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Gerhard Milchram und Tabea Rude, 29.3.2021

Fahrräder und Uhren

Die Stunde des Bicycles

Als im späten 19. Jahrhundert der Hype um das Fahrrad ausbrach, ließ sich auch der junge Wiener Uhrmacher Josef Nicolaus davon inspirieren, nicht zuletzt weil es konstruktive Ähnlichkeiten zwischen Uhren und „Bicyclen“ gab. Nicolaus’ Uhrensammlung ging später ans Uhrenmuseum – ein bitteres Ende für den außergewöhnlichen Uhrmacher.

Ende des 19. Jahrhunderts begann ein neues Fortbewegungsmittel die Metropolen der Welt zu erobern: das Fahrrad. Herrenfahrer auf ihren „so vollkommenen und eleganten Maschinen“ ließen sich bei der Ausübung ihrer eindrucksvollen, aber gefährlichen Passion bewundern. Diese Hochräder waren in den 1870 und 1880er Jahren Ausdruck modernster Technik, in der sich Präzisionsmechanik und modernste Ingenieurskunst vereinten.

Allerdings setzte das Fahren dieser Maschinen eine gewisse Risikobereitschaft voraus, war doch die Gefahr eines Sturzes über das Vorderrad, der gefürchtete „Banger“, eine ständige Bedrohung. Auch waren diese Räder für den alltäglichen Straßenverkehr wenig geeignet und wurden hauptsächlich als Sportgerät und bei artistischen Vorführungen eingesetzt. Erst die Entwicklung der sogenannten „Sicherheitsräder“ in den 1880er Jahren begegnete der Gefahr eines „Banger“ effektiv und machte das Gerät alltagstauglich.

Die Firma Starley in England brachte 1884 unter dem Namen „Rover“ das erste Niederrad auf den Markt. Es hatte zwei gleich große Räder, die Pedale waren in der Mitte zwischen den beiden Rädern angebracht, der Sattel senkrecht darüber. Eine Endloskette übertrug die Tretbewegung auf das Hinterrad. Anfangs von den Hochradfahrern misstrauisch beäugt und verachtet, setzte sich die neue Entwicklung spätestens ab dem Zeitpunkt durch, als mit dem neuen Rad Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt wurden und mit der Erfindung des Luftreifens 1889 der Fahrkomfort deutlich erhöht wurde. Der Siegeszug des Fahrrades war nicht mehr aufzuhalten und die Begeisterung über das neue Verkehrsmittel entwickelte sich zu einem wahren Hype, der auch von zahlreichen Prominenten befördert wurde.

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Arthur Schnitzler wurde ein begeisterter Jünger, der versuchte, seine Literatenkollegen zur neuen Fortbewegungsart zu bekehren. Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Markus Hajek, Marie Reinhard, Olga Waissnix und nicht zuletzt Theodor Herzl zählten zu den Bekehrten. Letzterer feierte in einem Essay in der Neuen Freien Presse vom 1. November 1896 das Radfahren als einen historischen „großartigen Umwandlungsprocesse“. Nicht zufällig erinnert dabei die Sprache an jene seiner programmatischen Schrift „Der Judenstaat“, die im selben Jahr erschienen war.

Der junge Wiener Uhrmacher Josef Nicolaus war sichtlich von diesem „Umwandlungsprocesse“ und den dahinterstehenden Präzisionstechniken von Fahrrädern fasziniert. Für die Pariser Weltausstellung 1889 konstruierte er als Weltneuheit ein Miniaturfahrrad, zwischen dessen Hinterradspeichen eine kleine Uhr eingebaut war.

Nicolaus wurde 1855 im böhmischen Senftenberg (tschechisch Žamberk) als Sohn eines Uhrmachers geboren. In Wien machte er sich einen Namen als Hersteller von Marinechronometern, Präzisionsuhren, die zur genauen Bestimmung des Längengrades auf hoher See unverzichtbar waren und ein präzises Navigieren erst ermöglichten. Schon während seiner Lehrzeit, die er in der väterlichen Werkstätte absolvierte, fiel seine technische Begabung auf, und 1873 wurde auf der Wiener Weltausstellung eine seiner Lehrlingsarbeiten ausgezeichnet. Seine weitere Ausbildung erhielt er im Betrieb der „Brüder Klumak“, Chronometermacher der k.k. Kriegsmarine in Wien und Triest, und in der österreichisch-ungarischen Monarchie führend auf ihrem Gebiet.

