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Andreas Nierhaus und Martina Nußbaumer, 17.7.2020

Balkone in Wien

Vom repräsentativen Fassadenschmuck zum begehrten Freiraum

Lediglich 50 Prozent der Hauptwohnsitze in der Stadt verfügen über einen eigenen Freiraum in Form eines Balkons, einer Loggia oder einer Terrasse. Die Nachfrage nach leistbaren Balkonen als Gartenersatz und erweitertem Wohnraum an der frischen Luft steigt in Wien seit Jahren. Als Freizeit- und Erholungsort ist der Balkon allerdings ein historisch junges Phänomen, diente er doch lange Zeit hauptsächlich als Fassadenschmuck.

 „balkon, m. balkenvorsprung, auf dem man eines standes im freien zur aussicht genieszt, nach dem it.„balcone“, das selbst aus unserm„balke“ entlehnt wurde.“ So definiert das berühmte Wörterbuch der Brüder Grimm Mitte des 19. Jahrhunderts den Balkon, der als Bauelement ab dem 18. Jahrhundert verstärkt Eingang in die europäische Wohnbaukultur gefunden hatte. Im deutschen Sprachgebrauch beschreibt der Balkon damit eine aus der Wand oder Mauer auskragende Plattform, die von einem dahinter liegenden Raum aus zugänglich ist und durch eine Brüstung abgeschlossen wird. Der Balkon ist zumeist offen, kann aber auch geschlossen sein. Im Gegensatz zum Erker ist er vom dahinter liegenden Raum abgesondert, im Unterschied zur vertieften Loggia ragt er aus dem Baukörper hervor. Zu diesem Zweck wird er von aus dem Gebäude ragenden Konsolen getragen; vom Boden aus gestützte Plattformen werden als Altane oder Söller bezeichnet. Während Terrassen schon dem Namen nach auf ihrer gesamten Fläche mit der Erde (lat. terra) – oder einem Gebäude – verbunden sind, scheinen die auf „Balken“ liegenden Balkone über dem Boden zu schweben.

Damit handelt es sich um vergleichsweise labile Bauteile, die immer wieder auch abstürzen können – besonders spektakulär etwa im Finale von Thomas Bernhards Stück „Elisabeth II.“ (1987), wo eine Gruppe Schaulustiger am Balkon eines Hauses am Wiener Opernring einen Blick auf die englische Königin während ihres Wien-Besuches zu erhaschen versucht und mit diesem in die Tiefe stürzt. Abstürzende Balkone waren bereits im 19. Jahrhundert ein beliebtes Thema der Karikaturisten, die damit die mitunter mangelhafte Ausführung der Neubauten entlang der Ringstraße aufs Korn nahmen. Dass Balkone gerade hier gehäuft in Erscheinung traten, ist kein Zufall: Balkone waren seit jeher in erster Linie Statussymbole, Bühnen mehr potenzieller als realer Auftritte.

Schmuck und Repräsentation

In Wien findet dieses Statussymbol, das architekturhistorische Vorläufer in der Militär- und Theaterarchitektur hat, verstärkt ab dem 18. Jahrhundert Verbreitung: Balkone werden in dieser Zeit über den Portalen adeliger Stadtpaläste üblich, aber auch so manches Bürgerhaus trägt stolz ein solches Schmuckelement  vor sich her. Die Balkonbrüstungen bestanden häufig aus aufwändig verziertem Schmiedeeisen; die durchbrochenen Gitter waren nicht nur leichter und lichtdurchlässiger als Stein oder Ziegel, sondern führten mit ihren kunstvollen Ornamenten auch den Wohlstand des Hausbesitzers vor Augen. Praktisch genutzt wurden diese meist schmalen „Erscheinungsbalkone“ eher selten: Man zeigte sich zu besonderen Festtagen, etwa anlässlich einer der zahlreich stattfindenden höfischen Festlichkeiten oder kirchlichen Prozessionen.

