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Petra Sturm und Peter Stuiber, 22.4.2023

Rennrad-Pionierin Cenzi Flendrovsky

„Je sportlicher die Frau, desto größer der Widerstand“

Der Fahrradboom um 1900 hatte auch einen emanzipatorischen Aspekt: Viele Frauen nutzten das Bicycle, um sich zumindest einen gewissen Freiraum zu „erfahren“. Unter ihnen Cenzi Flendrovsky (1872 – 1900) aus Favoriten, eine der erste namentlich bekannten österreichischen Rennfahrerinnen. Ihr kurzes, intensives Leben hat die Historikerin Petra Sturm – gemeinsam mit dem Verleger und Illustrator Jorghi Poll – in einer Graphic Novel eingefangen. Im Interview erzählt sie von der herausfordernden Recherche und der vitalen Wiener Fahrradszene ab den 1890er Jahren.   

Peter Stuiber

Wann bist Du auf Cenzi Flendrovsky gestoßen? Wieviel ließ sich von ihrer Biografie rekonstruieren?

Petra Sturm

Auf Cenzi bin ich vor über zehn Jahren zufällig im Zeitschriftensaal der österreichischen Nationalbibliothek gestoßen, beim Blättern durch historische Radzeitschriften aus den 1890er Jahren. Ihr Foto ist mir sofort aufgefallen – sie war die erste Frau in einer Rennfahrerpose, die ich gesehen habe, auf einem Rennrad sitzend, mit Bloomers statt eines Rocks. Ich habe im Lauf der Zeit immer wieder Puzzlestücke zu ihrer Biografie zusammengetragen. An Grenzen bin ich relativ schnell gestoßen. Die weibliche Sportgeschichte war bzw. ist in Österreich wenig bis gar nicht aufgearbeitet. International sah die Ausgangslage ähnlich aus. Bei Sparten wie der Radsportgeschichte ist grundsätzlich viel Grundlagenforschung zu leisten. Die Lücke hat mich angespornt, als Forscherin – ich mach das nur nebenberuflich und aus Leidenschaft – meinen Schwerpunkt auf Frauen und Radfahren zu setzen. Es zeigte sich auch schnell, dass viel Bewusstseinsarbeit nötig ist, das ließ sich für mich in journalistischen und essayistischen Texten leichter umsetzen. Cenzi war keine Frau aus großbürgerlichen Kreisen, deshalb gibt es zu ihr nur wenige erhaltene Quellen. Nachlass, Tagebücher oder ähnliches sind nicht erhalten. Was es vorrangig gibt, sind Zeitungsquellen. Die zunehmende Digitalisierung von Zeitschriften und von Matriken hat die Suche nach ihren Lebensdaten in der Zwischenzeit erleichtert. Die „runde“ Biografie kann es aber bei Cenzi per se nicht geben – deshalb musste ich versuchen, die Leerstellen anders zu füllen. Und es ist wichtig, ihre Geschichte und die ihrer Kolleginnen zu kontextualisieren.

Peter Stuiber

Gab es Momente in dem Rechercheprozess, die Dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

Petra Sturm

Dass Rennradpionierinnen bisher keine akademische Aufmerksamkeit geschenkt und ihre Biografien nicht aufgearbeitet wurden, hat mich wirklich extrem erstaunt. Mittlerweile hat sich da einiges getan. Es gibt internationale Grundlagenwerke, z. B. „Women on the Move“ (2018) von Roger Gilles, einem Literaturwissenschaftler, der die Geschichte der amerikanischen Rennfahrerinnen der Ära aufgearbeitet hat. Auch bei ihm sind die Quellen übrigens vorrangig Zeitschriften. Und es gibt ein internationales Forschungs-Netzwerk, zu dem ich auch gehöre. Dann sicherlich der Moment, als ich die Artikel über Cenzis frühen dramatischen Unfalltod gefunden habe. Bis dahin wusste ich nicht, dass sie so jung und in der Ausübung ihres Sports gestorben war. Dass ich an der gleichen Stelle in Wien, wo Cenzi ihren Unfall hatte, selbst schon einmal mit dem Rad gestürzt bin, mutet im Nachhinein fast gespenstisch an. Die Gothic-Elemente im Buch und meine theoretischen Hauntology-Zugänge zum Archivmaterial erklären sich daraus. Ein anderer frappierender Punkt war für mich von Anbeginn folgender: Die männlichen Diskurse über den Frauenradsport könnten zum Teil aus der Gegenwart stammen. Das zeigt, wie beharrlich sich solche Diskurse über Jahrzehnte halten können, auch wenn ihre Wurzeln aus einem Frauenbild des 19. Jahrhunderts stammen. Dass es umgekehrt auch zunehmend Interesse an alternativen und feministischen Vergangenheitsentwürfen gibt, beweist der Fakt, dass plötzlich sogar kurz zur Diskussion stand, das Dusika-Stadion nach Cenzi zu benennen. Ich hatte damals erste Artikel über sie veröffentlicht, die Proponentinnen sind aber nie persönlich an mich herangetreten.

