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Susanne Breuss, 10.4.2020

Shopping und die Geschichte der modernen Konsumkultur

Die provozierte Schaulust

Einkaufen ist Pflicht und Arbeit, Shoppen ist Erlebnis und Vergnügen. Letzteres wird gerne auch als Freizeitbeschäftigung praktiziert. Dem bescherte die Corona-Pandemie ein jähes Ende, nachdem nur noch jene Geschäfte offen halten durften, die der Grundversorgung dienen. Seine Wurzeln hat das uns so lieb gewordene Shoppen in der modernen Großstadtkultur des 19. Jahrhunderts. Und seine Geschichte ist eng mit dem damals neu aufgekommenen Schaufenster als Ausdruck neuer Konsumformen verknüpft.  

Lockende neue Warenwelt

Der Schriftsteller Adalbert Stifter konstatierte 1844 in seinen Wien-Essays eine so starke Zunahme von verglasten Geschäftsauslagen, „daß an gewissen Plätzen Wiens buchstäblich streckenlang kein einziges Mauerstückchen des Erdgeschosses zu sehen ist, sondern lauter aneinandergereihte, prächtige, hohe Gläserkästen, in denen das Ausgesuchteste funkelt und lockt". Ebenso hatten sich nach Stifters Beobachtung Geschmack, Luxus und Verführungskraft der Warenauslagen ungemein gesteigert. Während dieses überbordende Warenangebot dazu angetan sei, die damit nicht vertraute Landbevölkerung in ihren Bann zu ziehen und zu verwirren, fordere die Stadtbevölkerung schon aus purer Gewohnheit, dass man ihr alles so unmittelbar vor die Augen lege, sie blende und verführe, andernfalls sie gar nichts mehr kaufen wolle.
 

Was Stifter hier für Wien beschrieb, war eine Entwicklung, die sich im 19. Jahrhundert auch in anderen großen Städten immer deutlicher bemerkbar machte: Es entstanden neue Phänomene des Konsums und der Wareninszenierung und sie wurden als etwas spezifisch Urbanes wahrgenommen. Reflexionen darüber hatten in der Literatur und Essayistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen festen Platz. Der Fokus der Stadtwahrnehmung und -beschreibung richtete sich zunehmend auf die allgegenwärtigen Phänomene der industriellen Warenwelt. Den Schaufenstern kam dabei insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie in einer zuvor unbekannten Art und Weise eine Ästhetisierung der Waren betrieben und mit ihren Inszenierungen den Konsument_innen Fiktionsräume eröffneten, die viele in einen regelrechten Taumel des Wunderns und Staunens, aber auch des Begehrens, ja der Habgier stürzten. Das Schaufenster entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert zu einem zentralen und vielschichtigen Bestandteil moderner Konsumkultur und trug – gemeinsam mit weiteren Manifestationen der industriekapitalistischen Warenwelt wie Plakatwerbung, Litfaßsäule oder Lichtreklame – wesentlich zum Antlitz der modernen Stadt, zur Entstehung einer neuen urbanen Landschaft bei. 

Macht der Inszenierung

Worin bestand nun diese „unheimliche Macht eines zerbrechlichen Fensterglases" – so der Schriftsteller Joseph Roth in den 1920er Jahren – und warum vermochten die hinter dem selbst kaum wahrnehmbaren Glas präsentierten Dinge so zu beeindrucken? 

Theoretiker der Moderne im Allgemeinen und des Industriekapitalismus im Speziellen, wie Karl Marx, Werner Sombart, Georg Simmel oder Walter Benjamin, reflektierten den Warencharakter – also die an die Marktwirtschaft gekoppelte Existenzform – von Dingen auch im Hinblick auf den Urbanisierungsprozess. Wesentlich für die Entwicklung der urbanen Kultur seit dem 19. Jahrhundert waren dabei eine neue Sichtbarkeit der Waren und eine damit einhergehende neue Kultur des Zeigens. Die Medien der Zurschaustellung und Ästhetisierung von Waren reichten von den Warenhäusern über die Weltausstellungen bis hin zu den Gewerbe- und Industriemuseen. Dinge waren nun nicht mehr vorrangig durch ihre Funktion definiert, sondern durch ihre „Schaufenster-Qualität", wie Georg Simmel 1896 konstatierte: „Die Warenproduction unter der Herrschaft der freien Concurrenz und mit dem durchschnittlichen Uebergewichte des Angebots über die Nachfrage muss dazu führen, den Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende Außenseite zu geben. Wo die Concurrenz in bezug auf Zweckmäßigkeit und innere Eigenschaften zu Ende ist – und oft genug schon vorher – muss man versuchen, durch den äußeren Reiz der Objecte, ja sogar durch die Art ihres Arrangements das Interesse der Käufer zu erregen." 

