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Andreas Nierhaus, 7.10.2019

Otto Wagners Tagebuch

Der private Jahrhundertarchitekt

Als Dokument war das Tagebuch Otto Wagners aus den Jahren 1915 bis 1918 bislang nur wenigen zugänglich. Nun wird es erstmals als Buch publiziert – und wirft ein neues Licht auf eine Zentralfigur der Wiener Moderne in all ihrer Widersprüchlichkeit.

Das Tagebuch Otto Wagners zählte lange Zeit hindurch zu den großen Unbekannten in der Biographie des berühmten Wiener Architekten, dessen künstlerischer Nachlass zum Großteil im Wien Museum verwahrt wird. Die Existenz  des Tagebuches war zwar bekannt, und einige Stellen daraus wurden immer wieder zitiert.

Der gesamte Umfang und Inhalt war bis vor wenigen Jahren allerdings nur wenigen Eingeweihten zugänglich. Als mir der Wagner-Fachmann Otto Antonia Graf die von ihm gesammelten wissenschaftlichen Materialien im Zuge der Vorbereitung der großen Otto Wagner-Ausstellung im Wien Museum 2018 überließ, befand sich darunter auch eine vollständige Fotokopie des Originalmanuskripts. Dieses ist nach wie vor in Familienbesitz und derzeit nicht zugänglich, wodurch die Fotokopie umso wertvoller wurde.

Die Einträge umfassen den Zeitraum vom Herbst 1915, als Wagners Frau Louise unheilbar an Krebs erkrankte, bis zum Tod des Architekten im Frühjahr 1918. Es ist damit zugleich ein Tagebuch des Ersten Weltkriegs, den Wagner jedoch nur am Rande reflektiert. Im Mittelpunkt steht die Klage über den Verlust der geliebten Frau, die im Oktober 1915 ihrem Leiden erlag.

Wagner beginnt daraufhin, in Briefform mit ihr zu kommunizieren,  berichtet  ihr von Tagesneuigkeiten, Familiengeschichten, von seinem arbeitsreichen und zugleich einsamen Alltag als alternder Großarchitekt, der im Krieg nicht zum Bauen kommt und trotzdem beständig neue Pläne schmiedet. Wagners Misanthropie kommt ebenso zum Ausdruck wie sein Antisemitismus, über den seit jeher Gerüchte kursierten, der hier aber zum ersten Mal schwarz auf weiß dokumentiert ist. 

Einblicke in eine komplexe Persönlichkeit

Das Tagebuch gewährt tiefe Einblicke in die komplexe Persönlichkeit eines von seinem Genie überzeugten, aber von den Zeitgenossen unverstandenen Künstlers. Zugleich ist der Niedergang des Bürgertums während des Ersten Weltkriegs zum Greifen nah: Geldsorgen stehen auf der Tagesordnung, die aufwändige Lebensführung muss eingeschränkt werden, und während Wagner vom Kauf eines Autos fantasiert, das er natürlich selbst entwirft, gibt es aufgrund der Nahrungsmittelknappheit kaum mehr zu essen. 

Vor der Einsamkeit in seiner kostbar eingerichteten Wohnung, in der ihn alles an seine geliebte Frau erinnert, flüchtet Wagner in die Welt des Theaters, der Revuen, Operetten und des Films: Der Architekt, der sich stets für alles „Moderne“ interessiert, ist ein leidenschaftlicher Kinobesucher. Und im Sommer besucht er mit seinen Töchtern, die sich um den körperlich zunehmend gebrechlichen Vater kümmern, das Gänsehäufel.

Kontakte zu Kollegen gibt es offenbar nur wenige, im Kaffeehaus trifft er Josef Hoffmann, und als Klimt Anfang 1918 stirbt, ist Wagner tief getroffen. Zwei Monate später geht auch Wagners Leben zu Ende, bis zuletzt hat der Architekt unermüdlich an Plänen für ein neues Miethaus gearbeitet.

Bereits Wagners Tochter Christine versuchte in den 1920er-Jahren, das Manuskript zu veröffentlichen – allerdings in einer Fassung, in der alle kompromittierenden Stellen getilgt waren.

Die Publikation scheiterte damals unter anderem am Umfang des Manuskripts, das auch für unsere Edition gekürzt werden musste: die teils wortgleichen Wiederholungen, mit denen Wagner über die Jahre hinweg den Tod seiner Frau beklagte, hätten die Lektüre des Textes erheblich erschwert. Substanzielle Inhalte blieben von den Kürzungen unberührt. Der Text wird durch Kommentare in Fußnotenform erschlossen und durch einen Essay der Herausgeber ergänzt.

Das Tagebuch Otto Wagners wirft neues Licht auf eine der Zentralfiguren der Wiener Moderne und zeigt die Persönlichkeit des großen Architekten ungeschönt und in all ihrer Widersprüchlichkeit. Es ist damit auch ein – wenn auch sperriger – Schlüssel zum Verständnis seines künstlerischen Schaffens, mit dem er eine Basis für die Architektur des 20. Jahrhunderts legte.

Das Tagebuch Otto Wagners ist unter dem Titel „Meine angebetete Louise!“  im Residenz Verlag erschienen. Die Publikation wird von den beiden Herausgebern Andreas Nierhaus und Alfred Pfoser am 26. November um 18.30 Uhr im Otto Wagner Hofpavillon Hietzing präsentiert.

Andreas Nierhaus, Kunsthistoriker und Kurator für Architektur und Skulptur im Wien Museum. Forschungsschwerpunkte: Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Medien der Architektur. Ausstellungen und Publikationen u.a. über Otto Wagner, die Wiener Ringstraße, die Wiener Werkbundsiedlung.

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