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Mordfall im jüdischen Ghetto
„Daß kein Jude fast nirgends sicher sei“
Vor kurzem konnte das Wien Museum ein illustriertes Flugblatt aus dem Jahr 1665 erwerben. Es handelt sich um einen äußerst seltenen Druck, außer dem erworbenen Exemplar ist nur noch ein weiteres in der Universitätsbibliothek München bekannt. Das Flugblatt eines anonymen Autors schildert in Wort und Bild einen Mordfall, der sich im Mai des Jahres 1665 in Wien ereignete. Die Umstände der Tat, vor allem aber die Berichterstattung über sie – zum Beispiel in Flugblättern wie diesem – machten sie aber zu einem Akt, dessen Brisanz weit über einen historischen Kriminalfall hinausgeht. Nicht zuletzt durch seine mediale Vermittlung steht der Mord am Beginn einer Kette von Ereignissen, an deren Ende Kaiser Leopold I. sich veranlasst sah, die Folgen durch ein Dekret zu stoppen. Schließlich bildete die durch diesen Fall ausgelöste öffentliche Schuldzuweisung einen Baustein des Diskurses im Hintergrund der Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus Wien 1670/71.
Im Einzelnen: Das Flugblatt berichtet, dass „vor 14 Tagen“, am 22. Mai 1665, in der Judenstadt, das heißt im abgegrenzten Wohnbereich der Wiener jüdischen Bevölkerung im Unteren Werd – heute Teil des 2. Bezirks –, eine Leiche gefunden wurde. „In der Pfitz“, also in einer Pfütze, eigentlich einem Tümpel, der als Pferdetränke genutzt wurde, habe man einen mit einem 50 Pfund schweren Stein beschwerten Sack entdeckt, der Teile einer weiblichen Leiche enthielt. Wie heutige Sensationsberichterstattung nicht um grausige Details verlegen, schildert der Text die fachgerechte Zerteilung des Körpers, „das(s) sich viel vornehme Barbierer und Bader darüber verwundert“. Was zunächst fehlte, waren Kopf und Hände. „Gestern“ – das heißt am 4. Juni 1665 – habe man nun auch diese gefunden und den Kopf zur Identifizierung in einem Glaskasten öffentlich „auf den Schranen“, also bei der Schranne, dem Gerichtsgebäude am Hohen Markt, ausgestellt.
Eindringlich erzählt der Text nun vom Auftritt einer Frau, die, ein kleines Kind auf dem Arm, sich zunächst direkt an den ausgestellten Kopf wendet: „O liebe Andel, freylich komstu nicht mehr nach Haus, bistu die arme Märtyrin, die so erbärmlich getötet worden …“. Es handle sich bei dem Mordopfer um ihre Nachbarin und die Mutter des Kindes, das sie auf dem Arm trage. Diese sei von ihrem Mann vor drei Wochen beauftragten worden, einen nicht näher benannten Gegenstand „bey den Juden zu versetzten“. Seither sei sie verschollen.
Im letzten Teil schildert das Flugblatt zunächst die beginnenden Nachforschungen des Gerichts: Die Frau ist glaubhaft, sie weiß von einer Zahnlücke der Toten, und auch der Goldschmied, in dessen Haus Zeugin und Opfer wohnten, bestätigt ihre Angaben. „Darauf hat man ihren Mann auch geholt, der hat gesagt, es ist mein Weib, ich hab’s nicht umbracht – man hat ihn ins Ambtshaus geführet und verhöret, …“. Hier nimmt der Text eine abrupte Wendung, um eine Beschuldigung auszusprechen, indem er ein Gerücht wiedergibt: „… da ist die gantze Stadt voll“ – soll heißen: das erzählt man sich in der ganzen Stadt, das weiß jeder – „…daß er den Juden vorher das Weib verkauffft und ihnen die Stund benennet, wenn sie kommen würde.“ Kurz wird nun noch von den Folgen des Gerüchts, das man hier soeben zu verbreiteten hilft, berichtet: „Darauf hat man die gantze Juden Stadt mit Soldaten belegt.“ Tatsächlich war ein großes Wachaufgebot nötig, um das jüdische Viertel vor Übergriffen zu schützen. Dass die Schuldigen identifiziert sind, scheint für den Autor des Flugblatts festzustehen, offen bleibt lediglich die Strafe: „Was nun ferner mit den Thätern, wird fürgenommen werden, wird die Zeit geben“, heißt es am Schluss.
