Website Suche (Nach dem Absenden werden Sie zur Suchergebnisseite weitergeleitet.)

Hauptinhalt

Susanne Winkler, 6.9.2024

Zur Geschichte des Flohzirkus

Eine Prater-Attraktion en miniature

Einen Flohzirkus zu bändigen, erfordert die Kunstfertigkeit eines Feinmechanikers. Im 18. Jahrhundert begann man sich für diese tierische Kuriosität auch in Wien zu begeistern: Ein historischer Blick durch die Lupe – inklusive zoologischer und erotischer Floh-Fakten.

Was könnte die letzte Frage im Angesicht des Todes sein? In S. Craig Zahlers schwarzhumorigen Horror-Western Bone Tomahawk (USA 2015), in dem mehrere Männer und eine Frau in die Gewalt von Kannibalen geraten und einen grausamen Tod vor Augen haben, hat der betagte Hilfssheriff Cicory noch eine letzte Frage: Gibt es im Flohzirkus wirklich Flöhe? Diese (letzte) Frage ist mit freiem Auge tatsächlich nicht zu klären. Auch kleine Maschinen können Flohbewegungen vortäuschen und in der Kunst des Flohzirkusdirektors liegt es dann, beim Publikum diesen Verdacht zu zerstreuen.

Als Attraktion auf Volksfesten und Jahrmärkten ist der Flohzirkus seit Anfang des 18. Jahrhunderts verbreitet. Die Vorstellungen finden in kleinen, quadratischen Festzelten, in einfachen Schaustellerbuden oder im Freien statt. Die Einrichtung besteht aus einem Tisch mit einer hell beleuchteten weißen Oberfläche. Der Zirkusdirektor steht im Mittelpunkt der Attraktion, seine Aufgabe ist es, das Publikum auf seine Flohartisten einzustimmen. Die Zuschauer:innen stehen oder sitzen rundherum, ihre Zahl ist aufgrund der Kleinheit der Bühne und vor allem der Artisten beschränkt. Flöhe sind nur zwischen 2,5 bis 3,5 Millimeter lang und federleicht. Ein ganzer Flohzirkus mit Bühne, Kostümen, Wägen, Karussellen und Trapezen lässt sich in einem Koffer verstauen.

Die Erfindung des Mikroskops hatte auf den Flohzirkus nicht unwesentlichen Einfluss, ermöglichte es doch die Präsentation mikroskopischer Abbildungen von Insekten, Milben und anderen kleinsten Lebewesen wie eben auch von Flöhen. Mithilfe eines sogenannten Flohglases, einer Kombination von vergrößernden Linsen, konnte der Flohzirkusdirektor nun einem staunenden Publikum seine Artisten in einer zehn- bis dreißigfachen Vergrößerung als „curieuse Augenergötzung“ erstmals auch persönlich und namentlich vorstellen. Meist handelt es sich um weibliche Menschenflöhe, die größer und stärker als ihre männlichen Artgenossen sind, um Parasiten, sechsbeinige Blutsauger mit einem kleinen Steck- bzw. Saugrüssel und einem ziemlich vergrößerten Hinterteil, von einem starken Panzer umschlossen.

Flöhe sind flügellose Insekten, deren hinteres Beinpaar sehr kräftig und etwas verlängert ist, wodurch sie bis zu einem Meter weit und circa 30 Zentimeter hoch springen können. Im Verhältnis zum Menschen käme das einem Sprung über das Hauptschiff des Kölner Doms gleich. Flöhe sind auch besonders stark: So vermögen sie das 20.000-Fache ihres eigenen Gewichts zu ziehen. Die Lichtscheu treibt sie an, macht das Tempo.

Es gibt Pelz- und Nestflöhe, Erstere bleiben ihrem Wirt treu, reisen in dessen Fell mit. Die Nestflöhe hingegen bevorzugen dunkle und trockene Orte, die sie nur nachts verlassen, um ihren Wirt aufzusuchen und zu fressen. Weltweit gibt es 2.000 unterschiedliche Floharten, sie werden zwischen mehreren Wochen und circa eineinhalb Jahre alt.

