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Thomas Keplinger, 3.12.2024

Die Kanalbrigade der SA

Terror im Untergrund

Nachdem Engelbert Dollfuß im März 1933 das Parlament ausgeschaltet hatte, entmachtete er sukzessive die Arbeiterschaft und ihren politischen Einfluss. Im Widerstand gegen das austrofaschistische Regime plante der Republikanische Schutzbund – als militärischer Arm der Sozialdemokraten – unter anderem auch, Sprengstoffanschläge aus der Kanalisation heraus durchzuführen. Dies wiederum erregte das Interesse der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA).

Ende April 1934 fand die Vernehmung des vormaligen Bezirksleiters des Schutzbunds für den 15. Bezirk Alfred Korbel im Rahmen des sogenannten Schutzbundprozesses statt. Er erklärte dem Gericht den „Aktionsplan“ des Aufstands gegen die Regierung: Nach Ausrufung des Generalstreiks sollten Gas und elektrisches Licht abgesperrt, der Betrieb der Straßenbahn eingestellt, anschließend der Republikanische Schutzbund alarmiert und bewaffnet werden. Im weiteren Verlauf beabsichtigte man, prominente Mitglieder der Regierung, der Polizei, gegnerischer Verbände wie etwa der Heimwehr und des Militärs zu verhaften. Gleichzeitig wollte man Polizeiwachstuben sowie Kasernen überrumpeln und besetzen.

Der Gürtel sollte so lange gehalten werden, bis der Schutzbund die äußeren Bezirke kontrollierte, als nächstes Ziel sei das Zentrum der Stadt vorgesehen gewesen. Sollten die überraschenden Besetzungen der Wachstuben und Kasernen sowie der Regierungsgebäude scheitern, so beabsichtigte man, so Korbel, diese Angriffsziele durch eigene Kommandos aus den Kanälen heraus zu sprengen. Zur Vorbereitung entsprechender Pläne fanden im November 1933 Begehungen der Kanalisation statt.

Für die Orientierung im Untergrund griff der Schutzbund auf die Ortskenntnis der sogenannten Kanalräumer zurück, die die unterirdischen Gefilde kannten wie ihre Westentasche. Die Zusammenarbeit zwischen Kanalarbeitern und Schutzbund beruhte auf traditionellen Wurzeln – von Frühjahr 1927 bis März 1931 existierte der Schutzbund der Kanalräumer (SdK) als Untergruppe des Schutzbunds der städtischen Angestellten (SstA). Gründer und Obmann des SdK war Paul Gajdorusz, Chef des SstA der ehemalige Gemeinderat Karl Reder.

Ausformulierte Pläne für die Durchführung von Sprengungen durch den Schutzbund fand die Polizei 1933/1934 zwar nicht, doch erhielt sie einen Hinweis, am 15. Jänner 1934 habe eine Besprechung des Vorstands der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) stattgefunden, in der „Verfügungen über die Sprengung von taktisch und politisch wichtigen Gebäuden ergangen seien.“

Eduard Korbel erhielt laut eigener Aussage einen direkten Auftrag durch Nationalrat Karl Heinz: „[…] wenn die Aktion beginnt, wird ein Kanalräumer aus dem Bezirk sich bei Ihnen melden, Sie nehmen dann eine Gruppe Schutzbündler und Sie werden von dem Kanalräumer durch den Kanal zum [Polizeikommissariat] Schmelz in der Tannengasse geführt werden. Unsere Aufgabe bestünde darin, im Kanal von zwei Seiten aus, und zwar im Kanal unter der Tannengasse und unter der Beingasse das Kommissariat in der Tannengasse und das Gebäude der Domänendirektion zu sprengen.“

Der oben bereits erwähnte Paul Gajdorusz, nunmehr Obmann des Betriebsrats der städtischen Kanalarbeiter, wurde nach Niederschlagung der Februarkämpfe von der Polizei vernommen. Er gestand, durch Josef Swoboda, den technischen Leiter des SstA, den Auftrag erhalten zu haben, für jeden Bezirk zwei vertrauenswürdige Kanalräumer zu nennen, bestritt aber, von den Plänen gewusst zu haben, diese sollten Sprengkommandos durch das Kanalnetz zum Einsatzort führen. Die Liste mit den vertrauenswürdigen Kanalarbeitern hatte Swoboda an den Stabschef des Schutzbundes, Alexander Eifler, und den Kommandanten der Wiener Gemeindewache, Theodor Schubauer, weitergeleitet – beide gehörten der Zentralleitung des Schutzbundes an.

