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Peter Stuiber, 24.8.2021

Zum 170. Geburtstag des Forschungsreisenden Charles Wiener

Wien – Paris – Peru

Charles Wiener leitete in den 1870er Jahren eine Expedition durch Peru und Bolivien – und sammelte tausende Artefakte der indigenen Bevölkerung. Ein Großteil gehört heute dem Pariser Musée du Quai Branly, über 130 Objekte befinden sich in der Sammlung des Weltmuseum Wien. Geboren wurde Karl/Charles Wiener am 25. August 1851 in Wien, umstritten war er schon zu Lebzeiten.

Wie kommt man auf Charles Wiener? Zum Beispiel durch die Lektüre von Patrick Devilles Buch „Amazonia“, in dem der französische Reiseschriftsteller einen Spaziergang in der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil erwähnt: „Die Promenade war gespickt mit zahlreichen Bronzestatuen von berühmten Männern der Stadt, wir lasen ihre Namen und hätten uns nicht gewundert, unseren Vize-Konsul Charles Wiener zu finden, einen aus Österreich stammenden Diplomaten, der aus Lust am Abenteuer Franzose geworden war und auf der Suche nach Handelswegen von Guayaquil aus Amazonien erforscht hatte, Autor einer ´Karte der Entwicklung und des Fortschritts`, die er ans französische Außenministerium sandte, gestorben in Rio de Janeiro 1913.“

Die Neugierde ist geweckt, die Skepsis gegenüber einer Heldengeschichte jedoch ebenso. Ein Abenteurer mit guten Absichten im Namen des Fortschritts? Die verfügbaren Quellen zur Person von Charles Wiener sind einigermaßen überschaubar, im Mittelpunkt steht meist die fast 800-seitige Publikation „Pérou et Bolivie“ mit über 1000 Abbildungen und zahlreichen Karten, die 1880 im Verlag Hachette & Cie in Paris erschienen ist. Ein Meilenstein? Ein Meisterwerk? So scheint es zunächst, wenn man der Rezension in der „Neuen Freien Presse“ vom 30. Juli 1880 Glauben schenkt: „Der gelehrte Pariser Professor, Herr Charles Wiener, hat mit seinem jüngst erschienenen Werke: `Pérou et Bolivie` eine bisher von allen Archäologen und Ethnographen tief gefühlte Lücke ausgefüllt, ein Werk, das mit seinen zahlreichen trefflichen Illustrationen, der glänzenden und doch ganz sachgemäßen Darstellung geeignet ist, ein interessantes und in mancher Beziehung von einem Lande und dessen Vergangenheit zu geben, dem man in Europa noch immer nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hat.“

Wie kam der junge Mann, der 29 Jahre zuvor als Sohn von Samuel und Julia Wiener (geb. Mahler) in Wien geboren worden war und bis zu seiner Übersiedlung nach Paris (nach dem Tod des Vaters) am Rennweg 79 gewohnt hatte, zu solchen Ehren? Aus welchen Gründen nahm die berufliche Laufbahn des jungen Österreichers in Paris deartig Fahrt auf? Entscheidender Faktor dürfte die Bekanntschaft mit Léonce Angrand gewesen sein, einem französischen Diplomaten im Ruhestand, der selbst als junger Mann in den 1830er Jahren u.a. nach Peru gelangt war. Angrand empfahl Wiener, der als Professor für deutsche Sprache am berühmten Lycée Condorcet unterrichtete, dem Baron de Watteville, Direktor für Wissenschaften im Unterrichtsministerium. 1875 wurde Wiener mit einer wissenschaftlichen Expedition nach Peru und Bolivien beauftragt, die zwei Jahre dauern sollte. Hintergrund dieser Mission dürfte die Pariser Weltausstellung 1878 gewesen sein, auf der man die gesammelten bzw. erbeuteten Artefakte dann zu zeigen gedachte.

