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Peter Stephan Jungk, 19.6.2022

Zu Gerhard Roth

Der Jenseitsreisende

Das Kraftfeld Gerhard Roth, das uns allen, die ihm nahe waren, Lebenselixier bedeutete, hat sich in Nichts aufgelöst. In Nichts! In Asche, die eine Urne füllt. Als hätte diesen Bären von einem Mann mit den blauen Augen ein Nebel verschluckt, ähnlich jenem unbegreiflichen Naturereignis, das in des Dichters zuletzt erschienenem Werk, ‚Die Imker‘, große Teile der Menschheit verschwinden lässt.

Wie schwer es ist, die Realität des Nichtmehraufderweltseins eines engen Freundes zu begreifen – ich erlebe sie selten so deutlich, diese Realität, wie seit dem Todestag des Unikums Gerhard. Als wir das letzte Mal sprachen, wenige Wochen vor seinem Abschied (Telefonate mit ihm konnten halbe Ewigkeiten dauern, er kam dabei nicht vom 100sten ins 1000ste, sondern vom 1000sten ins 10000ste), rief er mir noch zu: „Ich muss unbedingt meine Jenseitsreise abschließen!“ Ich erschrak, verstand nicht. Es existiere, erklärte er mir, bereits das weit fortgeschrittene Manuskript zu einem Roman, den er gleich nach der Fertigstellung der ‚Imker‘ begonnen habe und dem er den Titel ‚Die Jenseitsreise‘ geben wolle. Gerhard ist auf diese Reise gegangen, er kann sein Buch dort drüben womöglich fortführen und abschließen, zumindest tröste ich mich mit dieser närrischen Wunschvorstellung. Oft hatte er zu mir gesagt: „Du: vor’m Tod hab i ka Angst!“ Ich habe sie noch, diese Angst, ohne Zweifel, doch an Gerhard zu denken, in Zukunft, vermag sie vielleicht ein klein wenig zu lindern.  

Er besaß eine Fähigkeit, die ihm selbst vielleicht gar nicht ganz bewusst war: Er lockte, wo er ging und stand, jene Stoffe an, aus denen seine Werke bestanden. Sein Magnetismus zog in großem Umfeld zu ihm heran, was sein Erzählen, sein Schreiben und Beschreiben ausmachte. Er hatte etwas von einem Besessenen an sich, nicht unähnlich den Männern, die er zu den Protagonisten seiner Romane machte, auch und insbesondere in den Romanzyklen ‚Orkus‘ und ‚Die Archive des Schweigens‘. Dieses Phänomen, Stoffe anzuziehen, wie ein Magnet feinste Eisenspäne, beobachtete ich immer wieder. Erinnere mich an einen seiner Parisbesuche, wir gingen in mein damaliges Stammlokal, von ehemaligen Dorfbewohnern aus der Lombardei bewirtschaftet. Es gefiel Gerhard dort auf ersten Blick. Plötzlich knallte die neunzig Kilo schwere Wirtin eine riesige, halb verrostete Metallschüssel auf unseren Tisch, in der der blutüberströmte, zottige Schädel eines am Vortag von ihrem Sohn erschossenen Wildschweins lag. In all den Jahren meiner Besuche im Lokal ‚Chez Serge‘ war etwas Ähnliches nie vorgekommen. Die Wirtin muss gespürt haben, dass Gerhards Magnetfeld an ihr zerrte.    

