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Andrea Ruscher, 7.12.2023

Rudolphina Menzel, Pionierin der Hundeforschung

„Dein Hund ist das Zentrum der Welt“

Die Anthropologin Susan Martha Kahn hat sich auf intensive Quellen-Recherche begeben, um das bewegte und zutiefst ambivalente Leben von Rudolphina Menzel zu beleuchten: 1891 in Wien geboren, fand Menzel früh zu ihrer Leidenschaft der systematischen Studie von Hunden. Federführend trainierte sie Hunde an verschiedensten Fronten – für das deutsche Militär, genauso wie für den Krieg in Palästina.

Eine kleine Frau, jedoch bestimmt in ihrem Auftreten, ruft Hunden Kommandos auf Hebräisch zu. Eine alltägliche Szene in Kleinmünchen bei Linz, wo Rudolphina Menzel (1891–1973) in den 1920er und 1930er Jahren mit ihrem Mann und bis zu 60 perfekt abgerichteten Rasse-Boxern lebt. Sie schreibt grundlegende Werke der Zucht- und Kognitionsforschung, sie reist, berät und lehrt. Bis sie schließlich als Jüdin vor Krieg und Verfolgung fliehen muss.

Das sind die Eckdaten des Lebens von Rudolphina Menzel, einer Pionierin der Hundeforschung. Bei genauerem Hinsehen offenbart ihre Biografie Widersprüche, welche die zerrissene politische und ideologische Lage des 20. Jahrhunderts spiegeln. Die Anthropologin Susan Martha Kahn hat ganz genau hingesehen und anhand eingehender Quellenstudien Rudolphina Menzels Leben und Schaffen aufgearbeitet. In ihrem 2022 auf Englisch erschienenem Buch „Canine Pioneer: The extraordinary life of Rudolphina Menzel“ ist das nachzulesen.

Junge Jahre

1891 wurde Rudolphina Menzel, damals noch als Rudolphina Waltuch, in eine gutbürgerliche Wiener Familie geboren. Sie war das jüngste von vier Kindern und beschrieb ihre frühe Kindheit als ausgesprochen unbeschwert. Das blieb jedoch nicht lange so. Schon im Alter von vier Jahren reihten sich traumatische Ereignisse aneinander: Zuerst verstarb ihre Mutter plötzlich. Der Vater heiratete bald wieder, gegenüber ihrer Stiefmutter konnte sich Rudolphina allerdings nicht erwärmen. Das Kindermädchen, das ihr viel näherstand, musste das Haus jedoch auch bald verlassen. Dazu kamen überraschende finanzielle Probleme des Vaters – und schon überschattete ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit die Kindheit des Mädchens.  

Früh stieß die junge Rudolphina auf die Idee des Zionismus. Sie bekam eine von Theodor Herzl herausgegebene Zeitschrift in die Hände und vergrub sich geradezu in der Materie: Die Idee, dass alle Jüdinnen und Juden in einem Land leben würden, das ihre wahre Heimat wäre, faszinierte sie. Kahn zeigt in ihrem Buch, wie die von Unsicherheit geschüttelte Jugendliche Hoffnung und Mut in der zionistischen Vision fand: Das eindringliche Gefühl, eine idealisierte Vergangenheit aufleben zu lassen, schlug tiefe Wurzeln in ihr. Rudolphina wurde zur brennenden Zionistin.

Sie begann in Wien Chemie zu studieren und trat einer zionistischen Studierendenbewegung bei. Dort traf sie auch ihren künftigen Ehemann: den Medizinstudenten Rudolph Menzel. Die beiden spazierten gemeinsam durch den Wienerwald und diskutierten hitzig über ihre ideologischen Einstellungen. Bald heirateten sie und zogen nach Linz, wo Rudolph eine Stelle als Lungenspezialist angeboten wurde. Der Erste Weltkrieg war gerade vorbei und Rudolphina konnte sich einen langersehnten Wunsch erfüllen: ein eigener Hund! Mowgli, ein Boxer-Welpe, wurde zu ihrem Kumpanen. So weit, so kleinbürgerlich. Doch Rudolphina war ehrgeizig, wollte sich nicht mit ein paar Tricks und Streicheleinheiten für ihren Hund begnügen. Sie begann, ihn systematisch zu trainieren und mit ihm an Hundeshows teilzunehmen: der Anfang einer steilen Karriere.

