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Julia König und Peter Stuiber, 8.6.2023

100 Jahre Plakatsammlung der Wienbibliothek im Rathaus

„Die verstrichene Zeit schafft den nötigen Abstand“

Mit einer prächtigen Publikation feiert die Wienbibliothek im Rathaus das 100-Jahr-Jubiläum seiner Plakatsammlung. Deren Leiterin Julia König gibt im Interview Einblicke in die frühere und die heutige Sammelpraxis und erzählt von verschwundenen Produktgruppen, gestalterischen Zeitphänomenen und der Herausforderung, billiges Papier zu archivieren.

Peter Stuiber

Die Plakatsammlung der Wienbibliothek im Rathaus umfasst 400.000 Exemplaren. Was macht ihre Bedeutung aus, gerade im internationalen Vergleich?

Julia König

Ich würde weniger die Anzahl der Plakate hervorheben, obwohl es europaweit wenige dieser Größe gibt. Aber dass eine Stadt versucht, alle Plakate zu archivieren, die jemals affichiert wurden oder werden, das kenne ich auf diese Art kein zweites Mal. Das ist das ganz Besondere daran. Wir haben aber in dem Buch auch andere Wiener und internationale Sammlungen beschrieben. Wir haben lange überlegt: Wie nähert man sich einem Jubiläum wie ´100 Jahre Plakatsammlung`. Und sind letztlich auf diese Dreiteilung gekommen, die sich in der Publikation wiederspiegelt. Erstens was macht ein Plakat mit einer Stadt. Also z.B. gibt es viele oder wenige Plakatwände, wie „möblieren“ sie die Stadt. Zweitens wer nutzt dieses Medium zu welchem Zweck und wo kommt es vor, etwa als absichtliches oder unbeabsichtigtes Motiv in der Stadtfotografie, im Spielfilm oder in der künstlerischen Praxis. Und drittens: Was tut man denn, wenn man Plakate sammelt? Aus welchem Grund sammelt man?

PS

Wie kam es überhaupt vor 100 Jahren zu dem Beginn eines systematischen Sammelns?

JK

Ein Faktor war, dass die Gewista seit 1921 als Magistratsabteilung Teil der Stadtverwaltung war, als Versuch, den Wildwuchs an Plakaten in der Stadt einzufangen. Der zweite Grund ist, dass der Finanzstadtrat Hugo Breitner einen Dienstzettel geschickt hat mit der Frage, ob die Plakate denn systematisch gesammelt werden. Das haben die Städtischen Sammlungen schlauerweise genutzt und gesagt: Jetzt haben wir einen Auftrag, gezielt zu sammeln. Davor sind zwar auch schon Plakate in die Sammlung gekommen, aber mitunter als Zufallsprodukt oder anlassgebunden, z.B. zum Ersten Weltkrieg.

PS

Ab diesem Zeitpunkt ist alles das, was offiziell in Wien plakatiert wurde, gesammelt worden. Zumindest theoretisch, aber auch praktisch?

JK

Das wäre unser Wunsch. Aber am Anfang wurde ausgewählt. Tatsächlich strukturiert wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg gesammelt. Ab da hat man nicht mehr überlegt, ob etwas sammelnswert ist oder nicht. Was gut ist, denn wenn jemand nach Geschmack oder Interesse sammelt, ist das bereits eine ziemliche Einschränkung. Schon nach zwanzig Jahren könnte einem leidtun, dass man Bestimmtes nicht aufgehoben hat. Das sehen wir auch immer wieder bei Anfragen nach Plakaten, die in anderen Sammlungen nicht verwahrt werden.

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PS

Wie war die Anfangssystematik? Welche Plakate wurden bevorzugt ausgewählt?

