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Crowdsourcing bei Ansichtskarten
Transkribieren, übersetzen, kontrollieren
Um welchen Bestand von Ansichtskarten aus der Sammlung des Wien Museums ging es bei dem Projekt?
Postkarten gibt es in der Museumssammlung in unterschiedlichen Bereichen, also z.B. in der Porträtsammlung, in der Kunstsammlung etwa in Form der Wiener Werkstätte-Postkarten, es gibt Propaganda-Karten zum Ersten Weltkrieg etc. Beim Crowdsourcing ging es aber ausschließlich um topografische Ansichtskarten. Und zwar um die meist verwendeten, losen Karten ohne Sonderbestände, also jene, die nicht in Alben etc. sind. Von diesen 11.000 Ansichtskarten sind rund 2000 beschriftet und verschickt worden. Nachdem diese Objekte bereits – als erste Stufe im Rahmen eines BKA-geförderten Projekts – digitalisiert wurden, ging es nun beim Crowdsourcing darum, die privaten Mitteilungen auf den Karten zu transkribieren und gegebenenfalls auch zu übersetzen.
Warum sind diese 2000 Exemplare beschriftet, die restlichen aber nicht?
Das hat mit der Sammlungsgeschichte und der Geschichte des Mediums zu tun. Viele Ansichtskarten wurden vom Museum direkt vom Hersteller gekauft, und zwar schon um 1900, als das Medium noch neu war. Erst später kamen durch Schenkungen und Ankäufe aus Antiquariaten auch solche Karten in die Sammlung, die tatsächlich beschrieben und verschickt wurden. Speziell für die topographische Sammlung wurden jedoch gut erhaltene, „ungelaufene“ Exemplare wegen der Bildinhalte bevorzugt.
Früher war es – außer bei Prominenten – nicht relevant, was auf der Rückseite der Karten stand. Ähnlich wie es bei der Philatelie lange Zeit nur um die einzelne Briefmarke ging. Nun werden aber die Briefumschläge und die Briefe selber zum Sammelobjekt. Ist das bei den Postkarten ähnlich?
Lange Zeit dienten Postkarten lediglich der Verortung von Gebäuden, der Demonstration von „guter alter Zeit“ oder zur Illustration von Lokalgeschichte. Doch im Zuge der sogenannten Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft hat man vor zwanzig, dreißig Jahren langsam begonnen, sich auch für die Bildmotive als Ausdruck kollektiver Wahrnehmungsweisen zu interessieren. Was wurde wie abgebildet? Was fand man wann schön und wann nicht mehr? In der jüngeren Vergangenheit sind auch die Mitteilungen stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Damit lassen sich Alltagspraktiken von früher erschließen, da geht´s auch um Fragestellungen zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte: Wer schickt solche Karten an wen und zu welchem Zweck? Wie sieht die Kommunikation auf solchen Karten aus?
Wie kam es zum Crowdsourcing-Projekt?
Während des Umbaus des Museums am Karlsplatz wollen wir vermehrt digitale Formate ausprobieren, und zwar solche, die im Netz einen Mehrwert bringen. Wir wollten bewusst nicht unsere Kernformate ins Digitale transformieren. Crowdsourcing-Projekte sind bislang eher in Bibliotheken üblich, vor allem im amerikanischen Raum. Aber auch die Österreichische Nationalbibliothek hat vor ein paar Jahre eine große Kampagne gestartet. Auch im Gespräch mit dem Graz Museum, die eine Online Postkartensammlung haben, haben wir dann das Crowdsourcing-Konzept zu diesem Bestand entwickelt, der für die Forschung relevant ist. Um den Bestand aus Sándors Sammlungsbereich noch besser zu erschließen, wollten wir die „Crowd“ um Mithilfe beim Transkribieren und Übersetzen bitten.
Was hat sich von der ersten Idee bis zur Umsetzung verändert?