Ich habe Gerhards Nähe immer gesucht, seit unserer ersten Begegnung, 1978, während der Frankfurter Buchmesse, als mein Erstlingswerk ‚Stechpalmenwald‘ und Gerhards Erzählung ‚Circus Saluti‘ in der Collection S. Fischer erschienen. Welch ein Genuss, seinen mitunter heiter-tobsüchtigen Sprach-Eruptionen zuzuhören, die im persönlichen Gespräch nicht weniger ausuferten, als in seinen oft 600, 700, 800 Seiten langen Werken. Ich habe von seinen Sprachkavalkaden – und von seinem Humor – immer profitiert, so groß meine Lust auch manchmal gewesen sein mag, sie zu stören, oder gar abzukürzen. Denn sobald einer seiner Monologe begann, hörte, sah, roch er kaum noch etwas, so verflochten und verfangen in sich selbst wirkte er dann. Ich erfuhr von seinem Blick auf die Welt, der von einem Ultra-Realismus, dem Seiltanz über Katastrophen und Höllenabgründe, zugleich aber einer poetischen Traumnähe geprägt war. Ein Blick, den er seit seiner Kleinkindzeit konstant geschult und geschärft hat. Wie eine Fotolinse hat er seine Augen - im übertragenen Sinne - gleichsam zu Lupen, Fernrohren und Mikroskopen umfunktioniert. Er sah mit ebensolcher Faszination in das Innerste eines Bienen-Auges, wie auf die Besonderheiten Japans, Ägyptens, Venedigs, die Ringe des Saturns oder die Milchstraße. Zehntausende Fotografien sind entstanden, im Lauf der letzten sechs Jahrzehnte, die meisten von ihnen harren noch ihrer Sichtung und Katalogisierung. Er bezeichnete sich als Augenmensch. Vielleicht ist es kein Zufall: der Dreijährige hatte eine Fotolinse verschluckt, wäre beinahe daran erstickt; sein Vater, der Arzt, an dessen Hosenbein er zupfte, erkannte sofort die Gefahr, rettete ihm das Leben.

Ich habe beobachtet, wie Gerhard Roth im Vorfeld einer Arbeit voranschritt, die Arme im Rücken verschränkt, der Körper leicht vornübergebeugt. Zur Zeit seiner Aufzeichnung der Lebensgeschichte des jüdischen Wiener Remigranten Walter Singer, die 1991 unter dem Titel ‚Die Geschichte der Dunkelheit‘ erscheinen sollte, bat er mich, ihm bei seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum zur Seite zu stehen, bekannte mir gegenüber, die jüdische Religion und Lebensweise noch nicht genügend ergründet, erfasst zu haben. Wenn Gerhard etwas besser „erfassen“ wollte, bedeutete das monatelange, konzentrierte Recherche. Sancho-Pansa-ähnlich begleitete ich ihn zuweilen durch den 2. Wiener Gemeindebezirk, von koscheren Fleischhauern zu kleinsten Betstuben, von orthodoxen Kindergärten zu chassidischen Rabbinern, und bis in die Wohnzimmer streng religiöser Familien hinein. Überall waren Schreibstift und Fotoapparat in fast ununterbrochenem Gebrauch. Seine Wissbegierde machte nicht einmal vor dem Gesetzesbuch Schulchan Aruch aus dem 16. Jahrhundert Halt, einem Kompendium aller religiöser Vorschriften des Judentums. Das liegt ihm natürlich, ein Werk, in dem jeder einzelne Handgriff, vom Moment des morgendlichen Aufstehens bis zum abendlichen Schlafengehen beschrieben, erfasst, eingeordnet, archiviert, analysiert, als Gesetz festgelegt, in dem jeder Feiertag und jede rituelle Handlung, jeder Schritt von der Geburt über die Geschlechtsreife bis zu Tod und Begräbnis minutiös dargelegt werden. Aus dem vorsichtig Suchenden wurde innerhalb weniger Monate ein glaubwürdig Wissender.

Wie sehr mir seine Präsenz fehlen wird – und sein enzyklopädisches Wissen: Auf nahezu jede Frage und gleichsam zu jeder Problemstellung fand er zu einer Antwort, einer Lösung, nein, kannte er Antworten, nein, ließ er sich zu Antwortlawinen hinreißen.

