wohnblöcke in aufgelockerter Bauweise. Zwischen den winkelig und parallel zueinander angeordneten Wohnbauten befinden sich weitläufige, einsehbare Grünflächen. Diese in den Jahren 1953 bis 1956 entstandene Wohnhausanlage ist typisch für Gemeindebauten der 1950er Jahre. Fünfstöckige Wohnblöcke mit Giebeldach dominieren die Anlage, im Norden bildet ein neunstöckiges Gebäude den Abschluss hin zum Kreilplatz. Die Stiegen wirken einheitlich und uniform, nur die Steinsockel und farblich abgestufte vertikale Bänder akzentuieren die Fassaden.

Auffallend ist dagegen die Ausgestaltung der Eingangsbereiche: 16 Torfeldmosaike aus den Jahren 1956-1957 behandeln verschiedene Aspekte des Themas „Tragen“. Briefträger tragen die Post aus, Handwerker tragen ihre Gerätschaften, ein kleiner Bub trägt einen Ball und ein Mädchen ihre Katze. Ländliche Szenen wechseln sich mit urbanen Settings ab und bei genauer Betrachtung treten die stilistischen Unterschiede deutlich hervor.

Das ist nicht weiter verwunderlich, denn insgesamt 16 KünstlerInnen mit sehr unterschiedlichen Biografien zeichnen für die detailreichen Arbeiten verantwortlich, darunter Mitglieder der Wiener Secession wie Emil Toman oder Franz Klasek, die Grafikerin Elisabeth Stemberger oder Franz Molt, dem Wien eine ganze Reihe eindrucksvoller Mosaike verdankt. 

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Neben den Mosaiken stechen noch zwei großformatige Sgraffitos ins Auge, eines davon mit dem Titel „Wiener Kastanienbaum“ stammt von Rudolf Pleban, das zweite Wandbild handelt von „Schlaf, Traum und Erwachen“ und wurde von Rudolf Reinkenhof geschaffen. Diese „wandgebundenen“ Kunstwerke sind ein Charakteristikum vieler Bauten aus den 1950er und 1960er Jahren. Die Stadt Wien unterstützte Künstler durch öffentliche Aufträge im Rahmen des kommunalen Wohnbaus.

Frühes barrierefreies Wohnen

Im hinteren, ruhigen Teil der Anlage befindet sich ein räumlich getrennter, einstöckiger Gebäudekomplex. Hier wurden 12 ebenerdige Wohneinheiten besonders für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung errichtet, sie stellen eine frühe Art barrierefreien Wohnungsangebotes dar. Die von einem idyllischen Hof aus zugänglichen Wohnungen verfügen über großzügige Eingangsbereiche und wurden vornehmlich von älteren Mieterinnen und Menschen im Rollstuhl bewohnt.

An diese Mieter kann sich auch Reinhardt Lobe noch gut erinnern, denn ab und an half er ihnen und machte so manchen Rollstuhlreifen mit seiner Fahrradpumpe wieder flott. 1958 zog er als Elfjähriger mit seiner Schwester Claudia und Mutter Mira Lobe in der Boschstraße ein. Die Familie war eben erst aus Berlin zurückgekehrt, als Mira Lobes Ehemann, Friedrich Lobe, kurz vor dem Einzug an den Folgen eines Schlaganfalles starb. Mira Lobe und die beiden Kinder wohnten in einer Wohnung im hohen Gebäude im hinteren Teil der Anlage, auf Stiege 7, Türnummer 12. Dort sah Mira Lobe von ihrem Zimmer aus auf das Treiben im Innenhof des Gemeindebaus. Es handelt sich um das Zimmer „mit dem Schreibtisch und dem viel zu harten Stuhl“ so Reinhardt Lobe, „in dem Klassiker wie Bimbuli (1964), Die Omama im Apfelbaum (1965) oder Das kleine Ich bin ich (1972) entstanden.“ 

Die Stiegen 7 und 8 wurden von bekannten und angesehenen Persönlichkeiten bewohnt, häufig waren es der Partei nahestehenden Funktionäre, Kunstschaffende oder Intellektuelle. Ein Mieter-Mix, der später auch im 1957 eröffneten Matzleinsdorfer Hochhaus forciert wurde.

