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Katrin Pilz, Werner Michael Schwarz, Franz J. Gangelmayer, Peter Stuiber, 20.8.2024

Julius Tandlers Nachlass kehrt nach Wien zurück

Porträt des Politikers – ohne Hut

Julius Tandler war Mediziner, Anatom und ein bedeutender Sozialpolitiker in der Ersten Republik und im Roten Wien. Nun kommt sein Nachlass aus den USA zurück nach Wien – als Schenkung von Tandlers Enkel Bill. Was erzählen uns die Objekte über Leben und Wirken des Sozialdemokraten?

Peter Stuiber

Wie kam es, dass der Nachlass von Julius Tandler jetzt nach Wien zurückkehrt? 

Katrin Pilz

Am Beginn der Geschichte des Nachlasses stehen zwei Emigrationen. Julius Tandler, der nach dem Februar 1934 seine Professur verlor, zwangspensioniert wurde und daraufhin Wien verließ, starb 1936 im Exil in Moskau. 1939 flüchtete seine Frau Olga vor den Nationalsozialisten in die USA, wo bereits seit einigen Jahren ihr Sohn Wilhelm lebte. Nach ihrem Tod 1948 blieb der Nachlass in der Familie und war, wie ihr Enkel Bill (Jg. 1941) beschreibt, mit den Porträts und Büsten des Großvaters sowie anderer Erinnerungen stets gegenwärtig, blieb aber für den bereits in den USA geborenen lange Zeit rätselhaft. Denn über die Wiener Geschichte der Familie wurde kaum gesprochen. Bill nennt als einen Grund dafür die Scham des Vaters über das Emigrant:innenschicksal und die Verwendung der deutschen Sprache. Erst nach dem Tod seines Vaters beginnt sich Bill intensiv mit dem Wiener Großvater auseinanderzusetzen, räumt den Erinnerungen in seinem Haus in Kalifornien einen eigenen Gedenkplatz ein, den er „Cabinet des Curiosités“ nennt. Er aktiviert die Kontakte zu Österreich, die nie ganz abgerissen sind, anfangs zu sozialdemokratischen Politikern, später zu Forscher:innen. 2018 hatten Birgit Nemec und ich erstmals Gelegenheit, im Nachlass in Kalifornien zu recherchieren. Zwei Jahre später wurden wir eingeladen, an der Ausstellung „Das Rote Wien“ im MUSA/Wien Museum mitzuwirken, in der Gegenstände aus dem Nachlass, wie Hanaks Miniatur des Magna-Mater-Brunnens, erstmals öffentlich zu sehen waren. Dabei ergaben sich die ersten Gespräche über die Zukunft des Nachlasses. Für Bill war und ist es wichtig, dass dieser öffentlich zugänglich ist und für die Forschung erschlossen wird. So waren eine Rückkehr nach Wien und die Übergabe an das Wien Museum und die Wienbibliothek im Rathaus naheliegend.

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Peter Stuiber

Wie umfangreich ist der Nachlass und was sind aus Eurer Sicht die besonderen Stücke? Wie lässt sich der Wert für die Öffentlichkeit und die Forschung einschätzen?

Franz J. Gangelmayer

In Summe hat der Nachlass mehrere hundert Einzelstücke. Die Dokumente, Tagebücher, Briefe und Bücher kamen in die Wienbibliothek, wo wir uns jetzt am Beginn der Erschließung befinden. Herausragend ist die umfangreiche Korrespondenz, die Tandler mit dem Bildhauer Anton Hanak führte, den er für den Magna-Mater-Brunnen beauftragte, der ursprünglich in der Kinderübernahmsstelle im 9. Bezirk aufgestellt war und sich heute im Park bei der Pfarrkirche Mauer befindet. In Summe zeigen die Briefe die gute Vernetzung Tandlers im intellektuellen und künstlerischen Wien der Ersten Republik. Für die zeitgeschichtliche Forschung vielversprechend sind die Tagebücher, die Tandler auf Reisen und in der Zeit des Exils führte und die uns seine Sicht auf so wichtige politische Ereignisse wie den Februar 1934 vermitteln. 

