Website Suche (Nach dem Absenden werden Sie zur Suchergebnisseite weitergeleitet.)

Hauptinhalt

Peter Stuiber und Martin Vukovits, 9.2.2022

Zum Tod von Gerhard Roth

Geschichten der Dunkelheit

Am vergangenen Dienstag verstarb Gerhard Roth im Alter von 79 Jahren. Damit verlieren wir nicht nur einen der wichtigsten österreichischen Schriftsteller, sondern einen Wien-Kenner, der wie kein anderer seiner Generation die dunklen Schichten der Stadt bloßgelegt hat. Eine Hommage, mit Porträts aus dem Archiv des Fotografen Martin Vukovits.

Vor 50 Jahren erschien Gerhard Roths erstes Buch, der experimentelle Roman „die autobiographie des albert einstein“. Damit nahm ein literarisches Werk seinen Anfang, das in seinem Umfang, seiner Vielgestaltigkeit und Konsequenz in die erste Reihe der österreichischen Literatur zu stellen ist. Roth hinterlässt ein Opus magnum, dessen größter Teil in den beiden Zyklen „Die Archive des Schweigens“ (7 Bände) und „Orkus“ (8 Bände) zusammengefasst ist. Es umfasst experimentelle Prosa wie Kriminalromane, Essayistisches wie Autobiografisches. Müsste man ein Werk herausgreifen, dann wäre es vielleicht sein monumentaler Roman „Landläufiger Tod“ aus dem Jahr 1984, an dem man sich lesend jahrelang abarbeiten könnte. Die existenzielle Radikalität und der Kraftakt, mit der dieser Monolith entstand ist, sind kaum vorstellbar. Wer an dem Buch scheitert, der könnte mit „Das Alphabet der Zeit“ beginnen, einem berauschenden autobiografischen Bericht über Roths Kindheit und Jugend in der Steiermark.

Roth wurde 1942 in Graz geboren, ging dort zur Schule und studierte zunächst Medizin, arbeitete dann jahrelang im Rechenzentrum Graz, ehe er sich als freier Schriftsteller etablierte. Seit 1976 lebte er in der Südsteiermark, ab 1986 auch in Wien. Und so wie er das Land, die dort ansässigen Menschen und ihre Geschichte inhaliert und literarisch verwandelt hat, so besessen stürzte er sich in die Geschichte der Stadt, deren dunkle Seiten ihn ebenso faszinierten wie die gelben Hausfassaden, die häufiger wurden, je näher er auf seinen Spaziergängen dem kaiserlichen Schloss Schönbrunn kam. Mit seinem Essayband „Eine Reise in das Innere von Wien“ (1991) setzte er einen Schlussstrich unter das längst faulige Genre der Wien-Feuilletons, die der Stadt ein picksüßes Denkmal gesetzt hatten. Roth erkundete den „Narrenturm“ im Alten AKH, erinnerte an das Hetztheater im 3. Bezirk, besuchte die Künstler der Nervenheilanstalt in Gugging und das Heeresgeschichtliche Museum mit der blutigen Uniform des Thronfolgers Franz Ferdinand, stieg in Katakomben, suchte nach Spuren jüdischen Lebens im zweiten Bezirk und erinnerte an Hitlers Aufenthalt im Männerwohnheim Meldemannstraße.

Roth war zeitlebens ein Archivar des Vergessenen, Verdrängten, Verleugneten. Dass er ausgerechnet ab dem „Waldheim-Jahr“ 1986 in Wien eine Wohnung hatte, mag biografisch ein Zufall gewesen sein: Im Nachhinein erscheint es logisch, dass er im Zentrum des Geschehens sein musste, als es darum ging, die braune Vergangenheit Wiens und Österreichs endlich aufzuarbeiten. Damit machte er sich zur Zielscheibe rechter Politiker und wurde wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek als „Staatskünstler“ diffamiert, beschimpft und bedroht. Doch bequem hat es sich der Schriftsteller ohnehin nie eingerichtet. Nicht nur in Essays, auch im erzählerischen Werk griff er die NS-Vergangenheit auf, so in dem Roman „Die Geschichte der Dunkelheit“ über das Schicksal eines Wiener Juden, der 1938 aus Wien flieht und erst 1962 in seine Heimatstadt zurückkehrt.