Bevor wir nun dem weiteren Verlauf der Ereignisse folgen, einige Informationen zum Umfeld des Leichenfunds: Gegen Ende des Jahres 1624 wies Ferdinand II. den in Wien lebenden Juden und Jüdinnen einen eigenen Wohnbezirk jenseits des stadtnahen Donauarms (heute Donaukanal) zu. Er lag nach heutigen topografischen Begriffen zwischen Taborstraße, Kleiner Pfarrgasse, Tandelmarktgasse und Großer Sperlgasse. Hier entstand die „Judenstadt“, die in den folgenden Jahrzehnten auf mehr als 130 Häuser anwuchs und in der bis an die 3000 Personen lebten. Es entwickelte sich ein reichhaltiges Gemeindeleben, es gab zwei Synagogen, ein Studierhaus, zwei Gemeindehäuser, ein Spital und ein rituelles Tauchbad (Mikwe). Jüdische Kaufleute konnten weiter ihren Geschäften in Wien nachgehen, ihre Geschäftsgewölbe in der Stadt – die meisten davon im Bereich (nach heutigen Begriffen) Judengasse, Desider-Friedmann-Platz, Seitenstettengasse – durften sie behalten.
Mit dem kaiserlichen Privileg zur Übersiedlung wurde die jüdische Bevölkerung Wiens in ihrer Gesamtheit in Schutz und Schirm des Kaisers aufgenommen. Juden und Jüdinnen mussten nicht mehr den „gelben Ring“ als Zeichen auf ihrer Kleidung tragen und waren ab nun der Gerichtsbarkeit des Obersthofmarschalls und nicht mehr der Wiener Bürgerschaft unterstellt. Gleichzeitig musste die jüdische Gemeinde Kontributionen (ab 1629 in Form eines jährlichen „Toleranzgeldes“ von 10.000 Gulden) zahlen, darüber hinaus wurden ihr immer wieder große Geldsummen als Darlehen oder als Gegenleistung für die Bestätigung von Privilegien abverlangt. Die Forderungen wurden an die Gemeinde in ihrer Gesamtheit gestellt, es war Sache der Vorsteher, die Mittel in ihrer Gemeinde aufzubringen.
Die hier skizzierte Rechtsstellung, die der Kaiser als Wiener Landesherr der jüdischen Bevölkerung Wiens verliehen hatte, schuf gewissermaßen einen Schutzraum, in dem sich jüdisches Leben entfalten konnte, sie trug aber auch ein ständiges Konfliktpotential in sich: Die Wiener Bürgerschaft, insbesondere die Kaufleute, empfanden die jüdischen Kaufleute als privilegierte Konkurrenten. Die völlige Abhängigkeit vom jeweiligen Kaiser und Landesherrn bedeutete für die Bewohnerinnen und Bewohner der Judenstadt insbesondere in Zeiten eines Herrscherwechsels große Unsicherheit. Die Motive der kaiserlichen „Judenpolitik“ waren finanzpolitische Erwägungen, die sich rasch ändern konnten. Die hohen Abgabenlasten führen auch zu Konflikten innerhalb der jüdischen Gemeinde, zudem sammelten sich im Laufe der Jahrzehnte enorme Außenstände an. Die Bürgerschaft versuchte das ihrerseits zu nützen, indem sie anbot, die finanziellen Lasten der jüdischen Gemeinde selbst zu übernehmen.
