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Sándor Békési, 22.10.2021

Zur Umgestaltung des Naschmarkts

Naschmarkt neu und ohne Großhalle – anno 1916

Neben den Bauten Otto Wagners gibt es in diesem Areal auch ein weiteres denkmalgeschütztes Ensemble, das bei einer allfälligen Verbauung des Parkplatzes, mit oder ohne Halle, architektonisch Berücksichtigung finden sollte: die Pavillons des 1916 errichteten „Neuen Naschmarkts“.

Eine bislang kaum bekannte Fotoserie in der Sammlung des Wien Museums dokumentiert die damalige Anlage – einschließlich jenes „Großmarkts“, der bis 1974 anstelle des heutigen Flohmarkts bestand. Doch blicken wir zunächst auf die Situation des Areals um 1900. Der Wiener Naschmarkt gelangte erst in mehreren Etappen vom Beginn der Wiedner Hauptstraße an seinen heutigen Standort an der Wienzeile. Eine Einwölbung des Wienflusses und der Stadtbahntrasse hatte man um die Jahrhundertwende für diesen Zweck nur bis zur Schleifmühlgasse vorgenommen. 1902 wurden von der Secession ausgehend Marktpavillons in drei parallelen Zeilen angeordnet und damit im Wesentlichen der bis heute typische Straßencharakter des Marktes bereits vorweggenommen. Für einen neuen und erweiterten Naschmarkt erfolgte die fortgesetzte Einwölbung der Wien ab 1913 bis zur Magdalenenbrücke oder heutigen Steggasse.

Überlegungen, für den Naschmarkt eine moderne große Markthalle zu errichten, gab es bis zuletzt. Allerdings war eine solche ohne die Regulierung des Freihauses, zumal mit Unterkellerung über dem Wienfluß und der Bahnanlage, räumlich und technisch nur schwer auszuführen gewesen. Hinzu kam in diesem Fall speziell, dass sich bald ein massiver öffentlicher Druck gegen den Bau einer geschlossenen Halle aufbaute. Vor allem die Markthändler*innen bzw. Standler*innen selbst, deren Meinung 1914 auch im Zuge einer kommissionellen Probeaufstellung eingeholt wurde, sollen einen möglichst offenen Markt mit kleineren Blöcken und vielen Durchgängen gefordert haben. So wurde schließlich die Ausführung von gruppierten Verkaufsständen, wie wir sie kennen, beschlossen.

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Für die künstlerische Neugestaltung des vergrößerten Naschmarkts zeichnete der in späthistoristischer Tradition ausgebildete Architekt Friedrich Jäckel verantwortlich. Jäckel war im Wiener Stadtbauamt von 1901 bis 1926 tätig und war unter anderem an der Planung des 1914 eröffneten Jörgerbades (des ersten städtischen Hallenbades von Wien) beteiligt oder lieferte den Entwurf für den Döblinger Steg über den Donaukanal (erbaut 1910/11). Für das Naschmarkt-Areal erstellte er ein einheitliches Marktkonzept. Dieses sah zwei bis drei Verkaufsstraßen mit einer repräsentativen Mittelzeile sowie halboffene Hallen bzw. Pavillons zur Unterbringung der Marktstände vor. Die Anlage des Detailmarktes (auch „Kleinmarkt“ genannt) schloss mit dem Marktamtsgebäude als einem Kopfpavillon bei der Kettenbrückengasse. Insgesamt zählte man im Eröffnungsjahr 57 Baugruppen mit rund 900 Verkaufszellen. Insgesamt kann der neue Naschmarkt von 1916, mit den späteren Worten von György Sebestyén, auch als ein Versuch gesehen werden, das „dem Naschmarkt eigene Fluidum baulich zu fixieren“. 

Der dabei gewählte architektonische Stil wurde im zeitgenössischen offiziellen Naschmarkt-Führer als „biedermeierisch“ bei einer gleichzeitig „neuen Utilitätsbauweise“ beschrieben. Jedenfalls scheint er keine allzu große öffentliche Debatte ausgelöst zu haben, was möglicherweise auch daran lag, dass die Neueröffnung in ein Kriegsjahr fiel. Charakteristisch für die Anlage sind etwa die Glockendächer und die rundbogigen Durchgänge. Das Lexikon des Architekturzentrums meint heute zu Jäckels Werk an der Wienzeile: „Trotz zahlreicher Veränderungen vermittelt der Markt bis heute den späten Charme des Wiener Fin-de-Siècle.“

Wie jede Modernisierung ging auch die Errichtung des neuen Naschmarkts mit Gewinnen und Verlusten einher. So war dieser – neben praktischen Vorteilen für Marktleute und Publikum wie etwa elektrischer Beleuchtung oder besserem Schutz gegen Winter und Wetter – auch als ein Akt der Vereinheitlichung und Normierung anzusehen. Die Vielfalt oder Unordnung (je nach Lesart) altertümlicher, selbstgezimmerter Marktstände, die damals wie heute bei vielen nostalgische Gefühle evozieren und in zahlreichen Publikationen vom „alten Naschmarkt“ verewigt sind, war damit größtenteils vorbei.