Werner Michael Schwarz

Der Nachlass reflektiert wichtige Aspekte der Wiener Geschichte, insbesondere des Roten Wien, aus der Perspektive der persönlichen Zeugnisse eines politischen Insiders und Mitgestalters. Im Wien Museum befinden sich jetzt die Porträts, u.a. der Wiener Fotografin Trude Fleischmann, Büsten und andere Memorabilien. Berührend und emotional sind die naiv gehaltenen Porträts – Ölgemälde – seiner noch jungen Eltern, die viel über Tandlers spektakulären sozialen Aufstieg aus einer vielköpfigen, nicht begüterten jüdischen Einwandererfamilie zu einer Größe der Wiener Medizin und des Roten Wien erzählen. Anatomische Werkzeuge und Zeichnungen oder ein Aquarell, das sein Arbeitszimmer am Anatomischen Institut in der Währingerstraße zeigt, führen zum Arbeitsalltag des Arztes und Universitätsgelehrten, andere Dinge, wie ein Steigeisen, die Film- oder Fotokameras und Fotos von Reisen und Wanderungen erzählen über das private Leben und persönliche Vorlieben einer gut gestellten Familie ab den 1900er Jahren.   

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Katrin Pilz

Mit dem Nachlass lernen wir sowohl die zeitgenössisch öffentlich sichtbare Seite Tandlers, also den berühmten Arzt und Politiker, besser kennen, aber auch die unsichtbare Seite, die wenig bekannten Kräfte hinter seiner Karriere als Arzt und Politiker. Wir können in den vielen Briefen die Bedeutung seiner Frau Olga jetzt besser einschätzen oder die seiner Nichte Lorle Mittler, die ihn offenbar als Assistentin nach Moskau begleitet und sich nach seinem Tod 1936 um die Rückführung des Nachlasses von dort nach Wien gekümmert hatte. Ohne den Einsatz der beiden Frauen, die in der Forschung bislang wenig berücksichtigt wurden, gäbe es diesen nicht. Einen Erkenntnisgewinn sehe ich auch in der Verknüpfung mit aktuellen Forschungen zu anderen in Tandlers Wirkungskreis relevanten und bisher nur marginal erforschten Personen. Ich denke hier etwa an die wertvollen Arbeiten Irene Messingers zur lange vernachlässigten Verfolgungs- und Widerstandsgeschichte der städtischen Fürsorgerinnen. Umso relevanter für das Forschungsfeld sind die letzten Exiljahre Tandlers, seine Tagebuchaufzeichnungen und die umfangreiche Korrespondenz mit in Wien gebliebenen Gegner:innen des austrofaschistischen Regimes, mit Verfolgten und Geflüchteten, die bislang unbekannt waren.

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Peter Stuiber

Kommen wir zu Julius Tandler als Gesundheits- und Sozialpolitiker. Vielen Wiener:innen wird er vermutlich als Namensgeber des Platzes vor dem Franz-Josefs-Bahnhof im 9. Bezirk geläufig sein. Wer war Julius Tandler und worin besteht seine Bedeutung für die Geschichte Wiens?

Werner Michael Schwarz

Tandler, der seit 1910 einen der beiden Lehrstühle für Anatomie an der Universität Wien innehatte, wurde 1919 Unterstaatssekretär im Volksgesundheitsamt unter Ferdinand Hanusch. Nach dem Ende der Regierung Renner, die als große Koalition von Sozialdemokraten und Christlichsozialen viele der bis heute bestehenden Grundlagen des Sozialstaates auf den Weg gebracht hatte (8-Stunden Tag, Urlaubsanspruch für Arbeiter, Einführung der Arbeiterkammern etc.), wechselte Tandler 1920 in die Wiener Stadtregierung, wo er für Wohlfahrtseinrichtungen, Jugendfürsorge und Gesundheitswesen zuständig war. Tandler übernahm diese Aufgaben in einer dafür denkbar schwierigen Zeit. Wien war nach dem ersten Weltkrieg die Krisenstadt des Kontinents. Es fehlte an Lebensmitteln, Heizmaterial, brauchbarem Wohnraum. Nur durch die sehr großzügige internationale Hilfe konnte die Versorgung überhaupt und nur auf niedrigem Niveau aufrechterhalten werden. Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit war stark angestiegen, viele Kinder waren chronisch unterernährt, um die Welt gingen entsetzliche Bilder von schwerst rachitischen Kindern aus Wien. Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Syphilis hatten dramatisch zugenommen. Die ersten Jahre des Roten Wien waren so von einer tiefen sozialen Krise bestimmt, zugleich von einem gesellschaftlichen und politischen Aufbruch. Es wurde viel improvisiert, experimentiert, Freiräume für Selbstorganisation öffneten sich, wie wir das von der Wiener Siedlerbewegung kennen. Mit dem neuen Status Wiens als Bundesland ab 1922 trat das Rote Wien in eine neue Phase ein, hatte nun die Möglichkeit, über eigene Steuern wie die Wohnbausteuer und diverse „Luxussteuern“ – auf Alkohol, Vergnügungen etc. – das ehrgeizige Wohnbauprogramm zu finanzieren und die Fürsorgepolitik auf eine neue Grundlage zu stellen. Tandler betrachtete im Einklang mit der Politik des Roten Wien Wohlfahrt als eine öffentliche Aufgabe – im Gegensatz zur karitativen „Wohltat“. In der Gesundheitspolitik setzte er auf Prävention, auf Aufklärung durch Beratungsstellen und auf die Schaffung von Sport-, Freizeit- und Erholungseinrichtungen in der unmittelbaren Wohnumgebung der Kinder – Kinderfreibäder, Turnsäle in Gemeindebauten, Turnanlagen in den Parks etc. Die sozialen Fragen, Wohnen, Gesundheit, Bildung, Arbeit wurden als miteinander eng vernetzt gedacht. Sie standen, um es mit Wolfgang Maderthaner zu sagen, unter dem Aspekt einer grundlegenden Hygienisierung des Stadtkörpers, von der Geburt bis zum Tod, vom Säuglingswäschepaket bis zum Krematorium. 

