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Soziale Wohnkultur nach dem Zweiten Weltkrieg
Kein Platz für „gschnasige“ Möbel
Frühling 1945: Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete für die Wiener Bevölkerung nicht nur die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern auch Hunger und Wohnungsnot. Weite Teile der Stadt lagen in Trümmern, und viele hatten nun kein Dach mehr über dem Kopf. Infolge der Bombardierungen und sonstigen Kriegseinwirkungen war ein gutes Viertel der Wiener Bausubstanz zerstört oder beschädigt, knapp 87.000 Wohnungen konnten nicht benützt werden. Dazu kam ein erhöhter Wohnbedarf durch Kriegsheimkehrer, Displaced Persons, Flüchtlinge etc. Auch ein großer Teil der Möbel und des Hausrats waren vernichtet oder in Mitleidenschaft gezogen worden.
Der nun notwendige „Wiederaufbau“ bedeutete also nicht zuletzt, so schnell wie möglich neuen Wohnraum zu schaffen. Die drängende Wohnungsnot – noch in den 1950er Jahren fehlten zehntausende Wohnungen – führte dazu, dass in diesen Jahren vor allem Klein- und Kleinstwohnungen mit einfachen Grundrissen gebaut wurden. In ihnen hatten jedoch die alten Möbel keinen Platz mehr. Sie waren häufig zu groß und zu wuchtig, zu „gschnasig“ gestaltet (so der Wiener Oberbaurat und Architekt Rudolf J. Boeck) und zu unpraktisch. Und sie entsprachen dem alten Denken in Garnituren, das bereits in der Zwischenkriegszeit verstärkt in die Kritik geraten war: Man beschaffte sich ein komplettes Wohn- oder Schlafzimmer in einem bestimmten Stil und in einer vorgegebenen Zusammenstellung, die nicht immer mit den individuellen Bedürfnissen und räumlichen Gegebenheiten kompatibel war. Zudem stellte die Anschaffung ganzer Garnituren (meist wurden nur solche verkauft) eine hohe finanzielle Belastung dar, was gerade in der wirtschaftlich so angespannten Nachkriegszeit für viele ein unüberwindbares Problem darstellte.
In dieser Situation forderten einige Architekten und Fachleute, nicht nur in baulicher Hinsicht tätig zu werden, sondern sich auch um die Entwicklung einer neuen, zeitgemäßen und sozialen Wohnkultur zu bemühen. Damit verknüpft war insbesondere die Forderung nach der Produktion guter, moderner und preisgünstiger Möbel sowie die Schaffung von Kreditaktionen, damit sich auch einkommensschwache Haushalte solche Möbel leisten können. Moderne Wohnkultur sollte nicht länger „ein Luxus der Reichen“ bleiben, sondern zu einer „Selbstverständlichkeit für alle“ werden, so der ÖGB-Referent Robert Stern. Eine wichtige Voraussetzung für die Leistbarkeit der anvisierten neuen Einrichtungsgegenstände war die Umstellung von der handwerklichen Möbelproduktion auf die serielle Herstellung großer Stückzahlen. Zur Erreichung dieser Ziele, für die es breite Unterstützung gab, wurden verschiedene Initiativen gesetzt, so etwa die Gründung des „Ausschusses für zeitgemäßen Wohnbedarf“ des Wirtschaftsförderungsinstituts der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie oder der 1948 per Gesetz ins Leben gerufene Hausratsfonds, mit dessen Mitteln Ersatz für kriegszerstörte Wohnungen, Hausrat und Kleidung finanziert werden sollte.
„Die Frau und ihre Wohnung“
Von wesentlicher Bedeutung für die weitere Entwicklung hin zur späteren Aktion „Soziale Wohnkultur“ war die im Dezember 1950 im Wiener Messepalast erstmals gezeigte Ausstellung „Die Frau und ihre Wohnung“. Mit ihr erlebte das Nachkriegs-Wien eine regelrechte Ausstellungssensation: In knapp drei Wochen drängten sich mehr als 117.000 Personen in der Schau, um neue Möbelentwürfe und Konzepte für zeitgemäßes Wohnen zu besichtigen. Die Ausstellung war der Startschuss dafür, die vorhandenen Ideen und Initiativen für die Modernisierung der Wohnkultur in praktische Ergebnisse für die Bevölkerung münden zu lassen. Zu deren wichtigsten zählten die sogenannten SW-Möbel, die heute als ein gelungenes Beispiel für ein mit vereinten Kräften realisiertes Wiederaufbau- und Modernisierungsprojekt gelten.
