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Semmering-Buch von Wolfgang Kos
Steil bergauf und schnell bergab
Das Thema Semmering wurde Wolfgang Kos in die Wiege gelegt – und das durchaus wortwörtlich. Als Kind litt er unter Asthma, weshalb die Eltern von Mödling aus regelmäßig den Luftkurort Semmering aufsuchten. Der Vater war zudem Eisenbahnfan und jede Fahrt auf der heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählenden Strecke wurde für den Sohn zu einer Unterrichtseinheit in Sachen Technik, Ingenieurskunst und Topografie.
Die frühe Begegnung mit dem einst florierenden Tourismusgebiet schlug sich dann 1992 in der Niederösterreichischen Landesausstellung nieder, die Kos – damals hauptsächlich als Radiomacher bekannt – kuratierte. Deren Titel „Die Eroberung der Landschaft“ war zugleich ambivalent, thesenhaft und provokant, machte sie doch klar, dass bei der Etablierung der wichtigsten Wiener Tourismusdestination dieser Zeit strategisch vorgegangen wurde und sich Investoreninteressen mit schwärmerischen großstädtischen Imaginationen von Natur und Landschaft trafen. Die Landesausstellung wurde jedenfalls selbst schnell zur Legende und hatte eine Flut an wissenschaftlicher Forschung zum Semmeringgebiet zur Folge. Und sie hatte gehörigen Anteil daran, dass die Region wieder in den Fokus des Interesses geriet, das weit über den Kreis der Reichenau-Nostalgiker hinausging.
Dass Wolfgang Kos sich fast dreißig Jahre danach nochmal in dieses Thema vertiefen würde, war keinesfalls klar für den ehemaligen Direktor des Wien Museums: „Ich hatte mich komplett vom Thema abgekoppelt.“ Zwar wurde der Kulturhistoriker in den 90er Jahren zu einem Arbeitskreis eingeladen, der die Zukunft der Semmeringbahn diskutieren sollte – jener Strecke, die es 1998 als weltweit erste Bahnlinie auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes schaffen sollte. Doch erst nach seiner Pensionierung entschied sich Kos, noch einmal in das Semmering-Universum einzutauchen, von dem mittlerweile auch abgelegene Winkel ausgeleuchtet sind. „Es war ein bisschen merkwürdig und ich habe mich gefühlt wie ein Kriegsveteran. Ich musste mich durch die wissenschaftliche Literatur von dreißig Jahren arbeiten, selbst wieder recherchieren und mir ein komplett neues Gesamtbild verschaffen.“
Auf über 350 Seiten hat Kos dieses Gesamtbild nun in dem neuen Buch „Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft“ ausgearbeitet. Es bietet neben einem Panorama über die jüngste Forschung vor allem die Gelegenheit, über den Semmering hinaus zu blicken und die Region als Modell dafür zu erkennen, wie Tourismus (bis heute) funktioniert. Am Beginn steht die verkehrstechnische Erschließung einer Gegend, die es auf der Südbahnstrecke zu überwinden galt, und die dann von frühen Fremdenverkehrsstrategen als Naherholungsgebiet geschickt zwischen Exotik und Vertrautem positioniert wurde. „Letztlich lebt der Semmering vom angenehmen Fehlen des wirklich Extremen“, so Kos.
Wer die (Groß-)Ausstellungen des ehemaligen Wien Museum-Direktors geschätzt hat, der kommt in dem neuen Semmering-Buch auf seine Kosten. Vielleicht ließe sich die „Methode Kos“ etwa so beschreiben: Einerseits schöpft der Historiker aus dem Vollen, arrangiert kunstvoll Material zu den unterschiedlichsten Themen: Mythen der Semmeringbahn und die soziale Realität des gigantischen Bauprojekts; die forsche Eroberung des Gebiets durch das finanzkräftige Wiener Bürgertum und die daraus resultierenden Konflikte mit der „einheimischen“ Bevölkerung; die Villen- und die gigantischen Hotelbauten als architektonische Repräsentanten unterschiedlicher Schichten, Zielgruppen, „Player“ und Trendsetter; die bisweilen inflationäre Legendenbildung rund um den Semmering durch eine kurzurlaubende Künstlerkolonie; die Herausbildung einer Schule des Sehens und eines „Vokabular des Empfindens“ beim Betrachten der Landschaft, ohne die Tourismus nicht funktionieren würde; die Erschütterungen, die die Tourismusregion durch die politischen Umwälzungen erfuhr und der sehnsuchtsvolle Rückblick auf die knapp vier Jahrzehnte der touristischen Hochsaison am Semmering ab den 1880er Jahren. Die Liste der Themen ließe sich lange fortsetzen. Man könnte das Buch selbst mit einer Bahnfahrt über den Semmering vergleichen: mit jedem Kapitel taucht ein neuer Aspekt auf, mit jeder Kehre bietet sich ein neuer Blick auf ein scheinbar bekanntes Terrain.