In der dicht verbauten Inneren Stadt wäre wohl auch der Genuss der Aussicht, den die Brüder Grimm als eigentlichen Sinn des Balkons beschreiben, meist ein eingeschränkter gewesen. Häufiger waren Balkone daher in jenen Gegenden zu finden, die in Sachen schöne Aussicht und frische Luft mehr Möglichkeiten boten – so etwa an den im frühen 19. Jahrhundert entstandenen Häusern am Rand des Glacis und entlang des Donaukanals. Das 1837 erbaute, heute an der stark befahrenen Zweierlinie gelegene Haus „Zur kleinen Maria Hilf“ etwa verfügt im ersten und zweiten Stock über Balkone mit Schmiedeeisengittern, von denen aus man bis zur Verbauung des Ringstraßenareals einen weiten Blick über die Wiesenflächen des Josefstädter Glacis auf die Innere Stadt hatte.

Die „leeren“ Balkone an der Ringstraße

Einen Boom erlebte der Balkon in Wien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Parzellierung des Glacis im Rahmen der Stadterweiterung ab 1860 schuf die Voraussetzungen für – in Wien bis dahin kaum bekannte – großzügig breite, teils von Alleen gesäumte Straßenzüge, die zu einem idealen Verbreitungsgebiet von Balkonen wurden. So fanden sich an den acht Miethäusern und Palästen der in den 1860er-Jahren bebauten Nordseite des Kärntner Ringes nicht weniger als 24 Balkone bzw. Loggien; die neun bis heute vollständig erhaltenen Häuser der Südseite der wenig später parzellierten Johannesgasse wiederum tragen 28 Balkone.

Dass die vielen Balkone an der Ringstraße zumeist leer blieben und nicht wie heute als Erweiterung des Wohnraums ins Freie genutzt wurden, hat sowohl ästhetische als auch rein praktische Gründe: In der Wohnkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das helle, grelle Tageslicht vermieden – die Fenster erhielten Butzenscheiben und dicke Vorhänge, durch die die Außenwelt nur stark gefiltert in die historisierend eingerichteten „Milieus“ der Innenräume gelangte. Und wer hätte sich schon gerne dem vom Wiener Wind aufgewirbelten dichten Straßenstaub ausgesetzt, der in zeitgenössischen Berichten über den neuen Boulevard als Ärgernis und gesundheitliche Gefahr erwähnt wird? Man hielt die Fenster nach Möglichkeit geschlossen und wer es sich leisten konnte, verlegte in der brütenden Sommerhitze seinen Wohnsitz ohnehin aufs Land. Es gab also zumeist keinen Grund, sich länger auf einem Balkon aufzuhalten.

„Frische Luft“ als Argument für den Balkonbau

Erst mit der Wohn- und Lebensreform um und nach 1900 waren Tageslicht und frische Luft in den bürgerlichen Wohnräumen wieder willkommen. Balkone und Loggien waren nun Ausweis „gesunder“ und „moderner“ Wohnungen, wie etwa an Otto Wagners Majolikahaus an der Linken Wienzeile 40 von 1899 oder dem 1911 von Hans Prutscher erbauten „Elsa-Hof“ in der Neubaugasse 25, der mit seinen durchgehenden Balkonbändern an zeitgenössische Hotels und Sanatorien gemahnt. Auch die Bepflanzung von Balkonen stand zunehmend im öffentlichen (ästhetischen) Interesse, wie eine im Wien Museum erhaltene Urkunde mit dem Titel „Wien im Blumenschmuck“ aus dem Jahr 1907 zeigt: Mit ihr zeichnete der Gemeinderat den Empfänger für die „geschmackvollste Ausschmückung der Fenster und Balkone mit Blumen“ aus.

Die „Demokratisierung“ des Balkons fand in Wien jedoch erst im Wohnbauprogramm der Zwischenkriegszeit statt: So feierten die ikonischen Balkonbänder des Karl-Marx-Hofes die Öffnung zu „Licht, Luft und Sonne“. Architektonisch weniger spektakulär waren die kleinen hofseitigen „Klopfbalkone“, die nun auch verstärkt zum baulichen Repertoire gehörten: Im ersten, im Jahr 1920 fertiggestellten Gemeindebau, dem Metzleinsthalerhof, hatte bereits jede Wohnung einen dieser vom Vorzimmer aus zugänglichen Wirtschaftsbalkone, die schon in Zinshäusern im späten 19. Jahrhundert stärkere Verbreitung gefunden hatten. Sie dienten, wie der Name sagt, zum Ausklopfen von Teppichen, aber auch zum Wäschetrocknen und als Lagerplatz.
 