JK

Es wurden Kategorien definiert, nicht zuletzt deshalb, weil die Plakate zwischen der Bibliothek und dem Museum aufgeteilt wurden. Aber wie konsequent diese Kategorien zur Anwendung gebracht wurden, lässt sich aus jetziger Sicht kaum beurteilen bzw. deren Anwendung ist eher zu bezweifeln. Aber allein wenn man sich die Kategorien ansieht, wird’s spannend. Kategorie 1 umfasst z. B. amtliche Erlässe, Kundmachungen und Fahrpläne. Es gab eine Kategorie für Wirtschaftswerbung, eine für Theaterzettel und Konzertankündigungen, eine für Varieté gemeinsam mit Ausstellungsplakaten, eine eigene für Kinoplakate, was die Wertigkeit in dieser Zeit schön wiederspiegelt.

PS

Wien gilt als Stadt mit hoher Plakatdichte, sowohl historisch als auch in jüngerer Vergangenheit, zumindest bis zur Zeit der Fußball EM 2008, als man systematisch die Flächen für Wildplakatierung radikal reduziert hat.

JK

Die hohe Plakatdichte wird immer wieder zitiert. Und für unser neues Buch wurde diese angebliche Dichte von Bernhard Hachleitner und Werner Michael Schwarz in ihrem Beitrag mit der Situation in Paris und Berlin verglichen. Man bräuchte allerdings valide Zahlen, die einen breiten internationalen Vergleich ermöglichen würden.

PS

Noch eine Anmerkung zur Wildplakatierung: Die Maßnahmen dagegen wurden vor der EM 2008 erwartungsgemäß nicht mit dem Profit, sondern mit der Verschönerung des Stadtbildes argumentiert. Wie war die Diskussion auf ähnliche Bestrebungen in der Zwischenkriegszeit?

JK

Da gab es wilde Diskussionen im Gemeinderat und auch Proteste der Hausbesitzer, die an den Anschlagwänden an ihren Häusern gut verdient haben.

PS

Plakate zu sammeln gehört für Dich als Leiterin der Plakatsammlung in der Wienbibliothek zum Alltag. Welcher Aspekt beschäftigt Dich dabei besonders?

JK

Dass wir etwas sammeln, das produziert wurde, um ein paar Wochen im Stadtraum zu hängen. Entsprechend kostengünstig sind sie produziert. Wir heben sie aber langfristig auf, was irgendwie paradox ist – und schwierig. Oder anders gesagt: Es ist leichter, Dürers Hasen zu konservieren, als ein Plakat aus den 60er Jahren, weil das Papier so billig ist.

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PS

Die Strategie, alles zu sammeln, hört sich für einen Laien schlüssig an, für jemanden aus dem Museum aber nach viel Arbeit. Denn jedes Objekt muss ja inventarisiert, kuratorisch und restauratorisch betreut werden – das ist ja ausufernd! Immerhin braucht ein Plakat nicht soviel Platz wie größere dreidimensionale Objekte…

JK

Es hat sich im Zuge meiner Arbeit mit der Sammlung immer wieder gezeigt, wie wichtig es ist, dass eben nicht selektiert wird. Etwa wenn es um ganze Produktgruppen geht, die es nicht mehr gibt. Oder wer kann sich heute vorstellen, dass es mal ein 24-Bogen-Plakat mit dem Marlboro Man gab? Nicht zu vergessen heikle Themen wie z.B. die politischen Plakate. Natürlich werden die auch von Parteien archiviert. Aber ob die Bestände dann allgemein zugänglich gemacht werden für die Forschung, ist eine andere Frage.

PS

Schon beim Durchblättern der Publikation wird man sich sofort bewusst, wie üblich Sujets vor gar nicht allzu langer Zeit waren, die heute gar nicht mehr gehen würden, weil sie etwa als sexistisch empfunden werden oder einem unmöglich oder komisch vorkommen. Welche historischen Aspekte im Vergleich zu heute interessieren Dich am meisten?

