Hauptinhalt
Gerhard Roths Bibliothek
Wo Bücher jetzt ihr Eigenleben führen
Für rudimentäre Ordnung und Stabilität sorgen hölzerne Regale, die den Boden mit der Decke fast lückenlos verbinden und wie Stützpfeiler in einem Meer aus Büchern, Zeitschriften, mit Lesestoff prall gefüllten Papier- und Plastiksäcken, DVDs, persönlichen Erinnerungsgegenständen, Spielzeug, Fotoalben, Postkarten und Nippes wirken. Die konkrete Suche eines Buches wäre für Außenstehende zum Scheitern verurteilt gewesen, Gerhard Roth fand sich im offensichtlichen (oder doch vorgeblichen?) Chaos gut zurecht, wusste auf Anhieb die Standorte seiner über die Jahre gesammelten Objekte, egal ob David-Lynch-Biografie oder die unterschiedlichen Ausgaben von Dantes Inferno, die SturmEcho-Magazine oder die Werke über orientalische Kunst, der neueste James-Ensor-Prachtband oder der Clemens-Setz-Winkel.
In diesem Bibliotheksraum scheinen die Bücher ein Eigenleben zu führen. Sie feiern ihr Dasein, pflanzen sich ungehemmt fort, wachsen aus dem Boden, aus Nischen, bilden Türme und andere Barrieren, die ein Durchkommen, wenn schon nicht verunmöglichen, zumindest erschweren. Sie haben von bunten Taschen, in denen üblicherweise Lebensmittel transportiert werden, Besitz genommen, sind in schwindelerregender Höhe in waagrechter Position eingeklemmt oder bilden in Kombination mit asiatischen Ritterfigürchen, Muscheln, Tierstatuetten oder venezianischen Paperweights reizvolle Stillleben. Andere Bücher sind noch eingeschweißt in Plastik oder befinden sich im Zustellkuvert, das nur kurz geöffnet wurde, um nachzusehen, ob sich das Gewünschte darin befinde. In einem quasi organischen Wachstum scheint hier Gedrucktes mit dem Umraum zu verschmelzen, ein labyrinthischer Wissensspeicher, der erkundet, erfahren, erschaut (und auch erklettert) werden will.
Erste fotografische Erkundungstour durch diese wild wuchernden Buchlandschaften kurz nach Gerhard Roths Tod: Der Blick durch die Kamera schafft hier keine Distanz, eher das Gegenteil, Nähe, ja Intimität. Viele Erinnerungen kommen auf, an Erzählungen, Monologe, Anekdoten, launige Berichte. Die Objekte werden mit Leben erfüllt, die Fokussierung auf Details kreiert zusätzlich neue Narrationen. Und führt zu Erkenntnissen: Es gibt Bücher, die haben viele. Es gibt Bücher, bei denen wundert es, dass sie da sind. Es gibt Bücher, die gibt es mehrmals. Und es gibt Bücher, bei denen wundert es, dass sie mehrmals da sind. Bei Moby Dick wundert es nicht, auch nicht bei Pinocchio.
Aber beim I Ging wundert es. Das liegt und steht und steckt in der Bibliothek — mehrmals. Das liegt auch im Schlafzimmer, das steht im Wohnzimmer: Orakelbefragen durch Münzwurf. Orakelsprüche aus dem alten China deuten – wäre schön gewesen, dies gemeinsam mit Gerhard Roth zu machen. Wie so vieles andere mehr. Schade. Sehr schade.
Kommentar schreiben
Kommentare
Keine Kommentare