Wir wollten das Projekt ursprünglich nicht ausschließlich digital umsetzen, sondern gemeinsam mit der Vermittlungsabteilung ein Begleitprogramm anbieten. Mit Seminaren und Fachvorträgen wollten wir ehrenamtliche Mitarbeiter*innen gewinnen und den Austausch in der Gruppe fördern. Aber aufgrund der Corona-Pandemie wurde es ein rein virtuelles Projekt, das wir möglichst benutzerfreundlich gestalten wollten. Einige Funktionen, wie eine Chat-Funktion oder ein „Überprüfen“ als zweiten Arbeitsschritt haben wir nach Diskussionen weggelassen, um es möglichst klar und einfach zu halten. Man kann anonym teilnehmen, selber transkribieren und die Transkriptionen anderer korrigieren, und man kann bei Fragen mit uns in Kontakt treten. Das ist auch in großem Ausmaß passiert und wir waren sehr froh, dass dieser Kontakt via E-Mail und auch telefonisch stattgefunden hat – und nicht in einem virtuellen Chatbereich. Diese persönliche Rückkoppelung mit der Crowd und der qualitative hochwertige Dialog war uns wichtig –so ist das ganze Projekt ein Geben und Nehmen. Es war ein ganz neues Format fürs Museum, ein Experiment.
Es ging einerseits um eine Balance in der Offenheit: Wir wollten einen offenen Austausch mit der Crowd, uns aber nicht in der Kommunikation „verzetteln“. Und es ging andererseits um eine Balance zwischen museologischen Standards und Niederschwelligkeit. Um dazu ein Beispiel aus dem Bereich Rechtschreibung zu nennen: Wir haben zwar auf die Wiedergabe der Originalschreibweise inkl. Abkürzungen usw. bestanden, aber die Leute nicht dazu aufgefordert, bei der Transkription die Zeilenumbrüche des Originals zu berücksichtigen. Das wäre in diesem Fall zu viel des Guten gewesen und kann bei einer allfälligen späteren Verwendung immer noch nachgeholt werden.
Wieso hat das Museum nicht selber die Transkription übernommen?
Für mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war das Projekt aufwendig in der Betreuung, neben der begleitenden Kommunikation auch in der Vorbereitung: Digitalisierung, Datenvorbereitung, Bildbearbeitung, Rechteklärung… Alles Bereinigungsarbeit, die dann zusammen mit den Transkriptionen der User*innen zur nachhaltigen Verbesserung der Datenqualität beitragen. Im Rahmen der Datenbereinigung hat übrigens ein Kollege bereits die leichter lesbaren Mitteilungen auf den Karten insofern erfasst, ob sie etwa Bezug auf den Ort nehmen, der abgebildet ist, oder eine Terminvereinbarung enthalten. Auch die Geschichte der häufigen Postzustellung ist ein interessantes Thema, das sich so mit erschließen lässt. Früher wurde die Post ja mehrmals pro Tag zugestellt, Postkarten – ob illustriert oder nicht – dienten auch dazu, sich kurzfristig zu verabreden. Die Postkarte war also eine Frühform der beschleunigten Kommunikation in der Stadt. Es finden sich auch viele Mitteilungen auf den Postkarten, aus denen man schließen kann, dass Postkarten gesammelt wurden. Alle diese Information gehen freilich weit über topografische Belange hinaus. Daher war die vollständige Transkription für ein Crowdsourcing-Projekt und fürs Museum ideal, noch dazu, weil ja zehn Prozent der Ansichtskarten fremdsprachig sind. Eine hastig in Kurrentschrift geschriebene oder auf Tschechisch verfasste Grußbotschaft lässt sich nicht so `nebenbei` von uns im Haus transkribieren.
Der Response des Projekts war enorm, womit in der Form kaum jemand gerechnet hätte…
Wir hatten kaum Vergleichswerte und waren sehr überrascht, dass extrem schnell extrem viel bearbeitet wurde. Nach zwei Wochen war ein Großteil der Karten transkribiert bzw. übersetzt. Überwältigend! Über 400 Menschen haben bislang aktiv mitgemacht, die Verweildauer auf der Website ist lange. Von den rund 2000 Karten sind nur noch zehn Karten unbearbeitet. Das bedeutet aber nicht, dass jetzt auf der Seite nichts mehr passiert, denn die Teilnehmer*innen verbessern laufend die Qualität, bestehende Transkriptionen und Übersetzungen werden ergänzt und korrigiert. Und viele Menschen nutzen offenbar die Seite auch, um die transkribierten Karten einfach so zu lesen.