Die Reise führte Wiener von der brasilianischen Provinz Santa Catarina aus durch die Magellanstraße und dann entlang der Küste Chiles nach Peru und Bolivien. Über 4000 Gegenstände unterschiedlichster Herkunft hat er dabei zusammengetragen und unzählige archäologische Stätten dokumentiert. Die „Entdeckung“ der berühmtesten Inka-Stadt – Machu Picchu – blieb ihm freilich verwehrt, diesen fragwürdigen Pokal errang fast vierzig Jahre später Hiram Bingham. Ob Wiener tatsächlich die Besteigung des Südostgipfels des Illimani, des zweithöchsten Berges Boliviens, gelungen ist, wie er ausführlich in seinem Buch darlegt? Dieser Gipfelsieg wird jedenfalls von Théodore Ber angezweifelt, der allerdings Wieners schärfster Konkurrent war und ebenfalls von der französischen Regierung einen Forschungs– und Sammelauftrag hatte. 1878 wurde Wieners „Schatz“ aus Peru und Bolivien auf der Pariser Weltausstellung gezeigt und zu einem großen Teil dem Musée d'Ethnographie du Trocadéro übergeben, das im gleichen Jahr gegründet wurde und zu dessen Grundstock Wieners Sammlung erheblich beigetragen hat. Heute gehören die Objekte großteils dem Musée du Quai Branly, dem Prestigeprojekt von Jacques Chirac.

Doch nicht nur Frankreich profitierte von Wieners Expedition, sondern auch deutsche Museen – und die kaiserlichen Sammlungen in Wien. Im Bestand des heutigen Weltmuseum Wien befinden sich über 130 Artefakte, die aus Wieners Sammlung stammen und offenbar über die Vermittlung seines Bruders in die Geburtsstadt des Wahlfranzosen gelangt sind. Sieht man von der aktuell intensiv geführten Debatte über die Problematik bei der Provenienz vieler ethnografischer (Museums-)Sammlungen einmal ab, stellt sich aus wissenschaftlicher Sicht vor allem die Frage, welche Bedeutung Wiener als Forscher zukommt.

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Tonfigur (Peru) aus dem Bestand des Weltmuseum Wien (Sammler: Charles Wiener), Foto: KHM-Museumsverband

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Schelle aus dem Bestand des Weltmuseum Wien (Sammler: Charles Wiener), Foto: KHM-Museumsverband

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Flöte (Peru) aus dem Bestand des Weltmuseum Wien (Sammler: Charles Wiener), Foto: KHM-Museumsverband

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Die entsprechende Bilanz von Expert*innen fällt durchwegs kritisch aus. So antwortet etwa Berthold Riese, emeritierter Professor für Altamerikanistik und Ethnologie in Berlin und Bonn, auf Anfrage folgendermaßen: „Wiener hat Machu Picchu nie gesehen und nach Hörensagen – die Ruinenstätte war den Einwohnern der Umgebung schon immer bekannt – die Stadt auf seiner kartographischen Skizze in zwei Teile zerrissen auf zwei verschiedene Seiten des Urubamba-Tales platziert. Sein Buch von 1880 ist, auch verglichen mit zeitgenössischen deutschen Büchern über Südamerika, unbedeutend, weil ungenau, unzuverlässig und (vom dokumentarischen und künstlerischen Standpunkt aus) schlecht illustriert.“ Wiener sei schlampig mit Informationen umgegangen, daher könne seine Sammlung auch schwer rekontextualisiert werden, so Riese.

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Eine ähnliche Einschätzung liefert ein Gutachten von Lucille Langlois, das vom Weltmuseum Wien übermittelt wurde. Darin heißt es: „Wie viele frühe Archäologen war Wiener keinesfalls präzise oder wissenschaftlich in seiner Arbeit. Man ist sich einig darüber, dass er behauptete, Orte gesehen zu haben, die er nicht bereist hat oder bereisen konnte.“ Er habe ferner die Leistungen anderer – vor allem auch lokaler Experten – heruntergespielt und deren Erkenntnisse als die seinen ausgegeben. Objekte, die er anderen abgekauft hat, soll Wiener als eigene Funde ausgegeben haben, Vermutungen und Hypothesen habe er als Fakten präsentiert.

Ruhm und Ehre

In die gleiche Kerbe schlägt auch der Kulturwissenschaftler Simon Weber-Unger in dem Buch „Reisen, so sagt man, ist eine Wissenschaft“ (2012): „Wiener behauptet in seiner Publikation mehrfach, er fotografiere selbst, was sich allerdings bei genauerer Prüfung nicht beweisen lässt, zu Widersprüchen führt und zeitgenössisch, zumindest in einem Fall von Moritz Alphons Stübel (1835-1904) widerlegt wird. Vielmehr verwendete er Fotografien anderer Fotografen wie z.B. von den Gebrüdern Courret aus Lima, Ricardo Villalba und eben von Georg von Grumbkow als Vorlagen für seine zahlreichen Abbildungen.“ Der berühmte peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa wirft Wiener in seinem Roman „Der Geschichtenerzähler“ gar Leichenfledderei vor. Der Forschungsreisende dürfte – wie viele andere Kollegen – in seinen Methoden jedenfalls nicht zimperlich gewesen sein, wenn es um Ruhm und Ehre ging.

