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Christine Koblitz, Irmi Mac Guire, Tabea Rude, 14.10.2024

AR-Escape Game im Uhrenmuseum

Ein geteiltes Geheimnis

Wäre es nicht schön, mittels Röngtenblick in die Mechanik von Uhren hineinzusehen, um zu verstehen, wie sie funktionieren? Ein neues digitales AR-Escape Game im Uhrenmuseum verbindet Interaktion, spielerisches Entdecken und zusätzliche Ebenen mit Augmented Reality (AR). Ein Werkstattbericht zur Premiere.

Wie kann man ein Escape Game im Uhrenmuseum spielen, ohne Ausstellungsstücke zu berühren? Ohne eine bestehende Dauerausstellung umbauen zu müssen? Welchen Mehrwert bringen modernen Technologien wie Augmented Reality im Museum? Und wie kann spielerisch Wissen vermittelt werden?

Diese Fragen haben wir – ein museumsinternes Projektteam – uns 2022 gestellt und gemeinsam mit den Wiener Rätseltour-Profis von ArchäoNOW und ihrem Technikpartner Vars ein erstes Konzept für ein digitales Spiel entwickelt. Beim Ideenwettbewerb der Wirtschaftsagentur zum Thema Culture & Technology wurde dieses dann für eine Förderung ausgewählt, womit im Oktober 2022 eine spannende Reise begann, die bis September 2024 dauerte – von der Ideenentwicklung bis zur konkreten Umsetzung. Sie begann beim Brainstorming von Story, Rätselideen, Aufgaben, Spielverläufen und führte über die Textausarbeitung bis zu einem sogenannten Product Requirement Document (PRD). Mit den ersten Testrunden und digitalen Mock-up Versionen hat unsere Schöpfung dann langsam Gestalt angenommen.

Uhrengeschichten, Augmented Reality und Moodboards

Am Anfang stand die Uhrenauswahl und die Frage, welche Geschichte(n) wir mit welchen Uhren erzählen können. Alles schien möglich, besondere thematische Favoriten waren Astronomie, Entwicklung der Uhrentechnik und Frauen im Handwerk. Die Streifzüge durch das Uhrenmuseum offenbarten immer wieder neue Ideen: Wer hätte gedacht, dass Mondgesichter so unterschiedlich alt und griesgrämig aussehen können? Welches schaut am ältesten und welches am traurigsten aus? Wie verknüpfen wir Zeitmessung auf unseren Handys und Computern über Satelliten (eigentlich fliegende Atomuhren!) mit einer bauchigen Sanduhr aus dem 17. Jahrhundert? Passt das alles in ein 60 bis 90 Minuten langes Spiel und schaffen wir es gleichzeitig, alles in eine unterhaltsame Geschichte zu verpacken, das Handling des Tablets klar zu formulieren und spannende Rätsel zu kreieren, die gleichzeitig für eine große Bandbreite von Spieler:innen lösbar sind und Spaß machen? Und nebenbei auch Wissen zu vermitteln (möglichst unauffällig und nicht mit erhobenem Zeigefinger)?

Wir wollten die Hälfte der zu lösenden Rätsel mithilfe von Augmented Reality interaktiv gestalten. Wie funktioniert AR im Spiel? Die Spieler:innen erhalten zum Spielen ein Tablet und richten dessen Kamera nach Aufforderung auf ein Objekt, das somit für die Darstellung in einer digital „erweiterten Realität“ (AR) erfasst wird. Am Tablet wird so zum Beispiel in einer Art Röntgenblick das Innenleben einer Uhr sichtbar. Die reibungslose Anwendung von AR hat einige Anforderungen an die Objekte, die man in zwei Kategorien einteilen kann: physische und grafische. Physisch sollte das Objekt eine möglichst harte Oberfläche haben und das Aussehen soll sich nicht verändern (selbst ein wandernder Zeiger disqualifiziert), die Oberfläche darf nicht spiegeln, das Objekt darf weder zu groß noch zu klein sein, denn es muss von der Kamera des Tablets erfasst werden können. Eine gleichmäßige Beleuchtung des Objekts ist ebenfalls ausschlaggebend. Grafisch muss das Objekt möglichst detailreich und kontrastreich sein, ohne Muster oder Symmetrien, denn die Erkennungsfunktion der App fokussiert sich auf sogenannte Feature Points, die möglichst gut verteilt und von der Konstellation her einzigartig sein sollten, damit nur dieses eine Objekt aus einer ganz bestimmten Perspektive den Trigger der AR auslösen kann.