Schließlich eröffnete man gegen Gajdorusz und Reder wegen des Verdachts des Hochverrats und des Aufruhrs ein eigenes Verfahren. Im Zuge dessen sagte der ehemalige Kompanieführer des SdK Robert Huber aus, Gajdorusz sei für die Bewaffnung der Untergruppe zuständig gewesen und gemeinsam hätten sie an einigen Sitzungen des SstA teilgenommen. Darum bemüht, den Stellenwert der möglichen Sprengstoffanschläge herunterzuspielen, gab er bezüglich dieser Sitzungen zu Protokoll: „Hiebei kam zur Sprache, daß in den einzelnen Schutzbundkreisen Kanalräumer ausgesucht werden sollten, welche die Aufgabe hatten, die Schutzbündler in die Kanäle zu führen, um diese unterirdisch auf Sammelplätze zu bringen, bezw. die Verbindung unter den einzelnen Schutzbundgruppen aufrecht zu erhalten. Nicht in meiner Anwesenheit ist jedoch zur Sprache gekommen, daß die Schutzbündler von den Kanälen aus Angriffe vorbereiten oder Sprengungen vornehmen. Ich halte dies auch für ausgeschlossen, weil die Begehung der Kanäle sehr schwierig ist und Sprengungen infolge der herrschenden Feuchtigkeit nur geringe Wirkungen haben können.“

Der Kanalarbeiter Anton Trpak bestätigte, Gajdorusz habe im Herbst 1928 90 Faustfeuerwaffen an die Angehörigen des SdK ausgegeben – außerdem habe er sich 1930 von den Kanalräumern und Betriebsräten Skizzen von den Kanälen erbeten, wodurch sich die Hinweise auf Gajdorusz‘ direkte Beteiligung an den Angriffsplänen im Februar 1934 verdichteten. Er galt zwar als radikaler Sozialdemokrat, dennoch hielt der stellvertretende Vorstand der MA 31 (Betriebskanalisationswesen) Franz Czapek den Vorwurf, seine Mitarbeiter könnten Anschläge über die Kanäle durchführen, für unwahrscheinlich: „Mir ist jedoch nicht bekannt, daß besonders radikale Elemente existieren, welche Sprengstoffe in die Kanäle verschafft oder sonst wie Terrorakte verübt hätten. Eine derartige Anzeige ist mir niemals vorgebracht worden. Im Übrigen sind Sprengstoffattentate vom Kanal aus infolge der Feuchtigkeit der Kanäle und der Schwierigkeit der Einlagerung sehr unwahrscheinlich, zumal ja bekanntlich eine Explosion nur dann eine besondere Wirkung zeitigen kann, wenn die Gase in hermetisch abgeschlossenen Räumen zur Explosion kommen, was bei den ziemlich breiten Kanälen nicht der Fall ist.“

Das Gericht stellte 1935 das Verfahren gegen Gajdorusz und Reder ein – Reder wurde im Oktober 1934 und Gajdorusz im Zuge einer Weihnachtsamnestie im Dezember dieses Jahres aus dem Anhaltelager Wöllersdorf entlassen. Auch wenn die die Sozialdemokraten aus den Februarkämpfen als Verlierer hervorgingen, beeindruckte doch der Wille zum politischen Umsturz die Nationalsozialisten, die Gleiches im Schilde führten, wie sich einige Monate später beim Juliputsch zeigte. Richard Bernaschek, der Landesleiter des oberösterreichischen Schutzbunds, schildert in seiner Schrift „Die Tragödie der österreichischen Sozialdemokratie“ das Verhältnis der gegensätzlichen Parteien: „Zum Sturz des Dollfuß-Regimes suchte ich in München ein Kampfbündnis mit den Nationalsozialisten herbeizuführen. Trotz ihrer antimarxistischen Einstellung. Die Wirkung unserer Februar-Revolte auf die Nationalsozialisten schien damals für eine gemeinsame Aktion günstig. Sie schätzten diese marxistischen Rebellen, warben um sie und suchten sie zu gewinnen. Es gelang nur zu einem kleinen Teil. Die große Masse der Kämpfenden blieb gesinnungstreu. Ein zeitlich begrenztes Bündnis – bei voller Wahrung unserer Selbständigkeit und Gesinnung – schien mir im Bereiche der Möglichkeit zu liegen.“

Als aber die deutsche NS-Führung dem Druck und der Verbreitung von Bernascheks Schriften nicht zustimmte, was dieser für die Bildung des angestrebten Bündnisses vorausgesetzt hatte, ließ er seine diesbezüglichen Pläne fallen.