Wieners Erbe

Immerhin habe er zur öffentlichen Sichtbarmachung der Kultur und Geschichte Perus und Boliviens beigetragen, könnte man – wie Lucille Langlois in ihrem Gutachten – einwenden. Die Bestände vor allem von französischen Museen wären bedeutend ärmer, hätte Wiener nicht so viel gesammelt. Popularität erreichte der Forschungsreisende jedenfalls auch mit seiner prunkvollen Publikation über Peru und Bolivien. So ließ sich auch der Comiczeichner Hergé für den „Tintin“- (dt.: „Tim und Struppi“)-Band „Der Sonnentempel“ von Wiener inspirieren – und übernahm von ihm bezeichnenderweise Falschinformationen, wie findige „Tintin“-Kenner dokumentiert haben (dass Hergé für seine stereotypen und rassistischen Darstellungen kritisiert wurde, sei hier nur nebenbei erwähnt).

Nach seiner zweijährigen Forschungsreise und der Präsentation in Paris schlug Wiener eine Diplomatenkarriere ein. 1878 wurde er französischer Staatsbürger, in den folgenden Jahrzehnten war er u.a. als Konsul in Chile, Mexiko, Paraguay, Bolivien, Uruguay und Venezuela tätig. 1908 erfolgte Wieners Aufnahme in die französische Ehrenlegion, 1910 die Versetzung in den Ruhestand. 1911 veröffentlichte er noch ein Buch namens „333 jours au Brésil“ über seine Erfahrungen als Forschungsreisender in Brasilien, zwei Jahre später starb er in Rio de Janeiro. In einem Nachruf des „Journal de la société des américanistes“ weist der Anthropologe René Verneau auf Wieners reiche Sammlertätigkeit, aber vor allem auch auf die gravierenden Probleme bei seinen Methoden hin, um dann fast entschuldigend mit dem Satz zu schließen: „In der Wissenschaft sollte man – unserer Meinung nach – niemals in Erwägung ziehen, Fehler nicht kenntlich zu machen oder gar kontinuierlich die Wahrheit zu verschleiern.“

Der Autor dankt Berthold Riese (Universität Bonn) und Claudia Augustat (Weltmuseum Wien) für wertvolle Hinweise zu Charles Wiener.

Charles Wieners Buch Péru et Bolivie ist online bei der Österreichischen Nationalbibliothek verfügbar.

Eine Kurzbiografie Wieners und Stationen seiner Expedition sind u. a. auf Wikipedia (France) nachzulesen.

Das Musée du Quai Branly zeigt online über 1000 Objekte aus der Sammlung von Charles Wiener.

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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Kommentare

Redaktion

Sehr geehrter Herr Prihoda, vielen Dank für den Hinweis! Sehr interessant! Werden wir uns sofort bestellen! Beste Grüße, Peter Stuiber (Wien Museum Magazin)

Manfred Prihoda

Zum jetzt 172. Geburtstags is ein Buch der Ururenkelin erschienen, die sich auf Spurensuche nach ihrem Ururgroßvater begab. Die Autorin, Gabriela Wiener, aus Peru, welche jetzt in Madrid lebt, nennt ihr Buch "Huaco retrato". Die englische Übersetzng des Buches trägt den Titel "Undoscovered". Im Zusammenhang sicherlich lesenswert.

Peter Stuiber

Sehr geehrter Herr Maryška, ob sie sich persönlich gekannt haben, ist mir nicht untergekommen, aber Wiener kannte Tschudis Forschungen und hat ihn auch in seinem Buch zitiert, siehe: https://digital.onb.ac.at/OnbViewer/viewer.faces?doc=ABO_%2BZ290256403
Beste Grüße, Peter Stuiber

christian maryška

Gab es auch Berührungspunkte mit Johann Jakob von Tschudi bzw. haben sich die beiden gekannt?