Parallel dazu haben wir begonnen, Moodboards zu entwerfen und mit dem Grafiker Daniel Rachbauer die Gestaltung für das Spiel auf dem Tablet zu definieren. Eher Mystery und Harry Potter? Oder doch lieber Steam Punk und Industrial? History & Mystery? Inspiriert durch technische Zeichnungen aus dem Archiv des Uhrenmuseums sowie historischen Lehrbüchern der Uhrmacherei konnten wir recht genau beschreiben welche Schriftart, Farbpalette und Aufmachung wir uns vorgestellt hatten.

Ende 2022 hatten wir vier verschiedene Erzählstränge mit leicht abweichender Objektauswahl und wir konnten uns zunächst nicht entscheiden, welche Idee wir weiter verfolgen sollten. Deswegen machten wir eine kleine Umfrage unter potenziell interessierten Spieler:innen. Am Ende gewann diese Story: Die Gruppe erbt eine Taschenuhr ihrer Großtante Selma (der Name kam erst später – uns war wichtig, einen Namen zu finden, der nicht nur auf Deutsch funktioniert, Selma lässt sich auch aus dem Arabischen, Türkischen und Bosnischen herleiten). Die fiktive Protagonistin Selma basiert lose auf der historischen Person Marie von Ebner-Eschenbach, die leidenschaftliche Sammlerin von Taschen- und Schmuckuhren sowie Uhrmacherin war und deren Uhren in der Ausstellung zu sehen sind. Selmas geliebte Taschenuhr ist gut im Uhrenmuseum versteckt und kann nur durch das Lösen kniffliger Rätsel gefunden werden – und Überraschung! Sie ist zerlegt! Wer möchte nicht gern mal eine Taschenuhr zusammenbauen?

In der Ausarbeitung der Spielstruktur war es nun wichtig eine gute Balance zwischen spannenden, neuen Rätseln und widerkehrenden Rätselstrukturen zu finden. Aus diesem Grunde haben wir deswegen unsere Rätsel thematisch nach Metaebenen sortiert: Eine Ebene beleuchtet die Uhr als wissenschaftliches Instrument, dafür eigneten sich einige größere astronomische Uhren, aber auch eine Sonnenuhr. Eine weitere Ebene hebt die Unterhaltsamkeit, Schönheit und Besonderheit der Objekte hervor, „conversation pieces“ also, gut zum Angeben oder freudigen Herzeigen und Teilen. Dazu gehören zum Beispiel Uhren mit kleinen, beweglichen Figuren, Kuckucksuhren aber auch außergewöhnliche Armbanduhren. Die dritte Ebene fokussiert die Aufgabenstellung und das Rätsel auf mechanische und technische Eigenschaften: Wie wird hier eine Bewegung ausgelöst, welche Räder greifen wie ineinander und wo zieht man diese Uhr überhaupt auf?

Bald ergaben sich daraus zwölf Stationen für zwölf versteckte Teile der Taschenuhr. Die eine Hälfte besteht aus spannenden und unterhaltsamen Such- und Find-Rätseln im Ausstellungsraum, die andere kombiniert ausgestellte Objekte mit zu lösenden AR-Aufgaben auf dem Tablet. Auf diese Art und Weise konnten wir AR-Technologie dort einsetzen, wo sie uns wirklich hilft, komplizierte, technische Dinge einfach zu erklären oder hinter die Fassade einer unauffälligen Uhr zu schauen und zu staunen.