Mit Gerhard die spaltungsirren Künstler von Gugging zu besuchen, die er durchaus als seine „Lehrmeister“ empfunden hat, mit ihm gemeinsam im Zimmer August Wallas gestanden zu haben, oder mit dem Dichter Ernst Herbeck auf dem Gang vor seinem Schlafsaal die unauslotbare Schwere des Daseins erörtert zu haben, das sind Erlebnisse, die mir für immer im Gedächtnis bleiben werden. Kein Wunder, dass eine der geglücktesten Figuren im Kosmos der Roth’schen Romanfiguren der stumme Bienenzüchtersohn Franz Lindner aus Landläufiger Tod  ist, der dem Wahnsinn verfällt, einem herrlich phantasiedurchtränkten, poetischen Wahn, der den Leser tief in Bereiche zerrt, aus denen es kein Entkommen gibt. Ein Zauberbuch der Tausend Facetten. Im Umgang mit der Sprache geht Gerhard ähnlich einem Imker vor: dieses Bändigen millionenfacher Möglichkeiten! Und die Bienen-Königin ist sein Gehirn, seine Klugheit, die alles steuert, die Kraft, die alles zusammenhält. Wie schön, dass Franz Lindner nunmehr im neuen Roman, ‚Die Imker‘, als Hauptfigur wiederkehrt: „Seit mich der Rechtsanwalt Alois Jenner, mit dem ich aufgewachsen bin, ermorden wollte, habe ich vom ‚Haus der Künstler‘ eine neue Identität erhalten“, heißt es gleich zu Beginn. „Man ließ mich, Franz Lindner, 62 Jahre alt, auf dem Papier sterben und zauberte an dessen Stelle einen Wilhelm Herman aus der Luft, der ich jetzt bin.“

Anlässlich des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur, den Gerhard Roth Ende Juni 2016 erhalten hat, schloss ich meine Laudatio mit den Worten: „Seine Haut scheint dünn zu sein. Der Körper hat nicht zuletzt infolge der Arbeit an den zwei Roman-Zyklen gelitten; seine Gesundheit ist konstant fragil. Als junger Mann hat er einen Herzstillstand erlebt und seither immer neue Krankheiten zu bekämpfen gehabt, zuletzt auch noch eine doppelte Lungenembolie. Unfälle passieren ihm, viel zu oft; nicht ganz ohne Stolz lässt er mich wissen: ‚Ich hab schon 17 Mal einen Gips g’habt!‘ Da verwundert es nicht, dass er liegend schreibt – hat nicht auch Tolstoi in späteren Lebensjahren liegend geschrieben? Ein Glück, dass ihm Senta, sein wunderbarer Lebensmensch, jeden Wunsch von den Lippen abliest… und auch noch erfüllt! Gerhard: Ich bin ungemein gespannt, welche Werke nun folgen werden, in der Zukunft, die heute schon begonnen hat.“

In den sechs Jahren seit jener Preisverleihung entstanden noch vier weitere, umfangreiche Romane – und die erwähnte ‚Jenseitsreise‘, die im Diesseits Fragment bleiben musste. Gerhard! Gib mir, gib uns ein Zeichen! „Jeder, der im Jenseits wohnt, wird von seinem Tod verschont“, heißt es in ‚Die Imker‘. Gerhard hat gewusst, gespürt, darüber täglich und nächtlich nachgedacht, in der letzten Zeit, dass sich sein Leben dem Ende näherte. Wer ihn liest, wird seine Zeichen erkennen, wird sein Magnetfeld zu spüren bekommen, von seinen Kräften zehren, weit über sein irdisches Dasein hinaus.

 

Hinweis: Am 29. Juni findet im Bruno Kreisky Forum ein Abend in memoriam Gerhard Roth statt, an dem neben Peter Stephan Jungk u. a. Wolfgang Petritsch, Cornelius Obonya und Hans Theessink teilnehmen werden. Nähere Informationen und Anmeldung hier.

Am 24. Juni um 18.30 liest der Schauspieler Peter Wolf aus Werken von Roth in dessen Stammlokal Café Heumarkt (Am Heumarkt 15, 1030 Wien, Eintritt frei!). 

Mehr zur Roth im Magazin:

Gerhard Roths Bibliothek (wienmuseum.at)

Gerhard Roth über Bienen (wienmuseum.at)

Zum Tod von Gerhard Roth (wienmuseum.at)

Peter Stephan Jungk ist Autor von Romanen, Biografien und Drehbüchern, Übersetzer von Theaterstücken sowie Regisseur von Dokumentarfilmen. Zuletzt erschien bei S. Fischer sein Buch Marktgeflüster – Eine verborgene Heimat in Paris“www.peterstephanjungk.com ​​​​​​​

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