Wie für die Ausbildung als Uhrmacher in dieser Zeit üblich, komplettierte er sein Fachwissen bei den angesehensten Uhrmachern Europas in Genf, Paris, London und schließlich in Amerika, wo er eine Zeitlang in New York arbeitete. 1888/89 kehrte er nach Wien zurück und eröffnete in der Innenstadt am Kohlmarkt 1 eine eigene Uhrmacherwerkstätte und ein Uhrengeschäft. Offensichtlich mit großer Detailverliebtheit gefertigt, stellte er sein Miniaturfahrrad mit Uhr auf der von 6. Mai bis 31. Oktober 1889 in Paris stattfindenden Weltausstellung als Neuheit vor.

Die Kraftübertragung durch eine endlose Kette wurde das erste Mal in einem Text über den astronomischen Uhrenturm des chinesischen Astronomen Su Song (1020-1101 v.Chr.) erwähnt. Im alltäglichen Geschäft konnte der Uhrmacher die normale Rollenkette in Miniaturausführung in allen älteren Taschenuhren und besseren, zugfederbetriebenen Kommodenstanduhren antreffen. Die Kette wurde in Kombination mit der sogenannten „Schnecke“ dazu eingesetzt, die unterschiedlich starken Zugkräfte der Antriebsfeder auszugleichen. Bei Vollaufzug lagert die Kette auf dem kleinsten Durchmesser der Schnecke, die Zugfeder steht unter maximaler Spannung. Das allmähliche Ablaufen der Feder wickelt die Kette langsam von den Schneckenumgängen ab, der Zug der Antriebsfeder wird schwächer, der größer werdende Schneckendurchmesser gleicht dies jedoch aus-die Kraft bleibt konstant. Diesen Trick machte sich die Fahrradindustrie ein wenig später in ähnlicher Weise zunutze, nämlich mit der Gangschaltung.

Nicolaus Fahrrad war außerdem mit einer Klingel ausgestattet, etwas, das man natürlich auch in jeder Uhrmacherwerkstatt zur Hand hatte. Ein weiteres, auffälliges Detail an Nicolaus Fahrraduhr ist eindeutig die große Lampe an der Lenkstange. Nichts stand so für Luxus, Fortschritt und Modernität wie (elektrisches) Licht. Zwar sollte es noch einige Zeit dauern, bis (elektrisches) Licht bei Fahrrädern serienmäßig integriert wurde, jedoch gibt es Berichte aus dem Jahre 1888 über Experimente mit elektrischem Licht auf dem beliebten Zweirad. Sonst fanden sich auch Öl- oder Gaslampen an den frühen Ausführungen. Licht in jeder verfügbaren Form war von größter Wichtigkeit bei den Uhrmachern, und wurde vielleicht deswegen hier so betont. Neben dieser Fahrraduhr, die wohl mehr als Ausstellungsstück geschaffen wurde, sind heute nur Präzisionsuhren aus seiner Werkstatt bekannt. Den Richtlinien der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine entsprechend jede Menge große, silberne Präzisionstaschenuhren, in geringeren Stückzahlen Präzisionspendeluhren für wissenschaftliche Zeitmessung in Observatorien und ganz selten kardanisch aufgehängte Schiffschronometer.

1897 übersiedelte Nicolaus mit dem Geschäft in die Habsburgergasse 8 und ein Jahr später auf die Nummer 1, wo er dann auch verblieb. Ab 1905 scheint er im Lehmann dem Wiener Adressverzeichnis nur noch mit seiner Wohnungsadresse in der Preßgasse 29, aber nicht mehr mit seiner Geschäftsadresse auf. In dieser Zeit zog er sich aus dem Geschäftsleben zurück und widmete sich nur noch seiner Uhrensammlung, die er jetzt instand setzte und „musterhaft in Ordnung“ hielt. Seine Sammlung bestand aus 450 technisch hochwertigsten Taschenuhren, darunter mechanischen Raritäten, und war allgemein als eine der herausragendsten in Österreich anerkannt.