Als Radiojournalist, Ausstellungsmacher und „Museumsmensch“ ist Kos andererseits auch zum Spezialisten dafür geworden, Thesen so prägnant zu formulieren, dass sie „hängen bleiben“ und Zusammenhänge verdeutlichen. Ein paar Beispiele: „Die Semmeringlandschaft ist eine Kreation des 19. Jahrhunderts, erzeugt in den Köpfen romantischer Wanderer, gestaltet von Künstlern, mit Pathos inszeniert von Ingenieuren und zu synthetischen Bildern schabloniert von Verehrern und Werbetrommlern“. Damit ist fast alles gesagt. Oder: „Der Rohstoff Landschaft war zur Halbfertigware geworden.“ Oder: „Die Bahn hat das Gebiet monumentalisiert und zugleich klein gemacht: eine Welt en miniature, in der Klötze aus einem alten Steinbaukasten herumstehen, die von der Natur langsam überwachsen werden.“ Oder: „Semmering 1912 – ein Buchtitel wie eine Parfummarke“ (über Peter Altenbergs legendäre Skizzensammlung). Kos bringt die Dinge auf den Punkt, manchmal auch: auf die Pointe (und auch das ist auch ein Kos-Ausdruck, den dieser 2006 anlässlich einer Ausstellungseröffnung über die Fotografin Barbara Pflaum verwendet hat).
Die historische Landesausstellung 1992 über das Semmeringgebiet endete mit dem Exodus, den die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938 mit sich brachte. Mit der Ermordung und Vertreibung der Jüdinnen und Juden verlor die Tourismusregion ihre treueste Klientel, bis heute ist der Umgang mit diesem Teil der Vergangenheit problematisch, wie auch die jüngste Diskussion um die Umbenennung einer Straße zeigt, die einem Kurhausbetreiber mit NS-Vergangenheit namens Hermann Stühlinger gewidmet worden war. Kos entschied sich jedenfalls, in seinem neuen Semmering-Buch der Zeit nach 1945 einen breiten Raum zu widmen. Die Nachkriegsjahrzehnte waren von einem „kurzen Comeback“ und einem „langen Abstieg“ geprägt, den Tiefpunkt ortet Kos um 1980: „Auf dem Semmering, aber auch in den Ex-Sommerfrischen der Umgebung, hatte sich ein erdrückender Überhang von Vergangenheit angesammelt, zugleich war ein eklatanter Mangel an Geschichtsbewusstsein zu konstatieren.“
Die aktuelle Lage beurteilt der Historiker übrigens mit einer Mischung aus vorsichtigem Optimismus und gelernter Skepsis. Die touristische Vermarktung sei schlagkräftiger geworden, aber: „Aufwärts- und Abwärtsspirale ergeben bis dato ein Nullsummenspiel.“ Im abschließenden Kapitel wagt Kos dann noch einen Ausblick auf das Jahr 2030 und warnt vor der permanent drohenden Nostalgiefalle. „Ein Schlüssel für eine kreative Weiterentwicklung im Geist unserer Zeit liegt irgendwo im Feld zwischen Architektur, Design und Kunst.“ Wie könnte ein Semmeringbild aussehen, das sich vornehmlich nicht aus der Vergangenheit speist? Auch dafür liefert dieses Buch schließlich einige Anregungen – von einem Autor, der es sich bereits als junger Radiomacher (mit frischer Semmering-Vergangenheit) zur Aufgabe gemacht hat, den geistigen Horizont dieses Landes zu erweitern.
„Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft“ von Wolfgang Kos ist im Residenz Verlag erschienen und wird am 14. Oktober im Wien Museum MUSA vorgestellt.
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Kommentare
Liebe Désirée, vielen Dank für die Rückmeldung - freut mich sehr!! liebe Grüße, Peter
Wunderbare Rezension und Hommage!!! Liebe Grüße Désirée