Gemüsezucht, Hausarbeit und Tratsch auf der Pawlatsche

Wann genau die verstärkte „Belebung“ des Balkons in Wien einsetzt und die dortige Aufenthaltsdauer steigt, harrt noch der systematischen Beforschung. Wesentliche Impulse für heute bekannte Nutzungsformen dürfte eine auf den Innenhof ausgerichtete „Verwandte“ des in der Regel straßenseitig ausgerichteten Balkons geliefert haben, die in Wien spätestens seit dem 16. Jahrhundert verbreitet war: die „Pawlatsche“. Der Name dieser für Wien typischen offenen Hofgänge, die konstruktiv und formal an Balkone erinnert, stammt aus dem tschechischen pavlač, das Galerie, Loggia oder eben – Balkon bedeutet. Mit der Pawlatsche wurden die Gänge des Hauses in den Hofraum verlegt und damit im dichtverbauten Stadtgebiet wertvoller Raum bzw. Baukosten gespart. In Wien wie auch in anderen Großstädten der ehemaligen Habsburger-Monarchie finden sich die mitunter als Hausgärten en miniature genutzten Pawlatschen gleichermaßen an den Häusern von Handwerkern, Bürgern und Adeligen.
 

Viele der schönsten Wiener Pawlatschenhöfe sind im Zuge der rasanten baulichen Entwicklung der Stadt um 1900, aber auch durch zahllose Abbrüche in den 1960er- und 1970er-Jahren verloren gegangen. In wehmütiger Reaktion auf diese Abrisse beschworen „Alt Wien“-nostalgische Fortsetzungsromane in den 1930er Jahren die Pawlatsche als idyllischen Ort, an dem einst Blumen und Gemüse in Kisten und Töpfen gezogen, Hühner gehalten wurden, Hausfrauen Kartoffel schälten, nähten und Strümpfe stopften, Schulkinder ihre Aufgaben erledigten, Säuglinge schliefen und Klatsch und Tratsch ausgetauscht wurde. Weniger idyllisch dürfte in der Realität die soziale Kontrolle gewesen sein, die mit der intensiven sozialen Interaktion auf so mancher Pawlatsche einherging – sah man hier doch sofort, wer von wem Besuch bekam und womöglich gegen die gängigen Regeln des Anstands verstieß.

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Balkonmangel und die Rückkehr der Balkone

Während die lange Zeit (und oft fälschlich) als Ausweis niedriger Wohnstandards verachtete Pawlatsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend verschwand und erst in den letzten Jahren eine neue Renaissance erlebt – zuletzt etwa beim 2020 fertiggestellten Baugruppenprojekt „Gleis 21“ im Sonnwendviertel (Planung: einszueins architektur) –, blieb der Balkon fixer Bestandteil im architektonischen Repertoire städtischer Wohnbauprogramme. Vor allem während des Baubooms der Nachkriegszeit wurden viele neue große Siedlungen und Wohnanlagen mit – in ihren Proportionen und Dimensionen nunmehr meist uniformen – Balkonen ausgestattet.

Ob diese nur als Abstellfläche für Bierkisten und selten gebrauchte Gegenstände wie Leitern dienten oder auch verstärkt als Aufenthaltsorte benutzt und begrünt wurden, hingt nicht zuletzt davon ab, wie stark befahren die Straßen waren, auf die sie ausgerichtet wurden.
 

In den 1980er Jahren erlebte der Balkonbau in Wien durch neue Bauverordnungen einen Dämpfer: Balkone durften bei Neubauten nun nicht mehr in den Straßenraum auskragen und verschwanden aus dem Stadtbild – ein Mitgrund für den heute beklagten Mangel an Balkonen in Wien und die hohen Mietpreise, die für Wohnungen mit Balkon am privaten Wohnungsmarkt verlangt werden. Denn die Nachfrage nach Balkonen, die tatsächlich als erweiterter Wohnraum und Minigarten benutzt werden können, ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. In der wachsenden und immer stärker verdichteten Stadt, die noch dazu immer heißer wird, ist der (begrünbare) Balkon endgültig zu einem Ausweis von Wohnqualität und -komfort geworden. Seit der Novelle der Bauordnung von 2014 ist es wieder möglich, auch straßenseitig Balkone zu planen und nachträglich anzubringen; hofseitige Anbauten an den meist „nackten“ innenseitigen Altbaufassaden sind seit 1996 gestattet. Damit sind wesentliche Voraussetzungen für eine Rückkehr der Balkone ins Wiener Stadtbild gegeben, die auch für Architektinnen und Architekten neue gestalterische Spielräume eröffnen.

