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Christine Dobretsberger, 11.11.2022

Zum 100. Todestag von Carl Michael Ziehrer

Der „wienerischste“ Kapellmeister

Er war der vierte und letzte k. k. Hofballmusikdirektor und stand zeit seines Lebens unter dem Konkurrenzdruck der Strauss-Dynastie. Franz Lehár pries ihn als ein „Wahrzeichen“ von Wien, seine letzten Lebensjahre verbrachte Carl Michael Ziehrer in bitterer Armut.

Am Ende seines Lebens verfügte Carl Michael Ziehrer, dass Einkünfte aus seiner Musik bedürftigen Komponisten und Musikern zugute kommen sollten. Dieses Ansinnen, das 1935 zur Gründung der Carl Michael Ziehrer-Stiftung führte, legt die Vermutung nahe, dass der Komponist an die Zukunft seiner Musik geglaubt hat. 2022, 100 Jahre nach seinem Tod, erklang im Rahmen des Neujahrskonzertes der Wiener Philharmoniker Ziehrers „Nachtschwärmer Walzer, op. 466“. Zwei Jahre zuvor eröffnete der lettische Dirigent Andris Nelsons dieses traditionsreiche Konzert mit der Ouvertüre von Ziehrers Operette „Die Landstreicher“. Ziehrer sollte also Recht behalten mit seiner Prognose, bis heute bereichern einige seiner Werke den ewigen Bestand der Wiener Musik, wenngleich die Strauss-Dynastie – zu Lebzeiten ebenso wie posthum – als übergroße Konkurrenz anzusehen ist. Max Schönherr, ehemaliger Dirigent, Komponist und Musikschriftsteller vermerkte in seiner Ziehrer-Biographie: „Trotz seines reichen Talents laborierte Ziehrer seit jeher nur an dem einen 'Fehler', nicht Strauss zu heißen.“

Michael Ziehrer wurde am 2. Mai 1843 in Wien als Sohn eines Hutmachers geboren. Zunächst erlernte er das Handwerk des Vaters, entdeckte jedoch früh seine musikalische Ader, spielte Klavier und verfasste mit 19 Jahren erste kleine Kompositionen. Carl Michael nannte er sich seit 1863, als er am 21. November mit seiner ersten eigenen Kapelle im Dianabadsaal sein Debüt am Dirigentenpult gab. Dieser doch rasante Aufstieg ist mit mehreren Namen verbunden, allen voran mit dem Musikverleger Carl Haslinger, der sich zu dieser Zeit mit seinen Walzerkomponisten Eduard und Johann Strauss Sohn zu überwerfen begann und auf den jungen Ziehrer aufmerksam wurde. Anstelle der Strauss-Brüder nahm er Ziehrer unter Vertrag und vermittelte ihm musikalische Lehrmeister. Bernhard Spineder vertiefte seine Klavierkenntnisse, die Kunst des Komponierens und Dirigierens erlernte er von Johann Emmerich Hasel, der zu Beginn auch sein Mitdirigent und Mitkomponist war und Ziehrers musikalische Einfälle instrumentierte. Die Instrumentation seiner Werke ließ Ziehrer übrigens zeit seines Lebens von anderen erledigen, was Jahre später zu urheberechtlichen Streitigkeiten mit Hasel führen sollte.

Konkurrenz zur Strauss-Dynastie

Ziehrer besaß eine bemerkenswerte Schaffenskraft und füllte mit seinen Walzern, Märschen und Polkas in kürzester Zeit alle großen damaligen Wiener Etablissements. Zu nennen wären hier beispielsweise seine „Promenadeconcerte“ in den Blumensälen der Gartenbaugesellschaft, seine Auftritte im Ronacher oder im „Ziehrer-Prachtsaal“ des damaligen Grad Etablissements Stalehner in der Jörgerstraße. Aufgrund seiner Beliebtheit beim Publikum, die nicht zuletzt auf sein „typisch wienerisches Wesen“ zurückzuführen war, bildete er eine ernsthafte Konkurrenz zur Strauss-Dynastie, die demzufolge in ihren Konzerten nur selten Werke von Ziehrer spielten. Er selbst war da weitaus großzügiger, Werke der Familie Strauss waren fixe Bestandteile seiner Programme.