Die SA-Kanalbrigade – der „Sturmbann IV/99“

Während in diesen Jahren zwar alle politischen Parteien über bewaffnete Formationen verfügten, waren es vor allem die Nationalsozialisten, die mit Böller- und Sprengstoffanschlägen Angst und Schrecken verbreiteten.

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Eine der NS-Terrorgruppen führte der Schneidermeister Ägydius Svacina an, der im September 1934 gemäß Zeugenaussagen beabsichtigte, Sprengstoffanschläge aus der Kanalisation heraus gegen die Votivkirche und das Bundeskanzleramt durchzuführen. Das Vorhaben vereitelte die Kanalbrigade der Wiener Polizei, die verstärkt die Kanäle bestreift und Vergitterungen montiert hatte, nachdem Svacinas Pläne durchgesickert waren.

Im Frühjahr 1935 entdeckte die Polizei im Zuge einer Hausdurchsuchung im Atelier des Modezeichners Günther Ohnheiser eine Mappe mit zahlreichen Skizzen, die offensichtlich der Vorbereitung terroristischer Anschläge dienten. Ohnheiser war überzeugter Nationalsozialist und bereits seit 1931 Mitglied der NSDAP. Nach dem „Anschluss“ machte er Karriere als Sachbearbeiter für Mode im Kulturamt der Stadt Wien und avancierte später sogar zum Leiter des Hauses der Mode. 

Als Anschlagsziele wurden das Haus der niederösterreichischen Landesregierung, die Stiftskaserne und verschiedene Polizeiwachzimmer festgestellt. Weiters befanden sich in der Mappe Pläne für Sprengungen des Simmeringer Gasstegs sowie der Fernkabelanlage des Fernsprechamts am Schillerplatz. Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoffen und leicht brennbaren Flüssigkeiten vervollständigten die Unterlagen. Als deren Verfasser eruierte die Polizei den kaufmännischen Ingenieur und SA-Standartenführer Viktor Klima. Ein Gutachter stellte die hohe Effizienz der Planung fest. Der Anschlag auf die Fernkabel hätte die Überlandverbindungen auf unabsehbare Zeit lahmgelegt.

Klima war im Juni 1932 der SA und im September desselben Jahres der NSDAP beigetreten. Infolge der eindeutigen Zuordnung seiner Person zu den aufgefundenen Plänen wurde er wegen Hochverrats und Verbrechens nach dem Sprengstoffgesetz angezeigt. Zu den Vorwürfen befragt gab er an, ein Parteimitglied habe ihm den Text diktiert und die Zeichnung habe er vom Original des namentlich nicht genannten Mannes kopiert. Das Gericht schenkte seiner Erzählung keinen Glauben und verurteilte ihn Anfang März 1936 zu fünf Jahren schweren Kerkers. Sieben Monate später wurde er begnadigt und entlassen.

Einer jener Sozialdemokraten, die die Nationalsozialisten auf ihre Seite ziehen konnten, war der städtische Kanalarbeiter Karl Mielnikowicz. Seit 1921 war er Mitglied der SDAP gewesen – nach dem Parteiverbot 1933 betätigte er sich illegal weiter: „Als Angehöriger der Nachrichtengruppe des Rep[ublikanischen] Schutzbundes oblag mir die Ausarbeitung von Verbindungswegen im Kanalnetz zur Kaserne Breitensee zur Nachrichtenübermittlung. (1933–34)“.

In diesem Sinne brachte er Angehörigen des Schutzbunds bei, sich im Bereiche besagter Kaserne in der Kanalisation zu bewegen und den Kontakt mit „kasernierten sozialistischen Wehrmännern aufrecht zu erhalten.“ Eigenen Angaben zufolge verhinderte er im Februar 1934 die Sprengung der Breitenseer Kaserne.

Anfang Juli 1935 wechselte er die Seiten und betätigte sich als Truppführer der Sturmabteilung in der sogenannten SA-Kanalbrigade. Diese Formation darf nicht mit der Kanalbrigade der Wiener Polizei verwechselt werden, die zwar ebenfalls von Nationalsozialisten durchdrungen war, aber nicht der SA unterstand.