Unter anderem wohnte im Haus der Journalist Bruno Frei, damals Chefredakteur der von ihm, Ernst Fischer und Viktor Matejka gegründeten kommunistischen Kulturzeitschrift „Tagebuch“. Später berichtete Frei für das KPÖ-Zentralorgan „Volksstimme“ als Auslandskorrespondent aus China.

Auch ein anderer Nachbar war Journalist, nämlich Günther Nenning, der 1958 von Friedrich Torberg als Redakteur der Kulturzeitschrift FORVM nach Wien verpflichtet wurde. Die Mieter des Gemeindebaus in der Boschstraße kannten Nenning allerdings in einer anderen Funktion: Als Kassier der sozialistischen Partei verkaufte er jene Marken, die Parteimitglieder Monat für Monat als eine Art Quittung für ihre Mitgliedsbeiträge in die Parteibücher klebten. In dieser Funktion kam er auch oft zum Kaffeeplausch in die Wohnung der Lobes. Mira Lobe, 1956 aus Protest gegen die Niederschlagung des Ungarnaufstandes aus der KPÖ ausgetreten, kaufte bei ihm regelmäßig diese Marken. Nicht für sich– sie selbst war nie Mitglied der Sozialistischen Partei – sondern für einen guten Freud, der im Ausland lebte und seine Mitgliedschaft „im Exil“ so über die Jahre aufrecht halten konnte.

Location: 48°15'08.2"N 16°22'00.7"E

Pfarre Unterheiligenstadt:
Eine Kirche mit versteckten Symbolen

Nur wenige Gehminuten entfernt von der Boschstraße befindet sich die Unterheiligenstädter Pfarrkirche. Der weithin sichtbare, markante Turm an der Ecke Klabundgasse/Heiligenstädter Straße beherbergt seit 1965 die Kopie einer Kopie der Renaissance-Madonna des italienischen Künstlers Lorenzo Ghiberti (1378 – 1455). Die Kopie war nach dem Krieg in einer benachbarten Autowerkstatt aufgetaucht. Der Mechaniker hatte sie vor dem Zorn eines russichen Soldaten bewahrt, der erbost über den vermeintlich nutzlosen Fund war.

Sorge bereitete den damaligen Pfarrer P. Franz Dreschers allerdings die Tatsache, dass es für diese schöne Figur doch Eigentümer geben müsste, die die Statue zurückverlangen würden. Er ließ zunächst eine Kopie anfertigen, um das „Original“ jederzeit zurückgeben zu können. Nach Jahren fand die Kopie der Kopie dann im Turm an der Heiligenstädter Straße ihren finalen Standort.

Die Pfarre blickt auf eine bewegte Geschichte zurück: Ursprünglich eine abgelegene Vorstadtpfarre, machte der Neubau des Karl-Marx-Hofes und der damit einhergehende sprunghafte Bevölkerungszuwachs in Unterheiligenstadt die Errichtung einer eigenen Seelsorgestelle notwendig. Nach ihren Anfängen als „Haus-Kirche“ in der Heiligenstädter Straße 101 übersiedelte die Andachtsstätte 1934 in die Räumlichkeiten eines ehemaligen Kaffeehauses im Karl-Marx-Hof. Ein kurzes Intermezzo, denn schon 1939 übernahm die NSDAP die Räume als Versammlungslokal. Nach dem Krieg errichtete man eine hölzerne Notkirche gegenüber dem Karl-Marx-Hof, durch mehrere Grundstückskäufe in den 1950er Jahren stand schließlich genug Fläche für einen Kirchenneubau zur Verfügung.