Zum Erfolg beigetragen hat sicher, dass wir gleich zu Beginn ein großes Medienecho hatten, vor allem mit einem Bericht auf der Startseite von orf.at.
Hätte das Projekt auch mit anderen Beständen aus dem Museum funktioniert?
Natürlich kann man sich überlegen, mit welchen anderen Beständen das auch gut funktionieren könnte. In diesem Fall war sicher ausschlaggebend, dass historische Postkarten beliebt und attraktiv sind: ein Medium, bei dem man quasi auch ins Privatleben der Leute blicken kann, mit kurzen, überschaubaren Texten und gefälligen Stadtansichten. Das ist etwas anderes, als einen fünfseitigen Brief zu transkribieren.
Die Transkriptionen und Übersetzungen werden in die interne wissenschaftliche Datenbank des Museums übernommen. Das ist durchaus ein Paradigmenwechsel für ein Museum. Nach welchen Kriterien erfolgt die Übernahme?
Wir übernehmen die letzte Version an Transkriptionen und Übersetzungen in unsere Datenbank, weil wir davon ausgehen, dass sich über die Bearbeitung durch verschiedene User*innen die Qualität steigert.
Das mit dem Paradigmenwechsel ist schon richtig, weil ja bislang Informationen in unserer Objektdatenbank meist von Mitarbeiter*innen des Museums stammen. Bei einem derartigen Bestand bietet sich diese Öffnung an, bei anderen Themen – etwa bei der Verortung von topografischen Objekten, die wir mit geringem Aufwand auch selbst durchführen könnten – wäre ich eher vorsichtig. Jedenfalls hat die Arbeit im Rahmen des Crowdfunding-Projekts erheblichen Mehrwert gebracht: Über unsere Datenbank - online und intern – werden nach Abschluss des Projekts die Informationen aus den transkribierten Texten über Volltextsuche auffindbar sein. Wer also nach einem Ort, einem Ereignis oder Ähnlichem sucht, erhält jetzt möglicherweise Treffer, die aus diesem Bestand stammen und bislang nicht erfasst waren. Die Crowd hat also eine wichtige Zwischenstufe zur Erschließung geleistet. Vor einer eventuellen Buchpublikation oder für eine Ausstellung würden wir die Texte aber nochmals kontrollieren.
Im Frühjahr 2023 soll im Wien Museum MUSA eine große Ansichtskartenausstellung gezeigt werden. Was hat das Crowdfunding-Projekt damit zu tun?
Die Ergebnisse der Aktion werden dort je nach Fragestellung einfließen. Im Mittelpunkt der Schau steht an sich die Bildseite der Postkarten. Wir stellen die Geschichte des Mediums dar, zeigen Produzenten und Verlage, untersuchen, welche Motive Karriere gemacht haben. Anhand eines Bezirks soll dargestellt werden, wie viele unterschiedliche Motive es vor 1915 oder vor 1945 gegeben hat, während man heute oft nur noch die klassischen Sehenswürdigkeiten am Ansichtskartenstand wiederfindet. Die Ausstellung wird eine umfassende Postkartengeschichte am Beispiel von Wien sein, wie es sie in dieser Form noch nicht gegeben hat. Dabei geht es auch um die urbane Praxis des Postkartenverschickens, also um Kommunikation im Alltag: Und für dieses Thema hilft uns die private Mitteilungsebene der Postkarten enorm. Insofern profitiert auch das Ausstellungsprojekt jetzt indirekt von der Crowdsourcing-Kampagne.
Das Crowdfunding-Postkartenprojekt finde man unter crowdsourcing.wienmuseum.at.
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Kommentare
Ein hochinteressantes Projekt! Auf die Ausstellung im Jahre 2023 kann man sich jetzt schon freuen!