Neben der geschäftlichen Seite und den Präzisionsuhren war sein Steckenpferd als Uhrmacher eindeutig die Verzierung und Veredelung von Taschenuhren, und das oft auf sehr fantasievolle und kreative Weise. Während die Ziffernblätter der von ihm gesammelten und signierten Uhren oft recht übersichtlich und auf Präzision bedacht ausgeführt wurden, eröffnet sich eine ganz andere Welt bei einem Blick in und auf das Uhrwerk.

Das Uhrmacherhandwerk entwickelte sich im 19. Jahrhundert immer stärker von einem Herstellungs- zu einem Reparaturhandwerk. Grund dafür waren die günstig verfügbaren Rohwerke aus industrieller Produktion. Es blieb den begeisterten Handwerkern nach dem Bauen eines Gesellenstücks und vielleicht auch Meisterstücks nur noch das „Finissieren“ oder Veredeln der einzelnen Bauteile. Dazu gehörten zum Beispiel das „Bläuen“ von polierten Stahlteilen (eine Hitzebehandlung bei 300°C) und das kunstvolle „Skelettieren“ (formschönes Aussägen und -feilen von nicht unbedingt benötigtem Material). Zusammen mit der Manipulation der Oberflächen durch Gravuren und Schliffe konnte das Aussehen industriell gefertigter Rohwerke enorm aufgewertet werden. Adaptierte man dann noch das Gehäuse, wie Nicolaus es oft tat, und integrierte einen Glasboden, war die ganze Pracht auch für den stolzen Besitzer sichtbar. Nicolaus schien dies meisterhaft zu beherrschen und womöglich auch unter der Pflege seiner Sammlung zu verstehen, wie aus seinem Nachruf hervorgeht: „Er machte viele kleinere Reisen, kaufte Taschenuhren und Werke zusammen, welche er dann in künstlerischer Weise reparierte und restaurierte.“ Es ist schwer zu sagen, welche Adaptionen er an den Uhren vorgenommen hat oder welche schon vorher so stark verziert waren. Auffallend ist jedenfalls, dass seine Sammlung aus einer Fülle an aufwändig verzierten Uhrwerken besteht, einige davon haben auch eine Art technische Ausstattung und Dekoration, die fast nur für den chinesischen Markt angefertigt wurde.

Nicolaus, der von einer bescheidenen Rente lebte, kam während des Ersten Weltkrieges in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten und im extrem kalten Winter von 1917/18 konnte er keine Kohle mehr zur Beheizung seiner Wohnung auftreiben. Aus der Not heraus nahm der kränkliche und sich im Spital befindliche Uhrmacher ein schon länger bestehendes Angebot von Rudolf Kaftan, dem Gründer und Direktor des Wiener Uhrenmuseums, an. Um 75.000 Kronen und dreißig Meterzehntner Kohle verkaufte er seine Sammlung an den Verein der Freunde des Uhrenmuseums, der wiederum die Uhren dem Museum schenkte. Dem Abschluss dieses Geschäftes musste Bürgermeister Richard Weißkirchner persönlich zustimmen, und er unterschrieb auch die Anweisung an das Wirtschaftsamt der Stadt zur Auslieferung der Kohle an Nicolaus. Im Juli 1918 genehmigte dann der Gemeinderat, dass „auf den von Josef Nicolaus stammenden Stücken der Vermerk `Aus der Uhrensammlung des Nicolaus´ angebracht werde.“ Das „Fremden-Blatt“ urteilte, dass die Sammlung „technisch um vieles wertvoller sei“ als die kurz zuvor erworbene Sammlung der Dichterin Marie Ebner-Eschenbach. Jedenfalls sei sie der ganze Stolz des Direktors Rudolf Kaftan. Allerdings war dieser durchaus großzügig erscheinende Ankaufspreis nur eine kurzfristige Hilfe für den alten kranken Mann. 75.000 Kronen entsprachen 1918 rund 38.350 Euro.