Katrin Pilz

Im Fokus stand die Kinder- und Jugendfürsorge, die pragmatisch als Investition in die Zukunft betrachtet wurde, aber auch mit der Idee der Schaffung eines neuen – gesunden – sozialistischen Menschen und einer neuen Welt korrespondierte, die in der Repräsentation des Roten Wien eine so große Rolle spielte. Eine Reihe von vernetzten Einrichtungen bestimmten die neue Wohlfahrtsstruktur, wie die städtischen Mutter-, Ehe-, Familien-, Erziehungs- und Berufsberatungsstellen, die Kinderübernahmsstelle, Jugendämter und Heime, Kindergärten, Krankenhäuser, Schulzahnkliniken, Heilanstalten für Tuberkulose- und Geschlechtskranke, Sport- und Freizeiteinrichtungen, wie das Praterstadion (heute Ernst-Happel-Stadion), die Hallen- und Freibäder (Amalien-, Stadion- oder Kongreßbad) oder die genannten Kinderfreibäder.   

Peter Stuiber

Mit Blick auf die Kinder- und Jugendfürsorge fällt mir das bekannte Tandler-Zitat ein: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“

Katrin Pilz

Schaltstelle der Kinder- und Jugendfürsorge war die Kindernahmsstelle (KÜST) für „kranke, heimatlose, verwaiste oder verwahrloste“ Kinder und Jugendliche bis zum 14. Lebensjahr, die unter dem Motto „Lasset die Kinder zu mir kommen“ als „Kinderparadies“ 1925 eröffnet wurde. Zusammen mit dem benachbarten Karolinen-Kinderspital, das wie viele zuvor private Kinderspitäler in Wien ab 1925 unter städtischer Leitung stand, lag die KÜST im medizinischen Zentrum der Stadt, im neunten Wiener Gemeindebezirk. Waisenkinder oder Kinder aus notleidenden Familien durchliefen drei Wochen in der Kinderübernahmsstelle einen Prozess der physiologischen und psychologischen Beobachtung, bevor sie an Pflegefamilien, Heil-, Fürsorge- und Erziehungsheime vermittelt oder wieder von ihren Familien aufgenommen wurden. Die Initiative für die Einweisung konnte sowohl von der eigenen Familie als auch von den städtischen Fürsorgerinnen und Jugendämtern ausgehen. 

Peter Stuiber

Die Praxis dieser „Verwaltung“ von Kindern und Jugendlichen wird heute allerdings kritisch gesehen.  

Katrin Pilz

Es gab auch bereits zeitgenössisch Kritik. Die christlichsoziale Opposition trat weiterhin für ehrenamtliche und private Individualfürsorge ein, die von kirchlichen Organisationen getragen werden sollte. Sie kritisierte die städtische Politik als maßlos bürokratisch, als „Fürsorgewahn“ und die Verantwortlichen als „Fürsorgetiger“. Vertreter:innen aus dem kommunistischen/linksoppositionellen Lager hingegen bewerteten die sozialen Fürsorgemaßnahmen der roten Stadtverwaltung als nicht radikal genug. Kritik kam jedoch auch aus den eigenen Reihen: Insbesondere Sozialdemokratinnen wie Adelheid Popp (1869–1939) wiesen auf die paternalistische Haltung vonseiten der städtischen Fürsorgeverwaltung hin und kritisierten etwa Julius Tandler für seine ablehnende und passive Haltung in Bezug auf die generelle Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und für die mangelhafte Fürsorgebestrebungen für die Frau, die sich nicht gegen eine (erneute) Mutterschaft entscheiden konnte.