Dabei reichte Anlage des neuen Naschmarkts nicht nur bis zur heute bekannten Grenze bei der Kettenbrückengasse. Stadtauswärts setzte sich der „Großmarkt“ für Obst und Gemüse fort. (Im Anschluss an diesen kamen die Standplätze für sogenannte „Landparteien“, sprich Bauernmarkt.) So standen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stadtbahnstation bereits 1916 auch größere Marktgebäude und prägten das Stadtbild in diesem Bereich mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Sie nahmen der Stadtbahnstation (heute U4) zwar ihre solitäre Stellung, gleichzeitig schienen die Bauten des Großmarkts auf den damals noch relativ „frischen“ Otto-Wagner-Bau in ihren Proportionen durchaus Rücksicht zu nehmen. Eine Aufnahme, welche die Station Kettenbrückengasse zusammen mit den Pavillons bzw. Marktgängen des Großmarktes zeigt, ist in den hier behandelten Fotoserien nicht vertreten und ist bemerkenswerterweise überhaupt – auch aus späterer Zeit – eher selten.

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Dieser Großmarkt wurde erst 1972-74 nach Inzersdorf abgesiedelt und seine Gebäude demoliert (heute ist davon lediglich der gemauerte Kioskbau der „Würstelhütte“ bei der Joanelligasse erhalten). An seiner Stelle wurde ein – tatsächlich „provisorisch“ gedachter, aber bis heute bestehender – großflächiger Parkplatz eingerichtet. Auf diesen transferierte man ab 1977 vom Platz Am Hof den samstäglichen Flohmarkt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dergestalt eine neue Tradition an der Wienzeile.   

Wie auch bei anderen großen kommunalen Bauprojekten dieser Zeit beauftragte die Stadt Wien professionelle Fotograf*innen mit der Dokumentation der Bauarbeiten und der fertigen Anlagen. In unserem Fall war es vor allem die Firma Kilophot (Fabrik photographischer Papiere und Kunstanstalt), die im Jahr 1917 für das Stadtbauamt eine Reihe von Aufnahmen vom neu errichteten und erweiterten Naschmarkt erstellte. Vier Aufnahmen hatte man zugleich etwas aufwendiger für Bürgermeister Richard Weiskirchner persönlich ausgeführt. Sie gelangten nach seinem Ausscheiden aus dem Amt bereits 1919 als Spende in die Sammlung, die restlichen erst 1926 als Überlassung vom Stadtbauamt (damals MA 22, nachdem Oberstadtbaurat Jäckel an die Universität Graz wechselte). Ob diese „Bürgermeister-Auswahl“ vollständig erhalten ist, wissen wir nicht: Sie zeigt zweimal das Marktamtsgebäude bei der Kettenbrückengasse, eines der Großmarktpavillons beim heutigen Alfred-Günwald-Park und den Marktbereich beim Verkehrsbüro:

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Außerdem war es der Fotograf Bruno Reiffenstein, der vermutlich ebenfalls im Auftrag des Stadtbauamtes, eine kleinere Serie von Aufnahmen vom neuen Naschmarkt erstellte. Seine Bilder zeigen die Anlage aus einer näheren Perspektive und halten auch teilweise andere Motive fest, darunter die Johann-Nepomuk-Kapelle (sie wurde vom Freihaus hierher übertragen), den Brunnen oder die Gastwirtschaft.

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Interessant ist, dass das Wiener Stadtbauamt bzw. Jäckel sogar versucht haben, aus der Naschmarkt-Reihe von Kilophot einige Motive auch auf Ansichtskarten in Umlauf zu bringen. Und das war damals eher ungewöhnlich, sind doch illustrierte Postkarten in der Regel das Ergebnis privatwirtschaftlicher Bildproduktion. So gehören diese Exemplare zu den ersten, sozusagen amtlichen Ansichtskarten in Wien. Die geplante Serie blieb jedoch – möglicherweise kriegsbedingt – unvollendet und kam nicht zur Ausgabe (siehe mehr dazu: Der neue Naschmarkt im jungen Medium - Bonartes Postkartenprojekt ; und weitere Motive aus dieser Reihe in unserer Online-Sammlung: Suche – Wien Museum Online Sammlung).