Durch die rasante Geldentwertung der Nachkriegszeit waren diese 75.000 Kronen aber bereits 1919 nur mehr 15.387 Euro wert und die Kaufkraft dieses Betrages verringerte sich bis 1923 auf nur mehr 36,75 Euro. Daher war das finanzielle Überleben von Nicolaus trotz des Verkaufes seiner Sammlung weiter nicht gesichert, und er war weiterhin auf Unterstützung angewiesen. Auf Drängen des Vereines der Freunde des Uhrenmuseums gewährte die Gemeinde daher noch 1922 und 1923 in nicht öffentlichen Sitzungen „Ehrengaben“ für „seine hervorragenden Leistungen“ auf dem Gebiete der Uhrmacherkunst. Im März 1923 verstarb Nicolaus. In einem Nachruf in der „Kleinen Volks Zeitung“ wurde er als einer der „bekanntesten Künstler“ und „bedeutendsten Kenner der internationalen und als solcher eine Zierde der Wiener Uhrmacherkunst“ bezeichnet.

Die fast 450 Objekte starke Sammlung wurde durch die Wirren des zweiten Weltkrieges auf knapp 210 Objekte dezimiert, was verglichen zu den Gesamtverlusten des Uhrenmuseums ein relativ geringer Verlust ist. Viele der Objekte befinden sich im 2. Stock des Uhrenmuseums und können auch von allen Seiten in unserer Online-Sammlung bewundert werden.
 

Verwendete Literatur:

Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Nr. 55, 9. Juli 1918, S. 1361.

Anne-Katrin Ebert; „King of the Road”. Das Hochrad der 1880er Jahre zwischen Exklusivität und Risiko, in: Bernhard Hachleitner, Matthias Marschik, Rudolf Müllner, Michael Zappe (Hg.); Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radsfahren in Wien, Wien 2013, S. 26.

Wolfgang Freitag; Taschenuhr mit Schlangenmotiv um 1885, Josef Nicolaus Wien, in: Wolfgang Kos (Hg.); Highlights aus dem Wiener Uhrenmuseum, Wien o.J., S. 86-87.

Claudia Hafner; Der Stellenwert des Fahrrades in der Gesellschaft im Wandel der Zeit. Univ. Dipl. Arb. Graz 1992, S. 47.

Joseph Needham's Science and Civilization in China: Volume 4, Physics and Physical Technology, Part 2, Mechanical Engineering (1986, Taipei: Caves Books Ltd.)

Walter Ulreich; Über`s Radeln Schreiben. Radfahren in der Literatur um / nach 1900, in: Bernhard Hachleitner, Matthias Marschik, Rudolf Müllner, Michael Zappe (Hg.); Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radsfahren in Wien, Wien 2013, S. 75.

Über ANNO – AustriaN Newspapers Online (Österreichische Nationalbibliothek):
Fremden-Blatt, 30. Mai 1918, S. 2
Kleine Volks-Zeitung, 3. März 1923, S. 5
Neues 8 Uhr Blatt, 27. März 1923, S. 6
Wiener Zeitung, 14. Jänner 1922, S. 11
Wiener Zeitung, 6. Februar 1923, S. 4

Über das Online Portal der Wienbibliothek:
Adolph Lehmann`s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, 1896, 1897, 1904, 1905

Die Währungsumrechnung erfolgte mit dem Historischen Währungsrechner der Österreichischen Nationalbank.

Gerhard Milchram, Studium der Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien. Studien- und Forschungsaufenthalte in Israel, Absolvent der internationalen Sommerakademie für Museologie der Universitäten Klagenfurt, Wien, Graz und Innsbruck, ab 1993 Kulturvermittler und wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 1997–2010 Kurator im Jüdischen Museum Wien. Seit 2011 Kurator im Wien Museum.

Tabea Rude lernte das Uhrmacherhandwerk in Pforzheim und studierte dann Restaurierung für Uhren und dynamische Objekte an der University of Sussex. Seit 2017 ist sie für die Uhrensammlung zuständig. Sie ist besonders interessiert an elektrischen Uhren und Zeitdienstanlagen zwischen 1850 und 1950, publiziert hat sie zu dem Thema im britischen peer-reviewed Antiquarian Horological Journal. Sie begeistert sich außerdem für historische Kunststoffisolierung, taktische Intervallzeitmessung in Konvoys auf See im 1. und 2. Weltkrieg und Feueralarmtelegraphie.

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