Flöhe lassen sich nicht dressieren. Sie werden eingefangen, beobachtet, in Springer und Läufer eingeteilt und dann – die wohl eigentliche Kunst – gebändigt. Einen Flohzirkus zu bändigen ist sprichwörtlich nur mit der Beaufsichtigung einer Schar übermütiger Kinder vergleichbar. Um die Flöhe in Schach zu halten, vor allem aber um mit ihnen an der Einstudierung der Kunststücke ‚arbeiten‘ zu können, bekommen sie ein Geschirr angelegt. Dabei wird mithilfe einer Lupe und einer Pinzette ein Bindfaden um den Brustpanzer gebunden und mit einem Silberdraht verlängert, um den Floh per Deichsel vor einen kleinen Wagen spannen bzw. ein Karussell ziehen lassen zu können. Der Zirkusdirektor muss also die Kunstfertigkeit eines Feinmechanikers besitzen. Und so klingt es plausibel, dass die ersten Flohzirkusdirektoren Uhrmacher aus der Schweiz gewesen sein sollen. Man denke nur an den Bau der kleinen Wägen, ihre kunstvolle Ausführung, an die Leiterwägen, Feuerwehrleitern, Straßenwalzen oder römischen Kampfwagen und vor allem an die winzigen Körper der Flöhe. An die Fingerfertigkeit, den millimeterkleinen Tieren Kostüme zu schneidern und vor allem anzulegen, sie mit bunten Papierschirmen zu schmücken, um sie zu Orgelmusik tanzen zu lassen.

E. T. A. Hoffmann schrieb in seiner 1822 erschienenen Erzählung Meister Floh – Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde: „Erst wenn man den ganzen Tisch mit einem guten Vergrößerungsglase überschaute, entwickelte sich die Kunst des Flohbändigers in vollem Maße. Denn nun erst zeigte sich die Pracht, die Zierlichkeit der Geschirre, die feine Arbeit der Waffen, der Glanz, die Nettigkeit der Uniformen und erregte die tiefste Bewunderung. Gar nicht zu begreifen schien es, welcher Instrumente sich der Flohbändiger bedient machen musste, um gewisse kleine Nebensachen, z. B. Sporn, Rockknöpfe usw. sauber und proportionierlich anzufertigen, und seine Arbeit, die sonst für das Meisterstück des Schneiders galt und die in nichts Geringerem Bestand, als einem Floh ein Paar völlig anschließende Reithosen zu liefern.“ Aber damit noch nicht genug, der Zirkusdirektor kümmert sich auch persönlich um die Verpflegung der Flöhe, ein intimer Akt, der auch oft den Höhe- und Abschluss einer Vorstellung darstellt. Dabei legt der Zirkusdirektor die meist erschöpften Artist:innen auf seinem Unterarm, lässt sie ausruhen, und ermuntert sie damit, zuzustechen und Blut zu saugen. Wem läuft da nicht ein kleiner Schauer über den Rücken?

Anfang des 19. Jahrhunderts werden die Nachrichten über den Flohzirkus häufiger. Zu den berühmtesten zählten Cucchiani, um 1840 in Paris, Obicini in Neapel oder der Italiener I. Bertolotti, der 1873 von London aus eine Gastspielreise nach New York unternommen hatte. Sein Programm bot einen Ballsaal, in dem Flöhe, als Damen und Herren gekleidet, Walzer tanzten. Es gab russische Schaukeln, einen Brunnen mit Flöhen als Wasserzieher, ein Floh-Duell oder eine Wahrsagerin, dargestellt von einem Floh.

J. P. d’Herculais, Forscher des Naturhistorischen Museums in Paris, erarbeitete für den 1882 erschienenen Insektenband von Brehms Tierleben eine ausführliche Darstellung des Flohzirkus sowie der „Floh-Literatur bzw. „Poesie“. Man erfährt, dass der Flohzirkus eine lange und bedeutende Geschichte hat, seine Wurzeln bis weit ins 16. Jahrhundert zurückreichen. In einer Vielzahl von Dichtungen, Satiren, Fabeln, Grotesken und Humoresken malen sich nach mittelalterlichem Vorbild vor allem französische und italienische Dichter aus, wie wunderbar es wäre, selbst in die Rolle des Flohs zu schlüpfen, um am Busen, am Körper der Auserwählten herumzukrabbeln. Lobhymnen auf den Floh und seine schöne Trägerin entstanden. Berühmt wurde aus der Sammlung galant erotischer Verse Der Floh der Madame Des Roches, einer französischen Schriftstellerin und Salonniere (1520–1587).

Diese Verehrung löste aus, dass verliebte Kavaliere einen bei ihrer Schönen ergatterten Floh in Medaillons um den Hals trugen. Um etwa 1700 wurde auf den Märkten der Metropolen nicht nur mit Singvögeln und Schoßhunden gehandelt, sondern auch mit Flöhen.