Dass Ziehrer am laufenden Band komponierte, hatte ganz pragmatische Gründe. Die Kapellmeister standen damals aufgrund ihrer fast täglichen Konzerte unter dem Druck, dem Publikum stets eine Novität bieten zu müssen. Auch galt es anlassbezogen zu komponieren – in der Regel waren die Widmungen dem Kaiserhaus zugedacht. Im Rahmen seines über 50-jährigen musikalischen Schaffens umfasst Ziehrers Werk insgesamt 566 Opus-Zahlen, daneben 200 undatierte Stücke und 23 Operetten, von denen am ehesten „Die Landstreicher“ (1899), „Der Fremdenführer“ (1902) und „Der Liebeswalzer“ (1908) heute noch Chancen besitzen, zur Aufführung zu gelangen.

Ziehrers Operettenerfolge stehen auch in engem Zusammenhang mit dem Aufblühen des Wiener Musikverlages L. Doblinger in der Dorotheergasse, zumal es ursprünglich seine Operetten waren, die den Verlag dazu ermutigten, sich diesem Metier zu widmen. Eine Komponistengeneration später sollte der Verlag dann u.a. mit den Werken von Franz Lehár, Oscar Straus, Leo Fall und Edmund Eysler große finanzielle Erfolge verbuchen und zu einem der wichtigsten Wiener Operettenverlage avancieren.

Angesichts Ziehrers Erfolge ist es verwunderlich, dass er mehrmals die Zivillaufbahn aufgegeben hatte und Militärkapellmeister wurde. Die konkreten Gründe hierfür sind unbekannt, historischen Erwähnungen zufolge wird vermutet, dass Ziehrer keine allzu gute Hand für Geld hatte, seine Musiker und Arrangeure gut bezahlte und vielleicht auch dem Druck der Strauss-Konkurrenz ein wenig ausweichen wollte. Da schien das Militär sicherer, allerdings trat er nur in Einheiten ein, die in Wien garnisoniert waren. Die Wiener Musikszene war seine künstlerische Heimat, die er nicht verlieren wollte.

Eine Sternstunde für die Militärmusik und für Ziehrer selbst bedeutete seine Ernennung  zum Kapellmeister der Musikkapelle des Infanterieregiments Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 (1885). Seine Leistung als Militärkapellmeister war so beispielgebend, dass in England, Spanien und Amerika nach seinem Vorbild Militärkapellen eingerichtet wurden. Dass diese Ära im Jahr 1893 ein jähes Ende fand, war der Tatsache geschuldet, dass Ziehrer seinen Urlaub für eine Gastreise zur Weltausstellung in Chicago überzogen hatte, wohin er mit seiner eigenen Kapelle eingeladen wurde und groß gefeiert wurde. Warum nicht Strauss diese Einladung nach Übersee zuteil wurde? Weil man für die Schau „Altwien“ den „wienerischsten“ Kapellmeister aus Wien engagieren wollte – und dieser Ruf eilte Ziehrer offensichtlich voraus.

Die größte Ehre im Lauf seiner Karriere war seine Ernennung zum Hofballmusikdirektor. Am 4. Jänner 1907 trat Ziehrer an die Spitze der Hofmusikkapelle, ab 20. Dezember 1908 – zwei Jahre galten als Bewährungsfrist – durfte er den Titel Hofballmusikdirektor führen. Ein Privileg, das zuvor nur Johann Strauss Vater, Johann Strauss Sohn und Eduard Strauss für sich in Anspruch nehmen durften. Nach Eduard Strauss sollte eigentlich dessen Sohn Johann Strauss jun. nachrücken, der jedoch wegen Geldschulden in Konflikt mit dem Gesetz geraten war und daher für dieses Amt nicht mehr infrage kam. Detail am Rande: Bei seinem ersten Hofball soll sich Eduard Strauss unter den Ballgästen befunden haben. Da es für Ziehrer zu Beginn nicht leicht war, der strengen Etikette des Hofprotokolls zu entsprechen, platzierte sich Strauss im Saal gegenüber dem Orchester und gab Ziehrer durch Zeichen manchen guten Rat. Eine doch überraschende Geste in dem bisher angespannten Verhältnis der beiden „Fürsten im Reich der Tanzmusik“. Als versöhnlich wird auch die letzte persönliche Zusammenkunft beschrieben. Die Initiative ging damals vom 80-jährigen Eduard Strauss aus, der ein Jahr vor seinem Tod Ziehrer um einen Besuch bat.