Die offizielle Bezeichnung der 1933 gegründeten SA-Kanalbrigade lautete bis Frühling 1938 Sturmbann IV der SA-Standarte 99 (Sturmbann IV/99), die der SA-Brigade 90 (Wien-Ost) unterstand. Im Gauakt des Viktor Klima befindet sich ein zweiseitiger Auszug über seinen Werdegang in der SA, der höchstwahrscheinlich dem „Ehrenbuch der nationalsozialistischen Rebellen der ehemals Österreichischen Post“ (Wien 1939) entstammt. Daraus geht detailliert die Entwicklung des Sturmbanns IV/99 hervor. Klima leitete ab November 1932 den technischen Sturm 14 der SA-Standarte 4, dessen Angehörige sich aus technisch versierten Männern, hauptsächlich aus Post- und Telegraphenangestellten zusammensetzten (ein Sturm setzte sich aus 72 bis 240 Mitgliedern zusammen, während ein Sturmbann 216 bis 2.400 Personen umfasste).

Die sogenannten Scharen dieser SA-Trupps und -Stürme spezialisierten sich auf Spreng- und Gaswesen sowie Nachrichtendienst. Wenige Monate später wurden die technischen Stürme der SA-Standarten 4 und 24 im Sturmbann 5 zusammengelegt, den Klima ab Mai 1933 leitete. In der Folge gliederte man den Sturmbann 5 dem Sturmbann 99 an, wodurch dieser in den Status einer Standarte mit der Nummer 99 überging. Innerhalb der Standarte rief man nun den Sturmbann IV aka SA-Kanalbrigade ins Leben. Diese Formation stand im Verdacht, Sabotageakte gegen jüdische Geschäftshäuser zu verüben.

Einige Wochen nach dem „Anschluss“ widmete das Neuigkeits-Welt-Blatt dem Sturmbann IV/99 einen Beitrag, der dessen Entstehungsgeschichte erzählte. Ein wichtiger Punkt des Artikels zeigt, wie der Sturmbann sein Personal aus ehemaligen Sozialdemokraten rekrutierte: „Ein alter Kämpfer der Partei, Sturmbannführer Radetzky, nahm die mühsame und gefährliche Arbeit auf sich, die Leute einzeln aus dem Schutzbund herauszulösen, indem er sie monatelang mit dem Ideengut des Nationalsozialismus vertraut machte.“ (Das Resümee des Zeitungsartikels stellt übrigens eine Umkehrung der historischen Tatsachen dar. Während die Sozialdemokraten ihre politischen Ziele de facto nie mit Sprengstoffanschlägen durchzusetzen versuchten, forderte nationalsozialistischer Bomben- und Schusswaffenterror zahlreiche Tote und Verletzte. Dennoch stellt der Verfasser des Artikels die SA-Kanalbrigade durch die behauptete Verhinderung geplanter Sprengstoffanschläge des Schutzbunds im Rahmen der Februarkämpfe als Retter von Wien dar.)

Bei dem „alten Kämpfer der Partei" handelte es sich um Karl Hradetzky, seit 1932 Mitglied der NSDAP. Neben seiner Tätigkeit in der SA arbeitete er unter anderem im Mitarbeiterstab von Arthur Seyß-Inquart. Hradetzkys Vorgesetzter war Viktor Klima, der oberhalb schon genannte Standartenführer. Anscheinend führte Klima ab Mai 1933 die Standarte 99 und Hradetzky den Sturmbann IV. Der genaue Hintergrund des Sturmbanns IV/99 lässt sich nur schwer herleiten. Offenbar hatte Hradetzky die Idee, das technische Know-how der Post- und Telegraphenangestellten mit der unterirdischen Ortskenntnis der Kanalräumer in einem nationalsozialistischen Sprengkommando zusammenzufassen.

Im Juni 1933 gehörten dem Sturmbann IV/99 laut dem Zeitungsartikel zehn ehemalige Angehörige des Schutzbunds an, im Frühjahr 1938 waren es 60. Zu den Mitgliedern zählte seit Februar 1937 auch der oben bereits beschriebene Paul Gajdorusz. Nachdem er Ende Februar 1934 aus den Diensten der Stadt Wien entlassen worden war, folgte er ab März 1935 im Sinne Eiflers der Parole „Hinein in die faschistischen Kampforganisationen“ und beantragte die Mitgliedschaft zur NSDAP, um die Führung der Sozialdemokraten mit Informationen aus dem Lager des politischen Gegners zu versorgen. Anders ausgedrückt: Die nationalsozialistische SA-Kanalbrigade war über einen längeren Zeitraum Ziel sozialdemokratischer Spionage, was Karl Reder 1945 bezeugte: „Über Ihren Wunsch bestätige ich Ihnen gerne, dass mir bekannt ist, dass Sie über Auftrag des republikanischen Schutzbundes mit Zustimmung der Genossen Eifler, Löw, Passauer, Verbindung zur nationalsozialistischen Partei aufnehmen sollten. Diesem Auftrag sind Sie nachgekommen und haben während dieser Zeit den verantwortlichen Stellen wertvolle Informationen überbracht.“