Nach „Eine Reise in das Innere von Wien“ versammelte der 2009 erschienene Band „Die Stadt“ weitere Wien-Essays des Schriftstellers. Neben dem Josephinum, dem Naturhistorischen Museum oder dem Blindeninstitut steht hier auch das Uhrenmuseum im Fokus. Roth hat sich vielen Institutionen und Orten in der Stadt auf unnachahmliche Weise genähert: Die Geschichten, die ihm dort erzählt wurden, nahm er auf wie ein „Schwamm“, verband sie mit eigenen Assoziationen, setzte sie literarisch zusammen zu einem anziehenden, aber auch beklemmenden Kaleidoskop.

Doch ein bloßer „Wien-Schriftsteller“ oder steirischer „Anti-Heimat“-Literat war Roth gewiss nicht. Dafür war sein Horizont zu groß, seine Neugierde zu ausufernd, sein riesiges Werk zu heterogen. Auf Reisen (ob zum Berg Athos, nach Ägypten oder immer wieder nach Venedig) holte er sich die Inspiration für neue Romane, deren Handlung manchmal wie ein Vehikel erschien, um den nie versiegenden Gedankenfluss seines Autors zu tragen. Ob Geschichte, Bildende Kunst, Medizin, Naturwissenschaften, Psychiatrie, Psychoanalyse, Fotografie, Träume, Schrift, Imkerei, Mathematik oder Musik: Es gab kaum etwas, für das sich Gerhard Roth nicht interessierte.

War er unterwegs, hatte er oft die Kamera mit und fertigte tausende „Fotonotizen“, deren Details sich im literarischen Werk allerorts wiederfinden. Roths Fotos wurden in einigen Bildbänden publiziert: Als nach dem „Atlas der Stille“ (mit Fotos aus der Südsteiermark) ein Band mit Wien-Fotos („Im unsichtbaren Wien“) erschien, bot sich die Gelegenheit für das Wien Museum, Roths Bilder 2010 auch im Rahmen einer Ausstellung zu zeigen.

Überspringe den Bilder Slider
1/5

Totenschädel in der anthropologischen Sammlung des Naturhistorischen Museums, „Fotonotiz“ von Gerhard Roth, © Franz-Nabl-Institut

Vorheriges Elementnächstes Element
2/5

Friedhof der Namenlosen, „Fotonotiz“ von Gerhard Roth, © Franz-Nabl-Institut

Vorheriges Elementnächstes Element
3/5

Im Freud-Museum, „Fotonotiz“ von Gerhard Roth, © Franz-Nabl-Institut

Vorheriges Elementnächstes Element
4/5

Punktschrift-Schreibmaschine aus dem Museum des Blindenwesens, „Fotonotiz“ von Gerhard Roth, © Franz-Nabl-Institut

Vorheriges Elementnächstes Element
5/5

Krähenspuren im Schnee, „Fotonotiz“ von Gerhard Roth, © Franz-Nabl-Institut

Vorheriges Elementnächstes Element
Springe zum Anfang des Bilder Slider

Wer das Glück hatte, Gerhard Roth persönlich kennenzulernen, geriet schnell in den Sog seines Universums. Der Schriftsteller war auch im privaten Umgang nicht nur ein großer Erzähler, sondern ebenso ein begnadeter Zuhörer, unabhängig davon, welche soziale Stellung sein Gegenüber hatte. Erinnerungen und Beobachtungen anderer hat er über Jahre „gespeichert“, weil sie ihm bemerkenswert erschienen oder wichtig waren. Bei Gelegenheit hat er sie auch literarisch verarbeitet. Roth war ein aufmerksamer, sorgsamer, äußerst empathischer Mensch, der oft lieber von seinen Nachbarn oder von seinen Enkelkindern erzählte als von „Prominenten“, die er kannte. Ein Familienmensch war Roth durch und durch, die Bezeichnung „Lebensmensch“ für seine Frau Senta wäre eine Untertreibung.

In seinen letzten Jahren war der Schriftsteller gesundheitlich schwer beeinträchtigt. Das hinderte ihn nicht daran, bis zuletzt zu schreiben. Für kommenden Mai – knapp vor Roths 80. Geburtstag am 24. Juni 2022 – hat der Fischer Verlag einen 800-Seiten-Roman mit dem Titel „Die Imker“ angekündigt: nunmehr ein Schlussakt zu einem Werk, dessen Wirkung weit über den bloßen Umfang hinausgeht.

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

Martin Vukovits ist einer der wichtigsten Porträtfotografen der österreichischen Kulturszene der 1980er bis 2000er Jahre. Eine Auswahl daraus zeigt er auf Instagram.

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Keine Kommentare