Retrospektiv schildern Zeitzeug:innen, die als Kinder das städtische Fürsorgesystem der Kinderübernahmsstelle, zugeteilten Pflegefamilien und Kinderheimen durchliefen, ein in der KÜST erfahrenes psychisches Trauma. Negativ erwähnt wurde in diesem Zusammenhang auch die Verwendung als Forschungs- und Fürsorgeobjekte, die sich vor allem durch die engmaschige Zusammenarbeit der Kinderpflegerinnen mit Kinderpsycholog:innen des Psychologischen Instituts der Universität Wien und Amtsärzt:innen ergab. Die Kinderübernahmsstelle wurde hier nicht als „Kinderparadies“, sondern vielmehr als „furchtbarer Glaspalast“ beschrieben, der als Observations- und Experimentalraum rückwirkend fragwürdige Vorstellungen von Familie und Erziehung offenbart. Wir müssen allerdings mit unserem Urteil vorsichtig sein. Denn viele der Erinnerungen beziehen sich auf spätere Phasen, insbesondere auf die NS-Zeit und die Zeit danach. In der NS-Zeit war die Kinderübernahmsstelle tatsächlich ein Ort des Schreckens. Sie war hauptverantwortlich für die Zuweisung und anschließende Tötung von Kindern und Jugendlichen in Euthansaieanstalten wie dem Spiegelgrund. Es gibt gute Gründe, die schockierenden Missbräuche, die auch aus der Zeit der Zweiten Republik bekannt sind, eher auf das Fortwirken der NS-Ideologie als auf das Rote Wien zu beziehen. Die Rufe für eine Heimreform seit den 1970er Jahren verdeutlichten zudem, dass die Heimunterbringung in dieser Form auf mehreren Ebenen nicht mehr zeitgemäß war.

Peter Stuiber

Die andere kritische Betrachtung Tandlers bezieht sich auf seine Positionen zur Eugenik.

Katrin Pilz

In der aktuellen (biografischen) Beschäftigung mit Tandlers theoretischem und praktischem Werk wird er nicht nur als Mediziner, Anatom und Politiker, sondern auch als Eugeniker beschrieben. Hinter der Eugenik stand eine im späten 19. Jahrhundert in Biologie, Soziologie, Philosophie, Ökonomie oder Medizin virulent diskutierte Frage nach den Einflüssen des modernen Lebens auf das menschliche Erbgut. Das findet man etwa auch in den Arbeiten des Nationalökonomen und Wissenschaftsvermittlers Otto Neurath oder des Biologen Paul Kammerer wieder, beides Kollegen von Tandler, die ihre neolamarckistische Forschung in der sogenannten „linken Eugenik“ verorteten. Mit der Eugenik waren Befürchtungen vor degenerativen Wirkungen wie Überlegungen zu einer systematischen „Verbesserung“ des Erbgutes verbunden. Nationalistische und rassistische Projektionen spielten von Beginn an eine Rolle. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich der Begriff der „Rassenhygiene“. Die Eugenik in ihren verschiedenen Ausprägungen etablierte ein Denken der unterschiedlichen biologischen Wertigkeit der Menschen, differenzierte zugespitzt zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben oder in ökonomischen Begriffen zwischen „produktivem“ und „unproduktivem“ Leben  Auch Tandler verwendete in seinen Schriften und Vorträgen diese menschenverachtenden Begriffe (in seinen mittlerweile vielzitierten Texten „Ehe und Bevölkerungspolitik“ von 1924 oder „Gefahren der Minderwertigkeit“ von 1929), zeigte sich auch an den gesundheitsökonomischen Argumenten interessiert, ging aber in der Praxis über die Forderung nach „positiven“ Maßnahmen nicht hinaus, setzte also auf Beratung und Aufklärung und nicht auf Zwang („negative“ Eugenik). So wurde in Wien eine Eheberatungsstelle eingerichtet, in der sich Paare vor der Eheschließung und Reproduktion physisch und psychisch auf ihren „Wert“ untersuchen lassen konnten. In der Praxis wurde dieses Angebot allerdings nicht gut angenommen. Tandler hat sich zumindest nie direkt für Zwangsmaßnahmen wie Sterilisation oder Euthanasie ausgesprochen, rief jedoch zur selbstbestimmten Sterilisation auf, wenn diese in einschlägigen Beratungsstellen durch ärztliche oder psychologische Expertise empfohlen wurde. In jedem Fall steht fest, dass sich Tandler angesichts dessen, was insbesondere während des Nationalsozialismus geschehen ist und was in der Eugenik als Denken angelegt war, nicht sehr hellsichtig gezeigt hat. 