Von der Papierversion zum Mock-up

Im Mai 2023 hatten wir eine erste Papierversion, um mit ein paar Testgruppen zu sehen, wie unsere Rätsel ankamen. Waren sie zu schwer, zu leicht oder gab es Schwierigkeiten, die Fragestellungen zu verstehen? Alle Testrunden erforderten konstante Betreuung um genau zu beobachten, was wie gut funktioniert und Spaß macht. Dinge, die uns offensichtlich schienen, waren es für die Spielenden nicht immer. In Nachbesprechungen und Überarbeitungsphasen wurde zum Beispiel immer wieder diskutiert, ob jetzt der Hirsch oder der Adler mittig auf der Kuckucksuhr zu sehen ist, ob man das Herz in der Uhr wirklich finden kann und ob wir lieber Batterie oder Akkumulator schreiben.

Neben dem sprachlichen Feilen fand auch der grafische Findungsprozess statt und natürlich auch das Ausbügeln von Stolperstellen in unser Storyline. Ein wichtiger Meilenstein war die Erschaffung eines treuen Begleiters, denn die Großtante, die uns ihre Briefe mit den Anweisungen zur Findung ihrer Uhr hinterlassen hatte, war ja tot. Aus einer kleinen, krakeligen Zeichnung wurde der Weberknecht Lou. Angelehnt an den Namen des berühmten Uhrmachers Abraham-Louis Breguet, aber doch offen für Interpretation, denn es gab auch zahlreiche, unbekannte Uhrmacherinnen und Uhrmachertöchter (Louises und Louisas und natürlich viele andere ohne Lou), deren Wirken mindestens ebenso wichtig war.

Weberknechte wohnen gerne in Uhren, denn dort ist es dunkel und trocken und sie haben ihre Ruhe, solange sie nicht aus Versehen zwischen die Zahnräder geraten. Außerdem sind Weberknechte Nützlinge und fressen Insekten, die vielleicht für Objekte schädlich sind. Natürlich gibt es idealerweise gar keine Tiere in einem Museum, aber ein charmanter Weberknecht wäre zumindest im Uhrenmuseum akzeptiert.

Logische Ungereimtheiten, die in der Papierversion noch nicht so ersichtlich waren, tauchten dann beim Überarbeiten der sogenannten Wireframes auf. Die Wireframes bilden das Grundgerüst einer Webseite oder App und können als Bildschirmplan verstanden werden. Jeder einzelne Bildschirm für das Spiel wurde dort in der richtigen Reihenfolge und Hierarchie verortet.

Vom Museumsobjekt zum virtuellen, interaktiven Spiel- (und Lern)element

Während wir die ersten, digitalen Mock-up Versionen testeten, begannen Tabea Rude und Franco Lanfur (VARS) gleichzeitig mit der eigentlichen Umsetzung vom realen Objekt in ein virtuelles Modell. Hierzu wurden alle Objekte, die wir für den Einsatz von AR nominiert hatten, kurzzeitig aus der Ausstellung genommen, demontiert und bis auf das kleinste Detail ausgemessen und dokumentiert. Mithilfe von Funktionsvideos und kleinen Powerpoint-Präsentationen wurde die Funktion der einzelnen Hebel kommuniziert, die dann im fertig gebauten, virtuellen Modell genau in dieser Weise zum Leben erweckt werden konnten.