Einige Mitglieder des Sturmbanns IV/99 bestanden vor dem „Anschluss“ nur am Papier. Einer von ihnen war der Kanalmeister Stefan Lawicka. Der weiter oben bereits erwähnte ehemalige Kompanieführer des SdK Robert Huber wollte sich im neuen politischen System ab März 1938 eine gute Position sichern, übte auf zahlreiche Kanalarbeiter Druck aus, der Partei und dem Sturmbann IV/99 beizutreten, datierte einige Eintrittsdaten in die Verbots- und Vorverbotszeit zurück und präsentierte sich als Vorgesetzter dieser dem Scheine nach aus „Alten Kämpfern“ und überzeugten Nationalsozialisten bestehenden Gruppe. Als Druckmittel beschwor er in den Kanalarbeitern die Angst vor der Arbeitslosigkeit herauf, die ihnen als ehemalige Schutzbundangehörige im NS-System angeblich drohte.

So erschien auch Lawicka auf diversen NS-Fragebögen als Parteimitglied seit 1932 und Angehöriger der SA-Kanalbrigade seit Anfang November 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der Kanalräumer Josef Heiduk im gegen Lawicka geführten Volksgerichtsverfahren Folgendes zu Protokoll: „Der Huber war seinerzeit Schutzbundkommandant und alle anderen waren auch beim Schutzbund. Im Jahre 1934 war er gleich ein Schwarzer und bei der vaterländischen Front und dann muss er auch gleich bei den Nazis gewesen sein. Er hat dann mit Gewalt alle gezwungen der Partei und SA beizutreten, indem er eine Liste in den Betrieb schickte, wo von uns 20 Leuten 16 darauf standen.“

Der Kanalarbeiter Leopold Reinagl sagte ähnlich aus: „Der Huber wollte im Jahre 1938 die Kanalbrigade an sich reissen und durch die Partei in höhere Stellung kommen. Er zwang alle in die Partei und SA. Ich machte Huber den Vorwurf wieso er mich zum Illegalen machte, worauf er sagte: ‚sei froh, dass Du jetzt Illegaler bist, denn Du warst früher Schutzbündler‘. Er hat uns dadurch alle unter Druck gehalten.“

Auf Hubers erpresserisches Drängen meldeten sich nach unterschiedlichen Angaben zwischen 80 und 150 Kanalarbeiter – Sozialdemokraten und vormalige Mitglieder des Republikanischen Schutzbunds – zur Betriebs-SA respektive SA-Kanalbrigade. Dank zahlreicher Zeugenaussagen, die die Angaben Heiduks und Reinagls bestätigten, kam das Volksgericht zum Schluss, auch Lawicka sei tatsächlich trotz anderslautender NS-Dokumente in der Verbotszeit nicht Mitglied der SA gewesen und sprach ihn von diesen Vorwürfen frei. Sollte die Geschichte stimmen, so war offensichtlich auch Hradetzky in Hubers Rückdatierungen eingeweiht, denn er scheint in Lawickas SA-Personalakt als jener Sturmbannführer auf, der die zwischen 1935 und 1937 eingetragenen erfundenen Beförderungen vom Rotten- über den Schar- zum Oberscharführer angeordnet haben soll.
 

Das Ende der SA-Kanalbrigade

Nach dem „Anschluss“ bestand der Sturmbann IV/99 trotz seines auf Terror ausgerichteten Charakters für einige Zeit unter Hradetzkys Leitung weiter. Noch im Frühling 1938 wurde die SA-Kanalbrigade der Standarte 100 zugeteilt, die ebenfalls der SA-Brigade 90 (Wien-Ost) unterstand. Mit diesem Vorgang ging offenbar eine Verminderung des Personalstands einher, denn sie scheint nun unter der Bezeichnung „Sturm 23/100“ auf.