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Blick auf die Baustelle, im Hintergrund der Karl-Marx-Hof, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Baustelle Klabundgasse, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Begegnung in luftiger Höhe, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Das Kirchendach nimmt Gestalt an, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Der Kirchturm entsteht, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Die Baustelle im Winter, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Die Fundamente der Kirche ruhen auf 170 Betonpfeilern, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Kurz vor der Fertigstellung 1966, © Archiv Pfarre Unterheiligenstadt

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Mit der Planung wurde das Architekturbüro C.A. Müller und Dipl. Ing. W. Müller aus Offenbach am Main beauftragt. Carl Müller begann bereits in den 1930er Jahren in Deutschland Kirchen zu bauen, später trat sein Sohn Wolfgang in das väterliche Architekturbüro ein. Das erstes gemeinsame Werk von Vater und Sohn Müller war 1947 die spektakuläre katholischen Pfarrkirche St. Konrad in Offenbach, das Projekt in Unterheiligenstadt ihr dritter gemeinsamer Sakralbau.

Am 16. August 1965 begann der Bau des neuen Gotteshauses mit einem Fassungsvermögen von rund 800 Personen. Aufgrund der problematischen Bodenverhältnisse ruht die Kirche auf 170 Betonpfeilern, die 11 Meter tief ins ehemalige Schwemmgebiet der Donau getrieben wurden. Ihr Grundriss entspricht einer geöffneten Hand – die Besucher begeben sich also in Gottes Hand – eines von mehreren architektonischen Symbolen, die sich nur bei genauer Betrachtung erschließen.

Der über 30 Meter hohe, markante Turm an der Heiligenstädter Straße ist über einen Gang mit der Kirche verbunden. Durch ihn betritt man den Innenraum. Dieser wird seitlich von lamellenartigen Betonelementen und Fenstern begrenzt und von einer gerundeten Altarwand aus Sichtziegel abschlossen. Das Dach der Kirche ist in Zeltform gestaltet, es spannt sich wie ein ansteigendes Segel über den Kirchenraum. Symbolik auch hier: als Inspiration diente ein Bibelzitat aus der Offenbarung des Johannes (21,3): „Siehe das Zelt Gottes unter den Menschen“.

Den Altarraum dominiert eine schwebende, sechs Meter hohe Kupferstatue von Christus als König bei der Himmelfahrt. Der Altar selbst besteht aus einem schlichten Sandsteinblock aus dem Steinbruch St. Margarethen. Auch der Ambo und die auffällige Tabernakel-Stele sind aus diesem Material gefertigt. Die großen Fenster an den Seiten sind ein Entwurf der Architekten, hergestellt in den Werkstätten des Stiftes Schlierbach. Die linke Seite stellt die sieben Sakramente dar, die rechte Fensterfront führt die Kirchenbesucher symbolisch „vom Dunkel ins Licht“.

Location: 48°14'49.3"N 16°21'41.9"E

Grand Café am Alsergrund:
Ein Bastlerhit nach der Neuübernahme

Dieses Jahr war sicher für die gesamte Gastronomie schwierig, einigen in der Branche spielte es aber besonders übel mit: Erst zum Jahreswechsel hatte eine Gruppe um Gastronom Harald Knoll das ehemalige Café Theaterpause hinter der Volksoper übernommen. Noch im Februar kündigten sie auf Social Media die Eröffnung unter dem ursprünglichen Namen Grand Café am Alsergrund an, kurz darauf kam der Lockdown. Damit bleib zwar genügend Zeit, die alte, längst stillgelegte Kegelbahn im Keller von Grund auf zu erneuern, doch die für Anfang November geplante Eröffnung von Kegelbahn samt Kellerlounge fiel nun prompt dem zweiten Lockdown zum Opfer.  

Der Vorbesitzer des 1905 gegründeten Cafés hatte jahrzehntelang nichts investiert und betrieb das Lokal als eine Art verlängertes Wohnzimmer. Mit den Künstlern der benachbarten Volksoper verbrachte er die Nächte, die Öffnungszeiten des Lokals entsprachen mehr den persönlichen Vorlieben seines Besitzers als den Bedürfnissen potentieller Kundschaft. Das mag persönlich befriedigend gewesen sein, führte aber letztendlich zum Konkurs – und damit zur Neuübernahme im Dezember 2019.