Die Freude war groß, als wir die ersten digitalen Modelle austesten durften. Besonders begeistert waren wir von der Abbildungsgenauigkeit jedes noch so kleinen Hebels und der realitätsgetreuen Textur der Objekte. Die meisten 3D-Modelle im Uhrenbereich und wahrscheinlich auch außerhalb geben eine generische Textur eines bestimmten Materials wieder: Stahlgrau, Messinggelb. Die Modelle reflektieren und glitzern, als wären sie gerade neu gesägt, gedreht, gefeilt und poliert worden. Sie geben zwar akkurat die Funktionen des Objektes im Neuzustand wieder, haben jedoch wenig gemein mit dem eigentlichen, historischen Objekt, das oxidiert, zerkratzt und abgenutzt ist. Eben ein Objekt, das eine Geschichte erzählen kann. Diese Neuzustand-Modelle fördern natürlich auch die Einstellung, dass bewegte Objekte wie Uhren für die Inbetriebnahme möglichst immer wieder auf einen „wie neu“-Zustand gebracht werden müssen. Während Restaurierungen also ein bisschen „aufpoliert“ gehören. Diese Praktiken sorgen vor allem für Informationsverlust, denn originale Herstellungsmerkmale und Bearbeitungsspuren sowie Signaturen und Beschriftungen werden beseitigt oder unkenntlich gemacht. Auch hier lernt man im Spiel sehr unauffällig und indirekt: Unregelmäßige Oberflächen und Abnutzungsspuren gehören dazu und werden sogar als wichtige Informationsquelle willkommen geheißen.

Die neuen 3D-Modelle wurden von Franco Lanfur Station für Station in die Spiele-App eingebaut. Die AR-Funktion veränderte die Dynamik im Spiel-Ablauf und stellte uns vor neue Herausforderungen bei der User Experience: die Testgruppen waren beeindruckt in die Uhrwerke hineinschauen zu können und teilweise auch selbst daran zu drehen. Doch was passiert, wenn man den Trigger verliert, wo muss man genau stehen um die AR auszulösen, etc.? All diese Fragen löste Franco Lanfur durch präzise Programmierung und Adaptierung des User Interface.

Wir rekrutierten Kolleg:innen, Freunde und Bekannte für die Testrunden. Verschiedene Altersgruppen, mit oder ohne Escape-Erfahrung – das Spiel soll weder zu leicht noch zu schwer sein. Dabei machten wir eine schöne Entdeckung: Alle hatten Spaß und waren beeindruckt vom der Vielfalt und Vielzahl an Exponaten im Uhrenmuseum, das sie sonst nicht besucht hätten und das sie mithilfe des Spiels auf eigene Faust erkunden konnten. Fast alle wollten wiederkommen, um sich die anderen Exponate noch genauer anzusehen. Soweit das Testpublikum. Ob die „echten“ User:innen das ähnlich sehen? Wir sind gespannt und freuen uns auf Feedback!

 

Das neue Escape-Game kann man ab 16. Oktober im Uhrenmuseum spielen.

Christine Koblitz ist Engagement Managerin im Wien Museum und beschäftigt sich mit Digital Culture, Instagram und Games. Sie kuratierte die Ausstellung „Takeover – Streetart & Skateboarding“ (2019) und entwickelt spielerische Formate wie das AR Escape Game und das monatliche Pub Quiz.

Irmi Mac Guire ist Kulturvermittlerin im Wien Museum und als Übersetzerin & Projektarbeiterin im Kulturbereich tätig. Studium Anglistik/Amerikanistik, Kommunikations- & Wirtschaftswissenschaften, Lehrgänge zu Kulturerbe & Kunst- und Kulturvermittlung. Vermittlungsinteressen: Text & Sprache im Museum, theaterpädagogische Methoden, Erlebnisse mit allen Sinnen.

Tabea Rude lernte das Uhrmacherhandwerk in Pforzheim und studierte dann Restaurierung für Uhren und dynamische Objekte an der University of Sussex. Seit 2017 ist sie für die Uhrensammlung zuständig. Sie ist besonders interessiert an elektrischen Uhren und Zeitdienstanlagen zwischen 1850 und 1950, publiziert hat sie zu dem Thema im britischen peer-reviewed Antiquarian Horological Journal. Sie begeistert sich außerdem für historische Kunststoffisolierung, taktische Intervallzeitmessung in Konvoys auf See im 1. und 2. Weltkrieg und Feueralarmtelegraphie.

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