Pleite dank Kriegsanleihen

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie ging es mit Ziehrers Karriere und Gesundheit stetig bergab. Seinen Lebensabend verbrachte Ziehrer in bitterer Armut, zumal er, dem ersten Appell des Vaterlandes folgend, seine Ersparnisse in Kriegsanleihen angelegt hatte. Ziehrer geriet immer mehr in Vergessenheit, ein kurzes Aufflackern erfolgte lediglich anlässlich seines 75. Geburtstags (1918), als er von Kaiser Karl I. das Ritterkreuz des Franz-Josephs-Ordens verliehen bekam und eine Vielzahl an Gratulationsschreiben einlangten. In einem Dankesbrief an Adele Strauss, der Witwe von Johann Strauss Sohn, schreibt der zu diesem Zeitpunkt schon sichtlich verbitterte Ziehrer: „Es ist immer mehr und mehr deutlich zu sehen, dass Johann Strauss nie einen würdigen Nachfolger bekommen wird. Täuschen wir uns nicht, es gibt keine original Wienermusik mehr. Mit Johann Strauss schon wurde sie begraben, wenn ich auch versucht habe, sie wenigstens halbwegs zum Schein auf der Bühne zu halten. Aber auch ich bin müde geworden und sage Schicksal gehe deinen Lauf.“

Aus musikgeschichtlicher Perspektive bis heute bemerkenswert ist Ziehrers Position am Wendepunkt vom sogenannten Goldenen zum Silbernen Zeitalter der Operette. Ziehrer war der letzte Vertreter der alten Zeit und stand nach dem Tod von Franz von Suppé (1895), Carl Zeller (1898), Johann Strauss Sohn (1899) und Carl Millöcker (1899) für wenige Jahre in der ersten Reihe der Wiener Operettenkomponisten, ehe die nachfolgende Generation rund um Franz Lehár, Oskar Straus und Edmund Eysler einen neuen Operettenboom auslöste.

Ziehrers letzte Komposition war das Lied „Mein Herz lass' ich in Wien zurück“, das anlässlich der Premiere des Films „Carl Michael Ziehrer, der letzte Walzerkönig“ am 24. Oktober 1922, drei Wochen vor seinem Tod, erstmals erklang. Am 14. November 1922 verstarb Carl Michael Ziehrer in seiner Wohnung in der Landstraßer Hauptstraße, die Beisetzung erfolgte in einem Ehrengrab der Stadt Wien am Zentralfriedhof, nahe den letzten Ruhestätten von Lanner und Strauss.

Begibt man sich heute in Wien auf Spurensuche, führt ein Weg in die Prater Hauptallee, wo sich das im Auftrag des Wiener Ziehrer-Bundes vom Bildhauer Robert Ullmann geschaffene Ziehrer-Denkmal befindet, das am 1. Oktober 1960 enthüllt wurde. Im dritten Bezirk wurde der ehemalige Rochusplatz in Ziehrerplatz (1933) umbenannt. Ein Teil seines Nachlasses ist im Theatermuseum am Lobkowitzplatz verortet (Fotos, Korrespondenz mit seiner Frau Marianne Ziehrer, Rezensionen, Konzertzettel etc.) und für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit dem Film „Wiener Mädeln“ (1949) schuf Willi Forst für Carl Michael Ziehrer ein mit Hans Moser, Judith Holzmeister und Curd Jürgens prominent besetztes cineastisches Denkmal.

Literatur:

Richard H. Kastner: Die Wiener Hofburg unter Kaiser Franz Joseph, Berndorf  2016

Max Schönherr: Carl Michael Ziehrer. Sein Werk – sein Leben – seine Zeit, Wien 1974

Martin Trageser: Millionen Herzen im Dreivierteltakt. Die Komponisten des Zeitalters der „Silbernen Operette“, Würzburg 2020

Viktor Wallner: Josef Lanner und Carl Michael Ziehrer. Zwei Walzerfürsten in Baden, Baden 1993

Christine Dobretsberger, geboren 1968 in Wien. Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften und Philosophie an der Universität Wien. Langjährige Kulturredakteurin der „Wiener Zeitung“. Initiatorin der Gesprächsreihe „Wiener Salongespräche“ und „Seelenverwandte“. Seit 2005 freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Ghostwriterin und Herausgeberin von Texten. Sie ist Gründerin der Text- und Grafikagentur „linea.art“ (www.lineaart.at) und befasst sich schwerpunktmäßig mit kulturellen Themen.

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