Ab Herbst 1938 trug die Einheit die Bezeichnung „Pionier-Sturm“, kurz „Pi/100“. Eventuell gab Hradetzky zu diesem Zeitpunkt das Kommando ab. Entsprechen Lawickas Angaben im SA-Personalakt wenigstens für den Zeitraum nach dem „Anschluss“ den Tatsachen, so leitete er den Pionier-Sturm bis 1939. Angesichts Lawickas beruflicher Stellung als Kanalmeister und somit Ranghöherer vor den Kanalräumern und seines auf Hubers Rückdatierung beruhenden höheren SA-Ranges erscheint diese Angabe zumindest glaubhaft. Sein Vorgesetzter war der bereits mehrfach erwähnte Standartenführer Viktor Klima.

Das Ende der SA-Kanalbrigade kam etwa um den Juni 1939 herum. Ihre Mitglieder teilte man anschließend auf andere Stürme auf, einige von ihnen erscheinen in der Folge als Angehörige des Sturms 23 der Standarte 90. Der Grund für die Auflösung bestand vermutlich in den fehlenden Einsatzbereichen für eine NS-Terrorgruppe, nachdem die NSDAP die Macht übernommen hatte.
 

Quellen und Literatur


ANNO Historische Zeitungen und Zeitschriften, online unter: https://anno.onb.ac.at/
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Zivilakten der NS-Zeit, Gaupersonalamt des Reichsgaues Wien („Gauakten“)
Wiener Stadt- und Landesarchiv, Bundespolizeidirektion Wien: Staatspolizeiliche Abteilung, A1 – Polizeiliche Erhebung
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Wiener Stadt- und Landesarchiv, Landesgericht für Strafsachen, A11 – Vr-Strafakten
Wiener Stadt- und Landesarchiv, Landesgericht für Strafsachen, A13 – Vr; NS: politische, insbeondere (Zitate aus den Vernehmungen): WStLA, Landesgericht für Strafsachen, A13 - Vr; NS: politische: II.3553/1934, Kt. 68, Bd. I, Bl. 226.; WStLA, Landesgericht für Strafsachen, A13 - Vr; NS: politische: II.3553/1934, Kt. 68, Bd. VII, Bl. 30; WStLA, Landesgericht für Strafsachen, A13 - Vr; NS: politische: II.1998/1934, Bl. 30f.
Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 119, A42 – NS-Registrierung, insbesondere: WStLA, M.Abt. 119, A42 – NS-Registrierung: Karl Mielnikowicz, geb. 15.01.1898, Betreff: Einspruch gegen die Liste der Nationalsozialisten, 6. Mai 1946; WStLA, M.Abt. 119, A42 – NS-Registrierung: Karl Mielnikowicz, geb. 15.01.1898, Betreff: Entregistrierung, 27. November 1945; WStLA, M.Abt. 119, A42 – NS-Registrierung:
Paul Gajdorusz, geb. 25.09.1897, Schreiben des Karl Reder an Paul Gajdorusz, 12. Juni 1945; Wien, 22. Februar 1946.
Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 202, A5 – Personalakten 1. Reihe
Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht, A1 – Vg Vr Strafakten, insbesondere: WStLA, Volksgericht, A1 – Vg Vr-Strafakten: Vg Vr 4684/45, Bl. 133; StLA, Volksgericht, A1 – Vg Vr-Strafakten: Vg Vr 4684/45, Bl. 133.

Richard Bernasek, Die Tragödie der österreichischen Sozialdemokratie (Selbstverlag 1934) 
Ingrid Holzschuh, Sabine Plakolm-Forsthuber (Hg.): Auf Linie. NS-Kunstpolitik in Wien. Die Reichskammer der bildenden Künste (Publikation zur Ausstellung Auf Linie. NS-Kunstpolitik in Wien), (Wien, 2021) 
Barry McLoughlin, Zur Wehrpolitik der SDAPÖ 1923–1934, in: Erich Fröschl, Helge Zoitl (Hg.), Der 12. Februar 1934. Ursachen, Fakten, Folgen (Wien 1984)

 

Hinweis: Einen Beitrag zur Geschichte der Wiener Kanalbrigade finden Sie hier.

 

Thomas Keplinger hat Geschichte an der Universität Wien studiert. Er betreibt das detailhistorische Forschungs- und Dokumentationsprojekt „Worte im Dunkel“. Darin widmet er sich in Form eines Blogs Beschriftungen, Graffiti, Schildern, Aushängen, Zeichnungen und Symbolen des Zeitraums zwischen 1932 und 1955, die noch heute dort anzutreffen sind, wo sie einst angebracht oder aufgehängt wurden.

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