Im deutschen Sprachraum gab es die Anschauung, dass Flöhe Frauen als Wirtinnen bevorzugen bzw. eine erotische Beziehung zwischen ihnen herrsche. Der Floh als Bewohner intimer weiblicher Körperstellen oder etwa die Vorstellung einer völlig entkleideten Flohjagd führte zur Verbreitung einer eher derben und vulgären Schwankliteratur. Den Höhepunkt stellte das 1577 veröffentlichte, über 4.000 Verse enthaltende Epos Flöh Hatz, Weiber Tratz von Johann Fischart dar.

Im Allgemeinen werden dem Floh Eigenschaften wie Schnelligkeit, Witz, Intelligenz, Wollust oder Promiskuität zugeschrieben. Der Floh als lästiger Parasit, als ungewollter und gefährlicher Begleiter des menschlichen Lebens, seine unrühmliche Rolle bei der Verbreitung der Pest sind zwar heute kein Thema mehr, aber nicht vergessen.

Für den Wiener Prater sind Flohzirkusse auf historischen Fotografien und in Zeitungsannoncen und Berichten bis Ende der 1940er Jahre belegt. Zum Teil lassen sie sich über Praterhütten-Nummern verorten, zum Teil fanden sie aber mobil und unter freiem Himmel statt, wie eine Bildpostkarte um 1900 illustriert. In der zeitgenössischen Presse wurde jedoch bereits ab den späten 1920er Jahren immer wieder – und meist anlässlich der jährlichen Pratersaisoneröffnung im März – vom Verschwinden des Flohzirkus bzw. dem letzten im Prater noch bestehenden berichtet. Die Kleine Volkszeitung schrieb am 18. März 1928: „Der Flohzirkus im Prater besteht nicht mehr. Warum die Flöhe unmodern wurden? Niemand weiß die Abgründe der Publikumsseele zu deuten. Wenn man den Star der Flohkünste fragte, so würde er wahrscheinlich antworten, daß die heutige Welt eben für wahre Kunst nichts mehr übrig hat.“ Und im Neuen Wiener Tagblatt vom 11. März 1928 hieß es: „Der Flohzirkus besteht nicht mehr. Arme Flöhe! Sie haben sich selbst überlebt. Sie passen nicht mehr in unsere moderne Zeit.“ In eine Zeit, so meinte der Autor, in der der Traum vom eigenen Auto den Menschen zu beherrschen beginne und das Autodrom die neueste Praterattraktion darstelle. Tatsächlich wurde 1926 das erste Autodrom im Prater eröffnet. Zudem gab es Autorennbahnen und mehrere Autokarusselle für Kinder, wo die eigenen „Chaffeurskünste“ erprobt und mit anderen gemessen werden konnten.

Spätestens um 1960 waren Flohzirkusse fast überall verschwunden. Unter den wenigen, die es noch gibt, ist der Flohzirkus Birk der wohl bekannteste, der auch als Europas ältester Flohzirkus gilt. Man kann ihn buchen, er tourt als nostalgische Attraktion bei Stadtfesten, in Museen, auf Hochzeiten oder Geburtstagsfeiern, bei Kleinkunst- und Firmenevents durch ganz Deutschland. Vor allem das Münchner Oktoberfest ist eine feste Destination.

 

Hinweis: Dieser Text stammt aus der Publikation Der Wiener Prater - Labor der Moderne. Politik, Vergnügen, Technik, die im Zuge der Neueröffnung des Pratermuseums erschienen ist. Von 13. bis 15. September 2024 ist das Pratermuseum anlässlich der Benennung des Pratermuseumplatzes im Rahmen eines Open Houses frei zu besichtigen. Das umfangreiche Begleitprogramm im Überblick gibt´s hier.

Quellen:

Der vorliegende Artikel verdankt wesentliche Informationen dem kompetenten Überblickstext des Entomologen Herbert Albrecht Weidner: Der Flohzirkus und seine vierhundertjährige poesiereiche Geschichte, in: Entomologische Mitteilungen aus dem zoologischen Museum Hamburg 10 (1991) 143, S. 139–151.

www.flohzirkus-birk.de (23.8.2023).

de.wikipedia.org/wiki/Flöhe (23.8.2023)

Johann Fischart: Flöh Hatz, Weiber Tratz, Stuttgart 1967.

E. T. A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweyer Freunde, Wien 1825, S. 40.

Hans Pemmer, Ninni Lackner: Der Wiener Prater einst und jetzt (Nobel- und Wurstelprater), Wien 1935, S. 156ff.

Susanne Winkler, Historikerin, Kuratorin am Wien Museum. Publikationen und Ausstellungen mit Schwerpunkt Stadt- und Fotografiegeschichte.

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Keine Kommentare