Mit dem Neuen Naschmarkt entstand letztlich eine beachtliche Marktstraße mit einer Länge von fast einem Kilometer. Doch ihrer faktischen Bedeutung zum Trotz war die Anlage zugleich anachronistisch und höchstens im Vergleich zum alten Naschmarkt als modern zu bezeichnen: Sie verfügte weder über Kühl- und Lagerräume noch Keller, besaß keine Anbindung an die Volleisenbahn (in diesem Fall wäre das naheliegenderweise die Stadtbahn gewesen). Lediglich über eine eigene Rampe für Lastenstraßenbahnen konnten Zulieferungen auf der Schiene erfolgen. Nach damaligen internationalen Standards der Approvisierungs- und Versorgungslogistik und der Hygiene wurden für Zentral- und Großmärkte dieser Art längst keine offenen Märkte mehr, sondern Markthallen errichtet. Auch Wien hatte andernorts bereits einige.    

So überrascht es nicht, wenn im Zusammenhang mit dem Naschmarkt an der Wienzeile häufig auf seinen mutmaßlich provisorischen Charakter hingewiesen wird: Dies mag zwar für den Abschnitt bis zur Schleifmühlgasse bzw. für die erste Ausbaustufe ab 1902 gegolten haben, als die Regulierung des Freihausareals oder die Frage einer Markthalle und des Wien-Boulevards noch offen waren, nicht jedoch auf den Naschmarkt, wie er ab 1916 auf den hier gezeigten Fotografien bereits zu sehen war. Wie es Manfred Schenekl in seinen Arbeiten über die Geschichte des Naschmarktes festhielt: Diese Verwechslung oder gar „Urban Legend“ vom Naschmarkt als Provisorium wurde in der Folge gern auch von jenen ins Spiel gebracht, die für eine Absiedlung des Marktes zugunsten einer Schnellstraße eintraten.

Abschied vom Boulevard

Spätestens mit der Errichtung des neuen Naschmarkts verabschiedete man sich endgültig von der langgehegten Idee eines Wien-Boulevards – einer offenen, großzügig ausgestatteten und verkehrsdurchfluteten Prachtstraße bis Schönbrunn. Kein geringerer als der Architekt Otto Wagner war bereits seit den 1870er Jahren einer der zentralen Proponenten dieser repräsentativen Straße. Daran erinnern hier heute noch seine sogenannten Wienzeilen- oder Majolikahäuser in der Nähe der Station Kettenbrückengasse, aber ebenso Bauten und Fassaden anderer namhafter Architekten. Auch das 1902 errichtete Wohnhaus an der Linken Wienzeile 60 trägt nicht zufällig den Namen „Boulevard-Hof“.

Bald nach der Jahrhundertwende gab jedoch auch Otto Wagner diese – offenbar nicht realisierbaren – Pläne auf und schlug stattdessen vor, an der Wienzeile eine „radial gelegene Marktstraße“ für Wien zu errichten. Diese sollte sich prinzipiell über die gesamte Wienfluss-Länge bis Schönbrunn erstrecken können. Baulich stellte er sich den „Wiener Markt“ oder „Marktzeile“ noch im Jahr 1909 in Form zwei geschlossener Reihen entlang der rechten und linken Wienzeile mit niedrigen Hallen oder Markthütten vor, die auf diese Weise einen langgezogenen Hof gebildet hätten. Wagners Vision von einer Marktstraße an der Wienzeile wurde schließlich Realität, wenn auch in anderer Gestalt…

Sándor Békési studierte Geschichte, Geographie sowie Wissenschaftstheorie und -forschung in Wien und ist seit 2004 Kurator am Wien Museum im Sammlungsbereich Stadtentwicklung und Topografie. Zahlreiche Publikationen und Forschungsarbeiten zum Thema Stadt-, Umwelt- und Verkehrsgeschichte.

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Kommentare

Josef Herrmann

Ein sehr interessanter Beitrag. Es ist für mich noch immer unverständlich, warum sich in Wien die eigentlich wunderbare Idee der Markthallen nicht durchsetzen konnte bzw. sogar von der Planung und der Politik torpediert wurde.

Redaktion

Liebe Frau Rieser, vielen Dank für das Feedback, dass wir gerne an den Autor des Textes weiterleiten. Schön, dass wir Ihre Erinnerungen mit diesem Beitrag auffrischen konnten! Beste Grüße, Peter Stuiber

Brigitte Rieser

Ganz lieben Dank für diesen Beitrag - ich bin am Naschmarkt aufgewachsen, kann mich noch an den Brand des grossmarkt erinnern ('mein' Haus ist am Bild der stadtbahnstation zu sehen, wir haben direkt runtergehen können).
So viele Erinnerungen...

Brigitte