Die Idee zur Ausstellung stammte vom Wiener Frauenkomitee der SPÖ, veranstaltet hat sie sie gemeinsam mit der Wochenzeitschrift „Die Frau“, der SPÖ, den Wiener Kinderfreunden, der Sozialistischen Jugend und der Mietervereinigung Österreichs. Zweck der Ausstellung war, der großstädtischen Bevölkerung zeitgemäßes Wohnen in seinen verschiedenen Dimensionen zu zeigen: Vom städtebaulichen Aspekt über Wohnung, Möblierung und Hausrat bis hin zu kulturellen, sozialen und gesundheitlichen Fragen. Den gesellschaftspolitischen Anspruch brachte man mit dem Slogan „Soziale Wohnkultur“ zum Ausdruck. Gutes und zweckmäßiges Wohnen sollte für alle möglich sein und den zeitgenössischen Lebensbedingungen und Bedürfnissen gehorchen.
Die Tatsache, dass die Ausstellung bereits im Titel speziell die Frau adressierte, war der damaligen Geschlechterordnung geschuldet, nach der die Verantwortung für den häuslichen Bereich und damit auch die Wohnkultur den Frauen oblag. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei auch der Hausarbeit und der Küche als Arbeitsort, denn ein wichtiger Aspekt in den Überlegungen zu einer modernen sozialen Wohnkultur war die Entlastung der Frauen durch eine rationelle Wohnungseinrichtung und zweckmäßiges Arbeitsgerät. Diesbezüglich herrschte trotz erster systematischer Bemühungen in den 1920er und 1930er Jahren noch immer großer Handlungsbedarf. Nicht zuletzt in diesem Kontext ist schließlich das aus der Ausstellung heraus entwickelte „Institut für Wohnungs- und Haushaltsforschung“ zu verstehen. Es hatte die planmäßige Erforschung der arbeits-, zeit- und geldsparenden Methoden der Haushaltführung und Wohnungsgestaltung und ihre Verwertung in der Praxis zum Ziel.
Besonders interessant für das zahlreich in die Ausstellung strömende Publikum waren die dort präsentierten Mustermöbel. Sie waren in ihren Dimensionen an die kleinen Wohnungen angepasst und entsprachen dem neuen Leitbild des Wohnens: schlicht, zweckmäßig und formschön statt repräsentativ und unpraktisch. Die Entwürfe zu diesen Mustereinrichtungen stammten von Oskar Payer, Roland Rainer, Maria Tölzer und Franz Schuster. Letzterer hatte sich bereits seit den 1920er Jahren mit der Typisierung und mit der seriellen anstelle der handwerklichen Herstellung von Möbeln befasst, und ein Konzept für individuell kombinierbare sogenannte Aufbaumöbel als Alternative zu den komplett als Set anzuschaffenden Möbelgarnituren entwickelt. Als Architekt und Experte für Wohnbaufragen war er Konsulent der Gemeinde Wien und leitete in den 1950er Jahren auch deren Forschungsstelle für Wohnen und Bauen. In Zusammenarbeit mit der sozialistischen Frauenbewegung war er maßgeblich an der Entwicklung eines modernen, zeitgemäßen Einrichtungskonzepts im Sinne einer sozialen Wohnkultur beteiligt.
Aktion „Soziale Wohnkultur“ und Verein „Soziales Wohnen“
Im Anschluss an die so erfolgreiche Ausstellung „Die Frau und ihre Wohnung“ (sie war in den nachfolgenden Jahren in immer wieder neu zusammengestellten Versionen zu sehen, und diente zugleich als Beratungsstelle) entstanden aus einem Zusammenschluss der Kammer für Arbeiter und Angestellte, der Kammer der gewerblichen Wirtschaft, der Gemeinde Wien und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes die Aktion „Soziale Wohnkultur“ und der Verein „Soziales Wohnen“. Es ging darum, die serielle Produktion preiswerter und zweckmäßiger moderner Möbel nun ganz praktisch zu fördern und auf eine Realisierung hinzuarbeiten. Unter der Bezeichnung „SW-Möbel“ waren sie 1954 schließlich erstmals auf dem Markt.
Der Architekt Oskar Payer, 1950 an der Gesamtgestaltung der Ausstellung „Die Frau und ihre Wohnung“ beteiligt, war 1952 der Initiator und Mitbegründer der Ausstellungsreihe „Soziale Wohnkultur“. Im Dezember 1952 wurde im Museum für angewandte Kunst die erste von Franz Schuster gestaltete und bis Jänner 1953 gezeigte Ausstellung „Soziale Wohnkultur“ eröffnet (fortgesetzt wurde diese Ausstellungsreihe später im Rahmen der Ausstellung „Die Frau und ihre Wohnung“ im Messepalast). Am Zustandekommen beteiligt waren das Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau, die Gemeinde Wien und das Österreichische Produktivitätszentrum. Ziel war die Präsentation modernen und sozialen Designs sowie das Hinwirken auf die Erzeugung von entsprechenden Einrichtungsgegenständen im großen Maßstab.