Peter Stuiber

Wie kann man sich die Rolle der Frauen in den zahlreichen Fahrradclubs dieser Zeit vorstellen? Wie viele Frauen wie Flendrovsky gab es damals in Wien in etwa?

Petra Sturm

1896/97, als Cenzi einem Fahrradklub beitrat, war der Fahrradboom in Wien auf einem Höhepunkt. An die 15.000 Radfahrende waren in fast 300 Vereinen registriert. Von nur rund 20 Vereinen 1890 stieg die Zahl bis 1900 auf über 300 an. Seit 1894 gab es auch in Wien einen Club explizit für Frauen. Der Socialising-Faktor, wie man das heute nennen würde, war in den Fahrradclubs damals sehr hoch. Und Frauen waren auch aus diesem Grund in vielen Clubs willkommen. Es gab Radkränzchen, Bälle, Blumencorsos, diverse Veranstaltungen rund um die verbindende Freizeitausübung. In den gemischten Clubs wurde Frauen auch immer wieder unterstellt, den Radsport hauptsächlich zu Zwecken der Partnersuche auszuüben. Manchen war es aber zu wenig, Tandemaufputz oder Radreigenpartnerin zu sein. Der Typus der „Neuen Frau“, der in den gesellschaftspolitischen Aufbruchsjahren der 1890er Jahre bereits propagiert wurde, manifestierte sich beim Freiheitsgefährt Fahrrad besonders augenscheinlich und öffentlichkeitswirksam. Die genaue Zahl der Frauen, die an Rennen teilnahm, kann ich nicht beziffern, aber es war eine überschaubare Gruppe und nicht die Norm. Fix ist: sobald Frauenrennen organisiert wurden, gingen Frauen an den Start.

Peter Stuiber

Kann man aus den spärlichen Quellen schließen, wie stark die Unterstützung oder der Widerstand ihres Umfelds war? 

Petra Sturm

Allgemeiner Widerstand oder auch Unterstützung lässt aus den Fachzeitschriften gut herauslesen, der Diskurs gegen Damenrennen wurde in Zeitschriften wie Allgemeine Sportzeitung, Radfahr-Sport bis zu Frauenradzeitschriften wie der Draisena sehr vehement geführt. Rennen galten als unweiblich und unsportlich und entsprachen nicht den herrschenden gesellschaftlichen Konventionen. Die Vergleichsbiografien ausländischer Rennradpionierinnen zeigen aber auch, dass gerade viele der Rennfahrerinnen, worauf auch einige Indizien bei Cenzi hinweisen, ein fahrradaffines oder sportliches Umfeld besaßen, Väter, Onkel, Brüder, Cousins nahmen sie in Clubs mit oder waren im Fahrradbereich als Händler, Mechaniker u.ä. tätig…  

Peter Stuiber

Wie kann man sich das erklären, dass es zuerst schon Rennen gab, der Widerstand dagegen dann aber doch so groß wurde, dass sie keine Rennen mehr fahren durften? Wieso zuerst der Freiraum, dann aber das Verbot?