Verstärkte Nutzung während der Corona-Krise

Während der Corona-Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2020 dürfte die allgemeine Wertschätzung von Balkonen in Wien noch einmal gestiegen sein. Viele Balkone wurden in dieser Zeit intensiver genutzt und „bewohnt“ als je zuvor: Oft waren sie der einzig verbleibende „Urlaubsort“, an dem man – länger als für die Dauer eines Spaziergangs – Sonne und frische Luft tanken konnte. Home Office- und Home Schooling-Arbeitsplätze wurden hier temporär eingerichtet, Pausen verbracht, Mahlzeiten eingenommen, Yogamatten ausgerollt, Balkonpflanzen mit erhöhter Aufmerksamkeit gepflegt. Da die Balkone ganztägig stärker belebt waren als sonst, kam es – in sicherer Distanz – auch zu mehr Gesprächen mit Nachbarinnen und Nachbarn, mit denen man sonst wenig Kontakt hat. Auch die während der Ausgangsbeschränkungen beliebten „Balkonkonzerte“ oder das gemeinsame Applaudieren vom Balkon als Ausdruck des Danks für Helferinnen und Helfer in der Krise trugen zu einem verstärkten Austausch mit der Nachbarschaft bei.

Das Applaudieren vom Balkon, aber auch die vielen Transparente, die während dieser Zeit von Wiener Balkonen abgehängt wurden und etwa mahnten, in der Krise nicht auf die prekäre Lage geflüchteter Menschen oder die Anliegen der Klimaschutzbewegung zu vergessen, erinnerten nicht zuletzt auch an die alte Funktion des Balkons als Ort der politischen Manifestation – und zeugen von der Demokratisierung dieser ursprünglich den politischen und ökonomischen Eliten vorbehaltenen Funktion.

Soziale Repräsentation heute?

Trotz seiner Demokratisierung und erweiterten Nutzung hat der Balkon aber auch in der Gegenwart seine ursprüngliche Funktion als Schmuck und soziales Statussymbol nicht ganz eingebüßt. Lage, Größe und Materialität der Ausstattung eines Balkons erzählen noch immer von Einkommensverhältnissen. Und wie am Balkon welche Pflanzen, Sonnenschirme, Balkonmöbel und Griller arrangiert werden, bietet auch in Zeiten verschwindender ornamentaler Ausführungen von Balkonbrüstungen ausreichend Potenzial für soziale Repräsentation und die Inszenierung von Lebensstilen.
 

Literatur (Auswahl):

Tom Avermaete, Rem Koolhaas u.a.:<font face="FKGrotesk-Regular, sans-serif"> </font>balcony (elements of architecture), Venedig 2014.

Cristian Abrihan: Balkone und -zubauten im Bestand, eine Grundlagenermittlung und Studie der Auswirkung auf das Stadtbild, Wien 2014 (https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/e000013.pdf; aufgerufen am 30.6.2020).

Tamara Sill: Draußen am Balkon. Von der großen Bühne zur kleinen Freiheit (https://orf.at/stories/3164892; aufgerufen am 30.6.2020)

Wohnen. Zahlen, Daten und Indikatoren der Wohnstatistik, hg. von der Statistik Austria, Wien 2019.

Quellen:

Leo Wilsdorf: „Das Haus zur eisernen Kette“ („Wiener Volksroman“ in mehreren Folgen), in: Illustrierte Kronenzeitung, 2. Oktober 1932 ff.

Andreas Nierhaus, Kunsthistoriker und Kurator für Architektur und Skulptur im Wien Museum. Forschungsschwerpunkte: Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Medien der Architektur. Ausstellungen und Publikationen u.a. über die Wiener Werkbundsiedlung, die Ringstraße, Otto Wagner, Richard Neutra und Johann Bernhard Fischer von Erlach.

Martina Nußbaumer studierte Geschichte, Angewandte Kulturwissenschaften und Kulturmanagement in Graz und Edinburgh und ist seit 2008 Kuratorin im Wien Museum. Ausstellungen, Publikationen und Radiosendungen (Ö1) zu Stadt- und Kulturgeschichte im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Geschlechtergeschichte sowie zu Geschichts- und Identitätspolitik.

 

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