Immer wieder waren es aufsehenerregende Kriminalfälle, bei denen das ökonomische Konfliktpotential vermischt mit religiösen und sozialpsychologischen Momenten zu hasserfüllten Attacken auf Juden und Jüdinnen eskalierte:
- Im Jahr 1642 sollte der vom Judentum zum Christentum übergetretene und seither mit einer selbstverfassten Broschüre als „Judenmissionär“ auftretende Ferdinand Franz Engelberger wegen eines Diebstahls in der kaiserlichen Schatzkammer gehängt werden. Unmittelbar vor der öffentlichen Vollziehung des Todesurteils widerrief er sein christliches Bekenntnis, zerbrach ein Kruzifix und ‚rühmte‘ sich einer Hostienschändung. Daraufhin kam es zu schweren Ausschreitungen, in deren Verlauf Juden erschlagen und jüdische Häuser geplündert wurden.
- Im Juni 1649 schoss ein Wächter auf einen Studenten, der die Judenstadt betreten wollte. Wieder kam es zu wilden Tumulten, mehr als ein Monat lang musste das jüdische Viertel von mehr als 300 Soldaten geschützt werden.
- Im Jahr 1651 erschoss ein Reiter in der Nähe des Rotenturmtors die Tochter eines Hofjuden. Im Zuge der Untersuchung wurden die Vorsteher der Judenstadt verhaftet. Da die Ermordete bei der Aufdeckung eines Steuerskandals mitgewirkt hatte, in den führende Mitglieder der jüdischen Gemeinde verwickelt waren, erscheinen die Verhaftungen zumindest nicht völlig willkürlich gewesen zu sein. Der Täter konnte trotz hoher ausgelobter Belohnung nie gefunden werden.
Der Kriminalfall, den unser Flugblatt schildert, reiht sich in diese Reihe ein: Wieder sind viele sehr schnell überzeugt, dass die Täter in der Judenstadt zu finden sind oder machen „die Juden“ in ihrer Gesamtheit für die Tat verantwortlich. Wieder müssen die jüdischen Wohnungen und Geschäfte durch ein großes Militäraufgebot geschützt werden.
Um den weiteren Verlauf dieses Falles zu rekonstruieren, können wir uns kaum mehr auf zeitgenössische Quellen stützen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die meisten Akten des alten Wiener Stadtgerichts vernichtet. Bücher zur Geschichte der Juden in Wien – etwa das Standardwerk von Hans Tietze – erwähnen den Fall der verstümmelten Frauenleiche fast immer und stützen sich dabei auf die 1665–1683 in Frankfurt erschienene Chronik „Diarum Europaeum“, die (in Folge 12 und 17) darüber berichtet, sowie auf die „Jüdischen Merckwürdigkeiten“ des Frankfurter protestantischen Geistlichen Johann Jacob Schudt aus dem Jahr 1711 (oder eben auf Texte, die sich wiederum auf diese Werke beziehen). Schudt schreibt (4. Teil, 5. Buch, 4. Kapitel), dass der Ehemann der Toten unter Folter „so viel Kirchen-Räube und Diebs-Stücke“ gestanden hätte, „daß zu dessen Todtes-Urteil kein Geständnuß mehr vonnöthen war“. Der Witwer wurde also wegen anderer Straftaten hingerichtet, den Mord an seiner Frau gestand er nicht – oder wollte das Wiener Stadtgericht in diesem speziellen Fall kein Geständnis, das „die Juden“ entlastet hätte?