Petra Sturm

Es gab auch damals aufgeschlossene Männer und progressive Vereine, auch wenn sie sicher nicht in der Mehrzahl waren! Das Konzept der Kameradschaft unter Radfahrenden spielte auch eine Rolle. Speziell in den radbegeisterten Clubs war die Meinung weit verbreitet, dass der Radsport – unter dieser Bezeichnung war damals Fahrradfahren an sich gemeint – für Frauen durchaus gesund und sinnstiftend sei und im gemäßigten Rahmen auch weiblich. Nur Rennen und Rekordfahrten, das ging dann doch vielen zu weit. Man kann sagen: je sportlicher eine Frau am Rad unterwegs war, desto stärker wurde sie angefeindet. Freiraum war da, weil der Radrennsport an sich in den 1890ern-Jahren noch in seiner Formierungs- bzw. seiner Frühphase war. Da wurde allgemein viel experimentiert mit Längen, Distanzen, Dauer, bis sich die Disziplinen und Klassiker herausgebildet haben, wie wir sie heute noch kennen. Radrennen waren in den Radboomjahren immer auch Spektakel. Frauenrennen hatten speziellen Schauwert und Sensationscharakter, das lag zum Teil an der Kleidung, die die Frauen speziell zum Radfahren trugen. Organisatoren von Radrennen, insbesondere solch publikumswirksamen wie jene im Wiener Winter-Velodrom 1897, waren sich dessen bewusst. Je mehr sich der Radsport als ernsthafte Angelegenheit zu etablieren versuchte, sich eigene Dachverbände herausbildeten, desto fragwürdiger erschien vielen Funktionären und männlichen Rennfahrern die weibliche Beteiligung. Frauenrennen galten als nicht sportlich genug. Spektakel versus Sport, sozusagen. Ab 1900 fand diese Haltung in Form von Rennverboten für Frauen Niederschlag in den Statuten der nationalen und internationalen Radsportverbände.

Peter Stuiber

Wie kam es zur Idee einer Graphic Novel über Flendrovsky, die ja tragischerweise im Alter von 28 Jahren an den Folgen eines Fahrrad-Unfalls gestorben ist?

Petra Sturm

Dass ich die Geschichte von Cenzi mit anderen Mitteln erzählen werden müsste, war für mich schnell klar. Ich finde Artistic-Research-Zugänge für lebhafte Vermittlung von Geschichte sehr naheliegend und habe außerdem mehrere Jahre als Konzeptionistin in einer Werbefirma gearbeitet, da ging es auch sehr viel um visuelle Strategien und Storytelling. Graphic Novels sind mittlerweile als populärwissenschaftliches Format etabliert und auch wenn das Buch keine herkömmliche Graphic Novel ist, es fehlen ja z.B. Sprechblasen und andere comichafte Elemente, wird es als solche gelesen und verstanden. Das war wichtig, auch um es klar von einem Kinderbuch abzugrenzen. Die Edition Atelier war von vorneherein meinem Konzept gegenüber sehr aufgeschlossen. Die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Jorghi Poll, der die Bicycle Novel so kunstvoll illustriert hat, und mir war sehr eng. Wir wollten ja beide die bestmögliche Einheit von Text und Bild, ein stimmiges Illu-Ich für Cenzi sowie Raum für kreative Spielereien. Ich habe vorab den Großteil der Szenen festgelegt, an denen die Geschichte erzählt und illustriert werden soll, und habe historisches Fotomaterial als Vorlage für getreue Nachbildungen gesammelt. Ich denke, gemeinsam haben wir wirklich ein in vielerlei Hinsicht dichtes und vielschichtiges Format geschaffen, das den Lesenden ermöglicht, in Cenzis Welt einzutauchen, und haben zugleich – hoffentlich – nicht nur an der Oberfläche des Themas gekratzt!

Die Bicycle Novel „Cenzi Flendrovsky“ von Petra Sturm (Illustrationen: Jorghi Poll) ist bei Edition Atelier erschienen und kostet 20 Euro (48 Seiten).

Petra Sturm ist Autorin, Journalistin und Radhistorikerin und lebt in Wien. Seit über 20 Jahren legt sie den Großteil ihrer Strecken mit ihrem Lieblingsgefährt, dem Fahrrad, zurück und schreibt für nationale und internationale Medien über Radkultur in allen Facetten. Sie forscht zu Frauen und Radfahren. Wenn sie nicht gerade den Spuren vergessener Rennradpionierinnen nachgeht, ist sie Schluss- und Bildredakteurin bei einer Wiener Wochenzeitung. Davor war sie u. a. Texterin und Konzeptionistin in einer Werbefirma.

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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Kommentare

Helmut Rauscher

Sehr interessant. War mir vollkommen unbekannt.