Im Vorwort zur Begleitbroschüre schrieb Schuster: „Viele Menschen tun so als wäre ihre Wohnung fast wie ein Museum, also mehr zum Ansehen als zum Bewohnen da. Je kleiner aber unsere Wohnungen notgedrungen sind und je weniger Räume sie haben, um so wichtiger ist es, daß jedes Möbel und Gerät dem Bewohnen auf das beste dient, wenig Platz verstellt und jene unaufdringliche Form hat, die sich harmonisch der Umgebung und dem Raum einfügt. So ist der Mensch wieder Mittelpunkt der Wohnung und nicht die pompöse Kredenz, der Pfeilerkasten oder falsche Zierat, der die stille Wirkung edler Hölzer, die reinen Umrißlinien der Möbel und Gebrauchsdinge und den zarten Zusammenklang der Farben und Stoffe stört und verdirbt.“
Die Entwürfe für die ausgestellten Möbel stammten von Oskar Payer, Otto Niedermoser, Herma und Karl Kotal, Roland Rainer, Franz Schuster sowie Maria und Peter Tölzer. Die Auswahl für die Ausstellung war von ÖGB-Mitgliedern aus verschiedenen Berufsgruppen getroffen worden. Mittels Stimmzettel konnten die Ausstellungsbesucher nun jene Möbel auswählen, die später in Serie produziert werden sollten. Die meisten Stimmen entfielen dabei auf die Küchenmöbel von Franz Schuster und die Wohn-Schlafzimmermöbel von Oskar Payer.
Um die Produktion der Möbel zu ermöglichen und begleitend zu unterstützen, gründeten die Gemeinde Wien und die Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter den Verein „Soziales Wohnen (= SW) – Möbelaktion, Verein für Soziale Wohnkultur“. Seine Aufgabe war, Händler unter Vertrag zu nehmen, Preisvereinbarungen zu treffen, die Qualität der Möbel zu kontrollieren und sich um die weitere Produktentwicklung gemeinsam mit den Gestaltern und Architekten zu kümmern. Den Erzeugerfirmen konnte er mittels Vorfinanzierung den Produktionsstart erleichtern und den Konsumenten günstige Kredite und Teilzahlungsmöglichkeiten anbieten – wichtige Voraussetzungen für den späteren großen Erfolg der Aktion. 1954 wurden dann die ersten derartigen Möbel in einigen Wiener Geschäften zum Kauf angeboten, gekennzeichnet waren sie mit dem Markenlogo der SW-Möbel. 1956 konnte man die SW-Möbel dann bereits an mehr als 200 Standorten in ganz Österreich erwerben.
Da die SW-Möbel zwar keineswegs ausschließlich, aber besonders für die kleinen Neubauwohnungen konzipiert waren, spielten raumsparende Möbeltypen eine wichtige Rolle. Dabei handelte es sich vor allem um Einbauschränke, Einbauküchen, Klappbetten und Mehrzweckmöbel wie Bettbänke. Neu waren die Leitlinien für die Einrichtung des Wohnzimmers. Franz Schuster bemerkte dazu: „Das Essen steht nicht mehr im Mittelpunkt des täglichen Wohnens. Unter Wohnen versteht man heute eher das ausruhende oder gesellige Zusammensein der Familie und mit Gästen am Abend und an Sonn- und Feiertagen. Es steht daher auch nicht mehr der Eßtisch in der Mitte des Zimmers, sondern das Sofa mit einem niedrigen Tisch und niedrigen Sesseln.“ Zum Essen wurde ein Klapptisch an der Wohnzimmerwand und in der Küche (zugleich als Arbeitsfläche nutzbar) empfohlen. Weiters trugen neue Möbeltypen wie Musik- und später auch Fernsehschränke den veränderten Wohn- und Freizeitbedürfnissen Rechnung.