Von der Hobbytrainerin zur gefragten Expertin

1922 zog das Ehepaar Menzel in eine zweistöckige Villa in Kleinmünchen, das sich ein wenig außerhalb von Linz befindet und ausreichend Platz für ein ganzes Rudel von Hunden bot – in Spitzenzeiten waren das bis zu 60 Hunde gleichzeitig. Rudolphina setzte sich intensiv mit ihnen auseinander. Ihr naturwissenschaftlicher Hintergrund war dabei eine enorme Hilfe, das Erstellen und Durchführen von Experimenten war ihr vertraut. Sie fokussierte sich auf die primäre Entwicklungsphase der Tiere, also vom Welpenalter bis zum zehnten Monat. Sie war entschlossen, genau zu dokumentieren, welche Faktoren die Entwicklung der Hunde beeinflussen und wie man sich das zu Nutzen machen konnte. Kahn zitiert in ihrem Buch ausführlich aus Rudolphinas Studien und gibt dadurch Einblicke in den damaligen Stand der Hundeforschung, aber auch in die unglaubliche Akribie, die Rudolphina bei ihrer Arbeit an den Tag legte.

Dem Zeitgeist der 1920er und 1930er Jahre entsprechend wollte Rudolphina ihre Hunde aber nicht nur für hübsche Kunststücke abrichten. Sie war überzeugt, dass Hunde entscheidende Dienste für eine moderne, urbane Gesellschaft leisten könnten. Machthaber in Europa teilten diese Ansicht vor allem, weil ihnen Tierstaffeln schon während des Ersten Weltkriegs und kolonialer Besatzungen äußerst dienlich waren. So dauerte es nicht lange, bis Rudolphina europaweit Vorträge hielt und zu Kongressen eingeladen wurde. Ihre „Linzer Boxer“ wurden bekannt als besonders gehorsame und starke Hunde. Polizei- und Militäreinheiten gaben sich in Kleinmünchen ein Stelldichein. Selbst die Deutsche Reichswehr lud sie nach Berlin ein und bat um ihre Beratung. Dass sie Jüdin war, schien für die nationalsozialistischen Gastgeber zu diesem Zeitpunkt kein Ausschlusskriterium gewesen zu sein, ihre Expertise wog mehr.

Kahn analysiert die Memoiren der Menzels, um zu zeigen, dass sie im Angesicht des aufstrebenden Nationalsozialismus nicht naiv waren. Dennoch berichtet Rudolphina erst sehr viel später von Gewissenskonflikten darüber, wie ihre Hunde und ihre Forschung von den Nationalsozialisten eingesetzt wurden. Als sie schon längst nicht mehr in Europa lebte, plagte sie der Gedanke, dass Nachfahren ihres geliebten Mowgli für die Verfolgung von Jüdinnen und Juden eingesetzt wurden. In dieser Zeit war sie aber bereits in Palästina und verfolgte mit ihrer Arbeit ein neues Ziel.

Der Weg nach Palästina

Seit Beginn ihrer Forschungen war Rudolphina bemüht, ihre Hingabe zu Hunden auch mit ihren zionistischen Überzeugungen zu verbinden. Aufgeregt sprach sie von dem „jungen kolonialen Land“, das Jüdinnen und Juden in Palästina zu gründen versuchten, und wollte dessen „Sicherheit“ durch Hundestaffeln unterstützen. Kahn argumentiert, dass Rudolphina dabei keine Gewalt gegen Araber:innen im Sinn hatte, sondern dass sie von einem Nebeneinander der Bevölkerungsgruppen träumte. Zeitgenössisch gab es kaum Raum für moralische Zweifel an Ansiedelung und Landnahme im Nahen Osten.

1934 kam Rudolphina erstmals in Palästina, am Hafen von Haifa an. Sie plante eine Feldstudie zu Hunden vor Ort und wollte Zionist:innen in der Hundehaltung ausbilden. Damals war ein Großteil des Landes noch von arabischen Muslim:innen und Christ:innen besiedelt. Allerdings kamen immer mehr Jüdinnen und Juden an, jeden Monat waren es tausende Menschen, die vor dem Horror des Antisemitismus in Europa flohen und hier Zuflucht suchten. Rudolphina selbst kehrte nach Abschluss ihrer Projekte noch einmal nach Österreich zurück.

Dort überschlugen sich die Ereignisse und waren in ihrer Widersprüchlichkeit kaum zu überbieten: 1938 ließen hochrangige Nazis noch einen Pokal für Rudolphina gravieren, um ihre Arbeit für den örtlichen Boxer-Verein zu ehren. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im selben Jahr kamen die Menzels aber schließlich ins Visier der unerbittlichen Verfolgung von Jüdinnen und Juden: Rudolphinas Ehemann wurde vorübergehend festgenommen, ihre Reisepässe wurden konfisziert und ihr Haus durchsucht. Die Hundezucht musste geschlossen werden, die Menzels mussten sich von nahezu all ihrem Hab und Gut trennen und ihr jahrelang gepflegtes Hunderudel aufgeben. Was irgendwie möglich war, ließen sie nach Palästina verschiffen – den Ort, an dem sie ihre neue Heimat finden wollten. Mit gefälschten Dokumenten machte sich das Paar auf die unsichere Reise.