JK

Zum einen, dass Dinge idealisiert dargestellt werden. Dass die einzelnen Jahrzehnte in sich sehr typisch sind in ihren Farben, Formen und Inhalten und in ihrem Erscheinungsbild. Spannend sind auch Produkte wie Mineralwasser, das bis in die 1960er Jahre in Apotheken und Drogerien verkauft wurde und erst durchs Plakat zu einem Massenprodukt wurde. Und natürlich ist auch Sexismus ein wichtiges Thema, und zwar in meinen Augen nicht unbedingt dann, wenn man Unterwäsche bewirbt, sondern dann, wenn in Unterwäsche für Autoreifen geworben wurde. Oder Lebensmittelwerbung auf Plakaten: Allein dem Aspekt könnte man ein eigenes Buch widmen! Food Design im Werbebereich hat sich extrem verändert! Manches ist einfach aus der Zeit gefallen.

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PS

Du hast jetzt viele Veränderungen genannt. Gab es auch Kontinuitäten, die Dich beschäftigen?

JK

Unbedingt. Etwa die Plakatgrafik der 1950er Jahre, die kaum von jener der 1930er Jahre zu unterscheiden ist. Da fällt auch die Datierung mitunter ganz schön schwierig

PS

Wenn Plakate die jeweilige Zeit darstellen, was fällt Dir als Expertin an den heutigen Plakaten auf? Was ist typisch für jetzt?

JK

Zum Beispiel dass es heute nur Haut ohne Poren gibt. Alles muss superschön sein, glatt und perfekt. Die Oberfläche scheint mehr zu zählen als der Inhalt. Doch im Allgemeinen ist es aus der historischen Perspektive leichter das zeittypische zu identifizieren und zu benennen. Die verstrichene Zeit schafft den nötigen Abstand.

Buchtipp:

Bernhard Hachleitner, Julia König (Hg.):
Das Plakat in der Stadt. 100 Jahre Plakatsammlung der Wienbibliothek im Rathaus.


13 Autor:innen widmen sich dem Plakat als Zeugnis stadtgeschichtlicher Ereignisse, dem sich wandelnden Stadtbild, dem „Leben“ des Mediums Plakat im öffentlichen Raum und dem „Nachleben“ der Plakate als Teile einer Sammlung. Dargestellt werden die Stadtgeschichte im Spiegel des Plakats und die Interaktion zwischen Stadtraum und Plakat. Dabei geht es um die Sichtbarkeit des Plakats im (halb) öffentlichen Raum, in der Stadtfotografie, im Spielfilm, in Plakatwerbungen und in Kunstprojekten. Aufeinanderfolgenden Jahrzehnten gewidmete Bildblöcke visualisieren ein Jahrhundert Plakatgeschichte. Den Abschluss bildet ein Überblick über die Sammlung der Wienbibliothek im Rathaus sowie anderer Institutionen.

Das Buch ist im Residenz Verlag erschienen.
Grafik: Tom Koch
Format: 245 x 270, 256 Seiten, zahlreiche Abbildungen
ISBN: 9783701735860, 32,– Euro

Achtung! Die Publikation ist mittlerweile fast vergriffen, aber noch direkt in der Wienbibliothek im Rathaus erhältlich!

Julia König, Sammlungsleiterin der Plakatsammlung der Wienbibliothek im Rathaus. Studium der Kunstgeschichte und Library and Information Studies. Als Kuratorin und Herausgeberin war sie an zahlreichen Ausstellungs-, Publikations- und Sammlungsprojekten beteiligt, u.a. in Galerien, am Österreichischen Museum für angewandte Kunst (MAK) Wien, an der Silberkammer des Hofmobiliendepots, am Denkmalamt und seit 2005 an der Wienbibliothek im Rathaus.

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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Zierl Berthild

Es ist großartig, wie in Wien die immense Bedeutung einer - vor allem nicht selektierten - Plakatsammlung zur Dokumentation der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt schon so früh erkannt wurde, spiegeln die Plakate doch die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und teilweise auch künstlerischen Verhältnisse wider.