Die Tätersuche in der Judenstadt blieb jedenfalls erfolglos, war aber weiterhin von einer höchst feindseligen Stimmung gegenüber deren Bewohnerinnen und Bewohner begleitet. Das belegt ein am 22. September 1665 erlassenes „Schutzpatent“ Kaiser Leopolds I.: Die „Judenschaft“ sei „wegen einer im nächstverwichenen Monath May ermordeten und bey der Judenstadt allhier in einem Graben gefundenen Weibspersohn in großen Argwohn, Gefahr und Verfolgung bey dem gemeinen Mann gerathen, deretwillen Wir zu Verhütung besorgten Rumors und Aufstands allen Gewaltthätigkeiten gegen ihnen, Juden, mit Worten oder Wercken, … bey Leib- und Lebensstrafe … verbieten“. Explizit geht der kaiserliche Befehl auf „über solchen Mord erdichtete unwahrhafte Lieder, Kupferstich, Pasquille (Streitschriften) und in offenen Druck ausgesprengte falsche Zeitungen“ ein, durch die zu „Haß, Zorn und Verbitterung wider sie, Juden, bewogen und angereitzt werde, also daß kein Jude fast nirgends sicher“ sei. Die in „Druck, Kupfer, Mahlery oder sonsten falsch ausgesprengte(n) Lieder, Zeitungen, Pasquille und darbay ungegründete Spargimenter (ausgestreute Gerüchte)“ seien zu „cassiren und vernichten“. Unser Flugblatt scheint eines der wenigen erhaltenen Exemplare aus einer Fülle von Publikationen zu sein, die damals erschienen und befehlsgemäß aus dem Verkehr gezogen wurden.
Fast vier Jahre später wandte sich Leopold I., der sich hier noch so entschieden schützend vor die Wiener Juden und Jüdinnen gestellt hatte, gegen sie. Inzwischen machte man Juden nicht nur für konkrete Taten verantwortlich: Ihre vom Kaiser geduldete Anwesenheit in Wien wurde – insbesondere von Kaiserin Margarita Teresa – mit Todesfällen, Erkrankungen und Fehlgeburten im Kaiserhaus in Verbindung gebracht. Mit Erlass vom 16. Juli 1669 gab Leopold I. den Bewohnern der Wiener Judenstadt 14 Tage Zeit, ihre Geschäfte abzuschließen und weitere zwei Wochen um das Erzherzogtum Österreich unter der Enns zu verlassen. Einige hundert wohlhabendere Juden, die vorerst noch bleiben durften, wurden im Sommer 1670 ausgewiesen. Die Synagoge wurde zur Pfarrkirche St. Leopold umgebaut, aus der Judenstadt wurde die Leopoldstadt. Viele der vertriebenen jüdischen Familien ließen sich in Böhmen und Mähren, in ungarischen Städten, in Berlin oder Krakau nieder. Das Geschäft, das sich die Wiener Bürgerschaft von der Vertreibung der Juden erhofft hatte, blieb übrigens aus. 1673 erstellte die Hofkammer ein Gutachten, dass sich die wirtschaftliche Situation der Stadt eindeutig verschlechtert habe.
Literatur:
Sabine Hödl: Die Juden, in: Wien. Geschichte einer Stadt, hgg. v. Peter Csendes und Ferdinand Opll, Bd. 2 Die frühneuzeitliche Residenz, hgg. v. Karl Vocelka und Anita Traninger, Wien/Köln/Weimar 2003, S. 282–310.
David Kaufmann: Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich, ihre Vorgeschichte (1625–1670) und ihre Opfer, Wien 1899, S. 36–38, 46–50, 89–90.
A. F. Pribam (Hg.): Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, 1. Abteilung, allgemeiner Teil 1526–1847 (1849), Wien/Leipzig 1918, S. 192–193.
Johann Jacob Schudt: Jüdischer Merckwürdigkeiten Vierdter Theil. Als eine weitere Continuation (…), Frankfurt a. M. 1717, S. 236–237.
Barbara Staudinger: Die Zeit der Landjuden und der Wiener Judenstadt 1496–1670/71, in: Geschichte der Juden in Österreich (=Österreichische Geschichte, hgg. v. Herwig Wolfram, Ergänzungsband), Wien 2006, S. 229–337.
Hans Tietze: Die Juden Wiens, Leipzig 1933 (Neuausgabe Wien 1987), S. 61–63, 68.
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