Bis in die 1960er Jahre wurden Mustermöbel der SW-Aktion auf diversen Messen präsentiert, und in Gemeindebauten und Baugenossenschaften konnte man Musterwohnungen mit SW-Möblierung besichtigen. Bekanntschaft mit SW-Möbeln konnte man außerdem in diversen Arbeiterheimen der SPÖ machen, in Erholungsheimen der Pensionsversicherungsanstalten, in Kolpinghäusern, Schwesternheimen, Touristenpensionen und in den in der Wiener Rennwegkaserne eingerichteten Wohnungen für 1956 aus Ungarn geflüchtete Menschen. Eine ständige SW-Möbelausstellung mit Musterwohnräumen wurde 1956 in Wien am Lerchenfeldergürtel eröffnet. Hier konnten die potentiellen Käufer auch eine kostenlose Architektenberatung in Anspruch nehmen. Ausstellungen mit SW-Möbeln wurden außerdem in verschiedenen anderen österreichischen Städten eingerichtet.
Ab 1968 verlor der SW-Verein (ab 1967 stand SW für „Schöner Wohnen“) an Bedeutung, 1976 wurde er schließlich formal aufgelöst. Ausschlaggebend dafür waren verschiedene Faktoren: Das gesamte Feld der Möbelproduktion, des Möbelhandels und des Möbelkonsums hatte sich im Zuge des zwischenzeitlich erfolgten wirtschaftlichen Aufschwungs verändert, die Gemeinde Wien hatte die Kreditaktion eingestellt (unter anderem weil die Kaufkraft der Bevölkerung gestiegen war), und der SW-Verein war über dessen Obmann Josef Las sowie ÖGB-Präsident Franz Olah auch von den heftigen Turbulenzen rund um die sogenannte „Olah-Affäre“ betroffen. 1969 endete die Herstellung von SW-Möbeln. Die meisten Herstellerbetriebe produzierten nach eigenen Entwürfen noch einige Jahre weiter, zwischen 1975 und 1985 sperrten aber fast alle zu. Es begann das Zeitalter der großen Möbelhäuser am Stadtrand, in denen massenhaft für einen internationalen Markt produzierte Möbel verkauft wurden, auch solche, die man selbst zusammenbauen musste. Letztere waren auch schon im SW-Sortiment vertreten: 1965 kamen Bücheretageren auf den Markt, die mit dem Slogan „Mach es selbst“ beworben wurden.
Stück für Stück
Insgesamt leistete die SW-Aktion in den ersten Nachkriegsjahrzenten einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau, sowohl im baulichen wie im wirtschaftlichen Sinn, und sie trug zur Modernisierung der Wiener und der gesamtösterreichischen Wohnkultur und der Möbelproduktion bei. Hinsichtlich Geschmacksbildung und Serienproduktion kam dem SW-Möbel eine Pionierfunktion zu. Die Konzeption der SW-Möbel als beliebig kombinierbare und erweiterbare Aufbaumöbel ermöglichte es, Stück für Stück und je nach individuellen Rahmenbedingungen und Bedürfnissen Modernität ins eigene Heim zu holen. Wobei die Möbel in ästhetischer Hinsicht zu Beginn vor allem in den eher bürgerlichen und intellektuellen Milieus großen Anklang fanden, während sich die Arbeiterbevölkerung den einfachen Formen gegenüber zunächst eher reserviert zeigte.
Wenn die SW-Möbel ab den 1980er Jahren bei manchen in den Geruch von „Billigmöbeln“ gerieten und aus den Wohnungen verbannt wurden, so war das nicht nur der überwundenen Nachkriegsnot und veränderten Geschmacksvorlieben geschuldet, sondern es hatte auch damit zu tun, dass sowohl die stilistische als auch die material- und verarbeitungstechnische Qualität der SW-Möbel im Verlauf der 1960er Jahre teilweise tatsächlich nachgelassen hatte. Behalten (oder im Zuge einer neu entstandenen Vorliebe für „Vintage“- und „Mid-Century“-Möbel wiederentdeckt) wurden besonders jene SW-Möbel, die aus den Serien der 1950er und frühen 1960er Jahre stammen.
Literatur und Quellen:
Rudolf J. Boeck: Auf dem Weg zum „Sozialmöbel“. Betrachtungen zu der Ausstellung „Soziale Wohnkultur“, Dezember 1952 – Jänner 1953 in Wien, in: Der Aufbau, Jänner 1953, S. 7-20.
Elfriede-Maria Faber (Red.): Das SW-Projekt. Möbel, Zeit, Formgefühl. 1950–1970, Wien 2005.
Hösch, Adolf: Das Wiener soziale Wohnmöbel in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Diss. TU Graz 1991.
Österreichisches Produktivitätszentrum (Hg.): Soziale Wohnkultur, Wien 1952.
Robert Stern (Red.): Neues Wohnen, Wien 1952.
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