Als Kommunikationsmedium dieser neuen Warenwelt erweist sich das Schaufenster als ein paradigmatischer Ort moderner Konsumkultur. In ihm kreuzen sich die Figur des Konsumenten bzw. der Konsumentin, neue Verkaufs- und Präsentationstechniken, Architektur und Stadtentwicklung. Es prägt in hohem Maße das Antlitz der modernen Stadt und trägt gemeinsam mit anderen Reklamemedien zur 'Bebilderung' und visuellen Kultur der Stadt bei. Seit dem 19. Jahrhundert breitete sich das Feld des Visuellen immer weiter und schneller aus. Neue Bildmedien wie die Fotografie, der Film oder illustrierte Zeitschriften begannen ebenso wie verschiedenste Formen der Werbung zunehmend die alltäglichen Erfahrungen und Sehgewohnheiten zu beeinflussen. Das System von Verkaufen und Konsumieren basierte von nun an auf einem neuen Verhältnis zwischen Schauen und Kaufen, womit dem Sehsinn als Hauptsinn der Moderne auch ein zentraler Stellenwert im Prozess der Warenzirkulation zukommt. Im Vergleich zu den eher düsteren früheren Ladengewölben, die oft überhaupt keine Fenster hatten (auch deswegen, weil Glasscheiben zunächst sehr teuer waren), präsentierten sich die neuen Geschäfte mit ihren schönen Auslagen als wahrer Augenschmaus – und man musste sie nicht einmal betreten, um in den Genuss des Schauens zu kommen.   

Konsumtempel

Eine besondere Rolle für die Entwicklung der neuen Konsum- und Schaufensterkultur spielten die großen Kauf- und Warenhäuser, die sich in westeuropäischen Großstädten wie Paris oder London ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, in Deutschland und Österreich mit einiger zeitlicher Verzögerung als neue Formen der Warendistribution herauszubilden und den Stadtentwicklungsprozess zu prägen begannen. Mit ihrem überwältigenden Warenangebot, ihren neuartigen Verkaufsmethoden und ihrer unübersehbaren Architektur mit riesigen Schaufensterfronten wurden sie bereits von den Zeitgenoss_innen als wichtige Signifikanten moderner Urbanität wahrgenommen. So betonte ein Zeitungsbericht über die 1896 erfolgte Neueröffnung des Wiener Herren- und Knabenkonfektionswarenhauses Neumann auf der Kärntner Straße den „weltstädtischen Charakter des Etablissements", wie es „großstädtischer nicht gedacht" werden könne und hob insbesondere die imposanten Auslagen hervor, die speziell in der Dunkelheit durch die elektrische Beleuchtung mit tausend Glühlichtern „ein Wunderwerk von geradezu fascinirender Wirkung" böten. 

Neben bestimmten Straßen der Inneren Stadt wie Kohlmarkt, Graben, Rotenturmstraße oder eben Kärntner Straße war es insbesondere die Mariahilfer Straße, die sich zu einer der führenden Geschäftsstraßen zu entwickeln begann. Sie verlor durch den im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzenden Boom der großen Waren- und Geschäftshausbauten ihren Vorstadtcharakter und erhielt das Aussehen einer modernen Konsummeile: „Es gibt wohl keine zweite Straße in Wien, welche einen so imponirenden Eindruck geschäftlichen Lebens machen würde. Den Fremden setzt das großartige Getriebe in dieser langen Straßenzeile in Erstaunen, und der Wiener fühlt es dort: 'Hier sind wir Großstadt'." – so ein Zeitungsbericht im Jahr 1896. 