Die fehlenden Investitionen der letzten Jahre erwiesen sich nun als Glücksfall, denn dadurch blieb das alte Interieur nahezu vollständig erhalten. Als sie das Lokal übernahmen, war bald klar: Hier soll so wenig wie möglich verändert werden. Seither beschäftigen sich die neuen Betreiber mit Materialkunde (Wo bekommt man mintgrüne Tischplatten oder lackierte Holzknöpfe für die Kleiderständer her?) und Grundsatzfragen (Kann man die Schinkenrolle von der Karte nehmen? Man kann nicht.).

Heute wirkt das Grand Café am Alsergrund noch immer wunderbar aus der Zeit gefallen, doch für Gäste kaum merklich finden allerorts Veränderungen statt. Ein altes Lokal zu erhalten (und zu bespielen) ist auch eine Gratwanderung zwischen Wünschenswertem und Machbaren: den Barbereich im Originalzustand zu erhalten, aber die Kühlanlage aus den 1950ern zu ersetzen ist dabei nur eine von vielen Herausforderungen. 

Location: 48°13'28.0"N 16°21'03.3"E

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Diese drei Beispiele zeugen von einer optimistischen Ära des Wirtschaftsaufschwungs, in der sich die Menschen nach Aufbruch, nach Fortschritt und einem sorgenfreien Leben sehnten. Sie repräsentieren jedoch nur einen kleinen Ausschnitt. “Mid Century Vienna” ist allgegenwärtig, die Bandbreite der Hinterlassenschaft aus der Periode beeindruckend. Ein im Herbst 2021 erscheinendes Buch begibt sich auf eine Spurensuche quer durch Wien. Aus diesem Anlass soll die Wiener Bevölkerung im November im Rahmen einer Crowdsourcing Kampagne dazu aufgerufen werden, Fundorte mit dem Hashtag #MidCenturyVienna auf Facebook oder Instagram zu posten. Ausgewählte Fundorte werden im kommenden Frühjahr nachfotografiert und mit Nennung der Finder*innen ins Buch aufgenommen.

Tom Koch, ist Wiener Grafiker und Schrift-Afi­ci­o­na­do. Der Autor des Buches „Ghostletters Vienna“ und Initiator der Sign Week Vienna publiziert auf typetraveldiary.com typografische Fundstücke aus aller Welt. Zuletzt erschienen seine Bücher „Mid-Century Vienna“ (Falter Verlag, 2021) und „finding Forte“ (Slanted Publishers, 2022).

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Kommentare

Redaktion

Liebe Frau Stiegler - vielen Dank für Ihre tolle Rückmeldung! Wir freuen uns sehr darüber! Beste Grüße, Peter Stuiber (Wien Museum Magazin)

Gabi Stiegler

Wunderbares Magazin, das mich total erfreut! Vielen Dank.

Redaktion

Lieber Herr Moidl, danke für Ihr positives Feedback - und auch für das Beispiel, das Sie genannt haben! Wir werden es sehr gerne an Tom Koch weiterleiten, der es vielleicht gut für sein Projekt brauchen kann! Beste Grüße, Peter Stuiber (Wien Museum Magazin)

Bernd Moidl

Ich habe diesen Artikel mit großem Interesse gelesen. Ich bedaure auch die oft geringe Wertschätzung von Architektur und Design dieser Ära. Ein Beispiel dafür ist das Hotel Prinz Eugen am Wiedner Gürtel 16, welches zB noch über eine komplette Bar aus dieser verfügt und das nach EigentümerInnenwechsel nunmehr leer steht. Mit dieser Leerstehung stellt sich natürlich die Frage nach der Zukunft des Gebäudes. Denkmalschutz besteht keiner, die benachbarte Schutzzone ist darauf auch nicht anwendbar.

Redaktion

Liebe Frau Gratzer, vielen Dank für das Feedback! Wir werden hier im Magazin sicher im nächsten Jahr über den Projektverlauf berichten! Beste Grüße, Peter Stuiber (Wien Museum Magazin)

Redaktion

Liebe Frau Gratzer, vielen Dank für das Feedback! Wir werden hier im Magazin sicher im nächsten Jahr über den Projektverlauf berichten! Beste Grüße, Peter Stuiber (Wien Museum Magazin)

Katinka Gratzer

Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Beitrag inklusive der vielen Ansichten! Was für eine bunte Historie, die mir hier nahegebracht wurde!