Wüstenhunde im Militäreinsatz

In Palästina angekommen, zogen die Menzels in ein Haus in Kiryat Motzkin, in der Nähe von Haifa, wo sie die nächsten 30 Jahre verbringen würden. Rudolphina verschwendete keine Zeit und begann sofort, ihre Hundestudien vor Ort weiterzuführen: Sie war entschlossen, die halbwilden, einheimischen Hunde zu hocheffizienten Hundestaffeln abzurichten. Die Tiere, auf die sie in Palästina stieß, waren von äußerst zäher Natur, sie waren an das karge Wüstenklima angepasst und daher besonders spannend für Rudolphinas Forschung. Sie würden sich perfekt als Wach- und Kampfhunde eigenen – doch musste Rudolphina es erst mal schaffen, sie auszuwählen und zu domestizieren. Bis zum Ende des Jahres 1939 hatte sie 235 Temperament-Tests durchgeführt und eine dementsprechend große Gruppe an Hunden zum Training zusammengestellt. Die nächsten Schritte waren systematische Zucht und Training: Sie bildete die Hunde zum Aufspüren von Minen aus, zum Verteidigen von eroberten Gebieten, und sogar für Kamikaze-Angriffe. Dafür wurde ihnen eine Bombe um den Körper geschnallt, sie lernten unter feindliche Panzer zu klettern, bevor der Zünder aus der Ferne aktiviert wurde und sowohl das Tier als auch seine Umgebung zerfetzte.

Während schon seit den 1930ern die Spannungen zwischen Zionist:innen, die den Staat Israel aufbauen wollten, und der arabischen Bevölkerung Palästinas zunehmend anstiegen, kam es im November 1947 zum endgültigen Kriegsausbruch zwischen den zwei Fronten. Rudolphina selbst wurde von ihrer offiziellen Position im israelischen Militär demontiert und durch einen jüngeren Kollegen ersetzt. Ihre Hunde und Leitlinien blieben allerdings Teil der israelischen Kriegsstrategie.

Für Rudolphina war das kein Grund, sich zur Ruhe zu setzen. Kahn beschreibt in ihrem Buch eindrücklich, wie sie noch einmal einen ganz anderen Zweig der Hundeforschung einschlägt: Sie begann Assistenzhunde für blinde Menschen auszubilden – und wollte dabei sowohl blinden Araber:innen als auch Jüdinnen und Juden zur Seite stehen.

Resümee

Rudolphina Menzel entzieht sich einer einfachen Einordnung in Kategorien. Sie wurde verfolgt, verlor fast alles, was sie besaß, und musste fliehen, um zu überleben. Gleichzeitig unterstützte sie in Palästina die Vertreibung anderer und träumte am Ende doch vom friedlichen Miteinander. Rudolphinas Biografie bewegt sich innerhalb der historischen Brüche, Verwerfungen und Gewalttaten des 20. Jahrhunderts. Susan Martha Kahn hat die erste umfassende Biografie dieser ungewöhnlichen historischen Person veröffentlicht und damit viel mehr als einen Überblick über deren Leben geschaffen: Wir lesen von einer ehrgeizigen Frau, die in einer patriarchalen Welt ein Forschungsfeld grundlegend geprägt hat. Wir tauchen in ideologische und politischen Konflikte ein, die bis heute wirken. Und wir erkennen, wie eine individuelle Akteurin von der Weltgeschichte getrieben wurde und sie gleichzeitig selbst mitprägte.

Das Buch „Canine Pioneer: The Extraordinary Life of Rudolphina Menzel” ist 2022 bei Brandeis University Press auf Englisch erschienen, herausgegeben von Susan Martha Kahn, stellvertretende Direktorin des Julius-Rabinowitz Program on Jewish and Israeli Law der Harvard Law School. Der Band umfasst die Biografie Rudolphina Menzels, verfasst von Susan Martha Kahn, sowie zusätzliche Aufsätze von Expert:innen.

Andrea Ruscher ist Teil der Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum. Sie studierte Globalgeschichte und war zuvor am Österreichischen Kulturforum Kairo und in der C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik tätig. 

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