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Die Siedlerinnen vom Rosenhügel
Ziegelschupfen und Emanzipation
Auf den besetzten Arealen, die vornehmlich im öffentlichen, kirchlichen oder kaiserlichen Eigentum standen, errichteten die Siedlerinnen und Siedler einfache Behausungen, um sich mit Obst- und Gemüseanbau sowie Kleintierhaltung selbst zu versorgen. Aus dieser Selbsthilfe entstand Anfang der 1920er-Jahre die genossenschaftlich orientierte Wiener Siedlungsbewegung, deren Grundsätze das gemeinnützige Genossenschaftseigentum am Haus, der Arbeitseinsatz der einzelnen SiedlerInnen, eine gemeinschaftliche Infrastruktur sowie die Selbstverwaltung waren. Die breite Volksbewegung bot konsequente Antworten auf den Krieg und den fast uneingeschränkten Zugriff des Staates auf das politische und private Leben. Es ging nun darum, existenzielle Fragen wie Wohnen, Ernährung, Fürsorge, Kultur oder Bildung selbst zu bestimmen und basisdemokratisch zu organisieren.
Die SiedlerInnen setzten die seit 1919 sozialdemokratisch regierte Stadt mit Großdemonstrationen unter Druck, die ihrerseits um eine Linie bemüht war. Bürgermeister Jakob Reumann zählte zu ihren Unterstützern, anderen erschien der Drang zum eigenen Haus als zu bürgerlich und die Eigeninitiative der SiedlerInnen sprengte den gewohnten administrativen und infrastrukturellen Rahmen. Um die Siedlungstätigkeit in geordnete Bahnen zu lenken und sie wohl auch politisch zu kontrollieren, begann die Gemeinde ab 1920 die SiedlerInnen finanziell und technisch zu unterstützen. So entstanden ca. 3.000 Siedlungshäuser in mehr als 40 Anlagen. Ab 1923 forcierte die Gemeinde dann den mehrgeschoßigen Wohnbau, den klassischen Gemeindebau im Roten Wien.
Ab 1921 entstand am Rosenhügel im 12. Bezirk eine der Pioniersiedlungen der „Siedlungsgenossenschaft Altmannsdorf und Hetzendorf“ mit 543 Reihenhäusern nach den Plänen der Architekten Emil Krause und Hugo Mayer. Neben einem großen Garten verfügten die Häuser über 60 m² Wohnfläche auf zwei Geschoßen. In angebauten Stallungen wurden Kleintiere gehalten.
Die Grundstücke stellte die Gemeinde als Baurecht zur Verfügung, auch die Finanzierung wurde zu großen Teilen von der Stadt übernommen. Die SiedlerInnen brachten als Eigenleistung 1.500 bis 2.000 Arbeitsstunden als „Muskelhypothek“ ein, die akribisch in „Stundenbüchern“ vermerkt wurden. Die Arbeiten wurden überwiegend händisch ausgeführt, Maschinen standen kaum zur Verfügung. Die Ziegel, sogenannte Pax-Ziegel, wurden wegen Materialmangel aus Schlacke, Sand und Zement selbst erzeugt.
Um den Gemeinschaftssinn und die Solidarität unter den Genossenschaftsmitgliedern zu stärken, wurden die Häuser erst nach ihrer Fertigstellung verlost. Zentrum der Siedlung war das 1924 eröffnete Genossenschaftshaus, das über einen großen Fest- und Theatersaal verfügte, Zeitungen und Lektüre zur Verfügung stellte und als alkoholfreie Gaststätte geführt wurde. In den 1970er-Jahren fiel der großzügige Bau einem Brand zum Opfer.
Der Wiener Fotograf Josef Derbolav dokumentierte 1921 mit viel Empathie das Werden der Siedlung am Rosenhügel und die Arbeit der SiedlerInnen. Insbesondere die Frauen, die am Bau schwere Arbeit verrichteten, standen im Fokus seiner Aufmerksamkeit. Mit Fotos aus dieser Serie illustrierte auch die US-amerikanische Schriftstellerin Solita Solano ihre berühmte Reportage über das Nachkriegswien, die 1923 im National Geographic Magazine erschien. In „Vienna. A Capital Without a Nation“ beschrieb sie mit unverkennbarem Erstaunen die Tätigkeit der SiedlerInnen: „Daher arbeiten tausende Frauen und Kinder durchgehend in verschiedenen Siedlungen am Rande Wiens und verdienen sich damit ihre zukünftige Behausung: Sie brennen Ziegel, heben Fundamente aus, sieben Sand und rühren Mörtel an. Am Samstag und am Sonntag stoßen die Männer dazu und arbeiten von der Morgendämmerung bis zur Dunkelheit.“
Diese für die Wiener Stadtgeschichte so besondere Erzählung über Empowerment und Emanzipation geriet später weitgehend in Vergessenheit. Auch hatten Austrofaschismus und Nationalsozialismus das Gemeinschaftsideal nachhaltig desavouiert. Erst in den 1980er-Jahren entdeckten vor dem Hintergrund der Neuen Sozialen Bewegungen StadtforscherInnen das große Potenzial der Siedlungsbewegung im Roten Wien. Einem breiten Publikum wurde das Thema durch die Ausstellung „Einfach Bauen“ 1985 im Wiener Künstlerhaus bekannt. Damals entstand auch die Skulpturengruppe „Ziegelschupferinnen“ des Wotruba-Schülers Oskar Höfinger, die nach Ende der Ausstellung am Rosenhügel aufgestellt wurde (Ecke Wundtgasse / Rosenhügelstraße). Anlässlich des Frauentages 2020 und des 100-jährigen Bestehens der Siedlung am Rosenhügel werden nun die fünf lebensgroßen Frauenfiguren und ihr historischer Kontext mit einer Info-Tafel erklärt.
Friedrich Hauer, Andre Krammer: Das wilde Wien. Rückblick auf ein Jahrhundert informeller Stadtentwicklung, in: Derive 71, 2018
Elke Krasny (Hg.): Hands-on Urbanism 1850-2012. Vom Recht auf Grün, Wien 2012
Klaus Novy, Wolfgang Förster (Hg.): Einfach bauen, Wien 1985
Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler, Elke Wikidal (Hg.): Das Rote Wien 1919-1934. Ideen Debatten Praxis, Wien 2019
Solita Solano: Vienna: a Capital without a Nation, in: The National Geographic Magazine, January 1923, S. 77-102.
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