Shopping – Konsumform der Moderne

Der englische Begriff shopping ist bereits seit dem späten 19. Jahrhundert auch im deutschen Sprachraum in Verwendung. Ein Verkaufshandbuch aus dem Jahr 1899 erläutert: „Durch die Läden bummeln, durch die großen Magazine wandern, heißt das. Hier trifft man sich bald genug mit Freundinnen und Bekannten, studirt alle Neuheiten in Mode und Gebrauchs-Gegenständen, lernt Preise, frisch aufkommende Muster kennen und wird mit den Waaren vertraut. […] Man kommt, ohne kaufen zu wollen, ohne auch nur etwas zu brauchen, dennoch geht man sehr oft nicht, ohne gekauft zu haben. Das eben ist das Wesen dieses Shopping: Früher ging man ins Geschäft, wenn man etwas kaufen mußte, jetzt kauft man etwas, weil man gerade im Geschäft ist." Aufgabe der Schaufenster war es, mit ihrer verlockend inszenierten Warenpracht die Blicke der Passant_innen einzufangen und sie zum Eintreten zu animieren – ab den 1890er Jahren wurde das durch den neuen und damals gut bezahlten Beruf des Schaufensterdekorateurs gewährleistet, unterstützt durch ein steigendes Angebot an professionellen Hilfsmitteln für die Schaufenstergestaltung. 

Entsprechend veränderten sich Verkaufssituation und Verkaufstechnik – nachlesen lässt sich das etwa im bereits erwähnten Verkaufshandbuch von 1899: „Durch die breiten Thüren strömen Käufer wie Bewunderer ein und aus, ohne sich bewacht zu fühlen. Ausgebreitet liegen die Waaren vor den erstaunten Blicken und nennen meist selbst ihren Preis. […] Der Appetit wird gereizt ohne Zureden des Verkäufers, man kann wählen, ohne ihn zu brauchen und sich über den Preis unterrichten, ohne zu fragen. Unbefangener, freier trifft man seine Wahl." 

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 Als populäres Phänomen zog der Schaufensterbummel spätestens in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in die städtische Lebenswelt ein und konfigurierte nicht nur die Konsumpraxis, sondern auch die Stadtwahrnehmung und -erfahrung. (Window-)Shopping war gleichbedeutend mit 'in der Stadt' sein, sich in der urbanen Öffentlichkeit bewegen – und zwar durchaus zum Vergnügen, was einen wesentlichen Unterschied zum Kauf der täglichen Notwendigkeiten, zum Konsum als Arbeit markiert. Angesiedelt an der Schnittstelle von Pflicht und Freizeitvergnügen eröffnete das Shopping Freiräume unterschiedlichster Art, insbesondere für Frauen. Wenngleich sie durch die Lockungen der Warenwelt als leicht verführbar galten, so hatten sie aufgrund ihrer Besorgungspflichten doch einen sozial akzeptierten Grund, sich in und vor den Warenhäusern und Geschäften aufzuhalten. Vor allem für bürgerliche Frauen bedeutete das eine willkommene Möglichkeit, sich auch unbegleitet im öffentlichen Raum zu bewegen, zählte es doch zu ihren Aufgaben, Informationen über Konsumgüter einzuholen, Preise zu vergleichen und Produkte auf ihre Qualität hin zu prüfen. 

Konsumkritik

Die zunehmende Sichtbarkeit der Waren im öffentlichen Raum, die Besetzung und Bebilderung der Stadt durch Konsumphänomene vermochte bereits im 19. Jahrhundert nicht nur zu faszinieren, sondern auch zu ängstigen. Die neue Omnipräsenz und Aufdringlichkeit der Warenwelt provozierte bei so manchem Abwehr, denn der Stadt schien daraus geradezu ein sittlich-moralisches und ästhetisches Gefahrenpotenzial zu erwachsen. Von psychischen Irritationen infolge von Reizüberflutung war ebenso die Rede wie von der Verschandelung der Stadt – letzteres vor allem seitens der kulturkonservativen Heimatschutzbewegung. Theologen wandten sich gegen eine Stimulation der Sucht nach materiellen Gütern, mancherorts mussten zur Kirchgangszeit am Sonntag sogar die Auslagen verhängt werden. Und es gab die Sorge um die Nöte jener, die sich mangels finanzieller Mittel mit dem Schauen begnügen und bei „vollgefressenen Pupillen" (Joseph Roth) weiterhin am leeren Magen leiden müssen. All diese Einwände haben eines gemeinsam: Sie verweisen auf die Schattenseiten der glitzernden Warenwelt ebenso wie auf diskursive Bruchlinien. Die moderne Konsumkultur wurde nicht nur gefeiert, sondern bereits zur Zeit ihrer Entstehung aus unterschiedlichsten Perspektiven kritisiert.  

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Susanne Breuss studierte Europäische Ethnologie, Geschichte, Philosophie und Soziologie an der Universität Wien und an der TU Darmstadt und war von 2004 bis 2023 Kuratorin im Wien Museum. Sie unterrichtet an der Universität Wien und schrieb für die Wiener Zeitung. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen historische und gegenwärtige Alltagskulturen sowie museologische Fragen. 

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