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15.8.2021

Wohngeschichten aus der Siemensstraße

Vom Alltag im Gemeindebau

In der Siedlung Siemensstraße ist zurzeit eine kleine Ausstellung zur Geschichte dieses Pionierprojekts im Wohnbau nach 1945 zu sehen. Nun ist eine Publikation dazu erschienen, in der die Einwohner*innen ihre Erinnerungen teilen.

Neben einem historischen Abriss zur Geschichte der Siedlung Siemensstraße und einem biografischen Essay zu deren Architekten Franz Schuster bietet die Begleitpublikation Einblicke in den Alltag der 1950er und 1960er Jahre. Grundlage für 65 thematisch geordnete kurze Erinnerungstexte waren Interviews, die der Historiker Wolfgang Fichna mit Einwohner*innen der Siedlung geführt hat. Im Folgenden ein paar Beispiele, die von Christiane Strobach und Leo Marek stammen:

36 m²

In unserer Wohnung in der Siemensstraße gab es eine Küche und nur ein Zimmer. Anfangs habe ich mit meinen Eltern dort gewohnt, dann kam mein Mann dazu und später unsere erste Tochter. Die ganze Wohnung hat nur 36 Quadrat­meter. Wenn man in das Zimmer, das einzige Zimmer, vom Vorzimmer aus hineinging, gab es gegenüber von der Tür ein dreiteiliges Fenster, rechts davon die Eckbank mit dem Esstisch und vis­à­vis von der Eckbank das Ausklappbett meiner Eltern. Das konnte man der Breitseite nach aus­klappen. Tagsüber befand es sich hinter einem Vorhang. Das Bettzeug wurde mit Gurten festgemacht, sonst wäre es verrutscht. Links vom Fenster gab es einen Kastenverbau, der um die Ecke ging. Ungefähr in dessen Mitte, an der linken Wand, war eine Aussparung, in der sich hinter einem Vorhang mein Bett befand, das am Abend ebenfalls heraus­geklappt wurde. Solange ich zu Hause gewohnt habe, habe ich immer geholfen, alles in der Früh wieder wegzuräumen. Wichtig war natürlich das Lüften, das gut Lüften. Wenn das Bett lange Zeit hochgeklappt war und da noch dieser Nachtschweiß oder sonst etwas drinnen war, hat man auf­passen müssen. Das war gar nicht günstig. Man musste das Bettzeug einräumen, die Gurten festschnallen, das Bett hochklappen und den Vorhang vorziehen. So war wieder ein bisschen Platz im Zimmer. Dann gab es noch einen Eckverbau bis zur Tür und den Kamin. Das war das ganze Zimmer. (Christiane Strobach)

Buama-Menscha

Wenn Mädchen und Buben händchenhaltend gegangen sind, dann haben die Leute schon geredet. Das war nicht erlaubt, das war sogar verpönt. Bei den Buben war das weni­ger schlimm als bei den Mädchen. Die haben dann gleich Buama­-Menscha geheißen. Das war damals so. Dort, wo die Pensionist*innen untergebracht waren, im Pensionisten­ghetto in der Scottgasse, fast schon Höhe Ruthnergasse, dort gab es ein Versteck, dort hat man ein bisschen rumschmusen können, ohne dass es jemand gesehen hat. Nur am Eislauf­platz hatten wir die Möglichkeit, Händchen zu halten, zumin­dest wenn man eine längere Kette gebildet hat. So hat man das tun können, ohne dass gleich blöd geredet wurde. (CS)

Extrawurst

Die Siedlung war mit Geschäften sehr gut versorgt. Das war in der Architektur schon so angelegt, mit einem Platzerl in der Mitte, wo es ein Geschäft nach dem anderen gegeben hat. Es war alles da, und man musste nicht weit gehen. Einkaufs­- oder Supermärkte wie heute gab es noch nicht. Der erste, der dann aufgemacht hat, war der Konsum in der Scottgasse. Sonst gab es am Platz vorne zwei Fleischhauer, die Trafik, einen Greißler in der Ruthnergasse, einen Bäcker, ein Zuckerl-­ und ein Gemüsegeschäft sowie den Fischhändler auf der Siemensstraße. Wir Schulkinder haben beim Fleisch­hauer immer Extrawurst für nur einen Schilling gekriegt. Im Kiosk in der Wankläckergasse war der Schuster Rotter. Der war richtig alteingesessen. Damals hat man Schuhe nicht oft gewechselt, hat sie jahrelang getragen, und der Rotter hat sie geflickt. (Leo Marek)

Freibad

Im Sommer sind wir ins Kinderfreibad in der Siedlung pritscheln gegangen und zwar gleich im Badegewand und meistens mit Badehaube. Die war unnötig, weil einem beim Hineinspringen das Wasser sowieso unter die Haube und in die Nasenlöcher gekommen ist. Das Freibad war für uns Kinder wirklich etwas Besonderes. Das haben wir alle sehr genossen. Ich kann mich an keine Streitereien erinnern. Es gab auch eine Wiese, aber wir Kinder waren eigentlich immer im Wasser, sind vom Beckenrand hineingesprungen, weil spritzen war interessant und im Hallenbad auch nicht erlaubt. Zu Hause brauchten wir dann nur mehr das Gesicht waschen und Zähne putzen. Wir waren ja schon sauber. (CS)

Linoleum

Was meine Eltern sich in der Wohnung geleistet haben, waren Linoleumböden. Einen grünen in der Küche und einen braunen im Vorzim­mer und im Zimmer. Den hat man natürlich immer aufwa­schen, einlassen und dann glatt bürsten müssen. Um sich das zu erleichtern, hat es so Tackerl mit einer Schlaufe gegeben. In die ist man mit dem Fuß reingefahren und hat gewischt und poliert, bis es dann auch ganz schön rutschig war. Alles, was man ausgeschüttet hat, hat man geschwind wieder wegwischen müssen, weil es sonst Flecken gab. (CS)

Christiane Strobach zog 1951 als Dreijährige mit ihren Eltern in die Siedlung. Nach ihrer Heirat und der Geburt der ersten Tochter blieb die junge Familie noch ein Jahr im Haushalt der Eltern, bis sie in eine Wohnung im angrenzenden Gemeindebau Justgasse umzog. Bis 2014 führten Christiane und ihr Mann Herbert einen Tennis-­ und Eislaufplatz in der Berzeliusgasse.


Leo Marek wurde 1953 geboren, kurz nachdem seine Eltern in die Siedlung Siemensstraße gezogen waren. Hier sind nicht nur er, sondern auch seine Kinder aufgewachsen.  Leo Marek ist der Siedlung treu geblieben und engagiert sich als Mieterbeirat und im Kulturverein ALIWA, auf dessen Initiative die Ausstellung „Terra Nova“ zurückgeht.

Das Buch „Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren. Die Siedlung Siemensstraße in Wien-Floridsdorf“ (Hg: Wolfgang Fichna, Werner Michael Schwarz, Georg Vasold, Susanne Winkler) ist im Mandelbaum Verlag erschienen und um 15 Euro in unserem Online Shop sowie im Wien Museum MUSA erhältlich. Die Ausstellung Terra Nova. 70 Jahre Siedlung Siemensstraße ist in einer der Wohnungen in der Siedlung zu sehen.

 

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