Werner Michael Schwarz

Die Idee der Bewertung des menschlichen Lebens, die Erfassung in Zahlen zum Zweck besserer Planbarkeit und ökonomischer Optimierung waren genuin mit dem Denken der Aufklärung und Moderne verbunden. Das Rote Wien stand in dieser Tradition, zugleich spielten aber auch nichtmessbare Größen als politische Ziele eine bedeutende Rolle, wie Glück, ästhetischer Genuss, wie das bei der künstlerischen Ausgestaltung der öffentlichen Bauten im Roten Wien gut zu sehen ist, oder die Freiheit des Individuums. Auch Tandlers Denken und politisches Handeln schwankte zwischen technokratischer Vernunft und Humanismus.

Peter Stuiber

Tandler stammte aus einer jüdischen Familie. Welche Bedeutung hatte das für sein Leben und seine Karriere?

Werner Michael Schwarz

Tandler wurde 1869 geboren. Das waren mit Blick auf seine jüdische Herkunft besondere Jahre. Nur zwei Jahre vor seiner Geburt wurden mit der Verfassung von 1867, in der die heute noch gültigen Grund- und Freiheitsrechte festgeschrieben wurden, alle bis dahin bestehenden rechtlichen Diskriminierungen von Juden und Jüdinnen aufgehoben. In dieser Hochphase des politischen Liberalismus in Österreich wurden weitreichende Versprechen auf universale humanistische Werte wie Menschenrechte, Bildung, Fortschritt oder individuelle wirtschaftliche Entfaltung angekündigt. Wie wir wissen, blieben in der Praxis die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die große Ungleichheit der Menschen und der sozial sehr unterschiedliche Zugang zu diesen Wohltaten weitgehend unberücksichtigt. Insbesondere der Börsenkrach 1873 und die darauffolgende wirtschaftliche Stagnation nach den Jahren enormen Wachstums stürzte dann den Liberalismus in eine tiefe Krise, dem unter sukzessiver Ausweitung des Wahlrechts der Aufstieg der Massenparteien, der Christlichsozialen, Deutschvölkischen und Sozialdemokraten folgte und erstere zur Mobilisierung ihrer Wählerschaft vor allem auf den Antisemitismus setzten. Juden und Jüdinnen aus der Generation Tandlers, zu der auch so wichtige Exponent:innen des kulturellen und intellektuellen Leben Wiens wie Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Theodor Herzl oder Berta Zuckerkandl zählen, gerieten in eine schizophrene Situation. Rechtlich waren sie gleichgestellt, auch öffneten sich neue Berufsfelder und Aufstiegsmöglichkeiten, gleichzeitig wurden sie mit immer größerer Radikalität antisemitisch und rassistisch stereotypisiert. Viele der liberal sozialisierten und assimilierten Juden und Jüdinnen wandten sich wie Tandler in dieser Phase der Sozialdemokratie zu, die insbesondere in ihre Bildungspolitik liberale Ideale integrierte. Tandler sah sich später selbst zwar durch das traditionelle Judentum kulturell geprägt – konvertierte aber nach seiner Habilitation 1899 zum Katholizismus. Karriereaussichten an der Universität und die bevorstehende Heirat mit der Nichtjüdin Olga Klauber dürften die Motive gewesen sein. Wie wir heute wissen, bedeutete dieser Schritt für Juden und Jüdinnen keinen Schutz vor Antisemitismus. Tandler wurde zeitlebens indirekt oder direkt angefeindet, als Professor an der Universität wie als Politiker. Der bekannteste, auch international stark rezipierte Vorfall ereignete sich im Oktober 1932, als nationalsozialistische Studenten sein Institut in der Währingerstraße stürmten, wobei sich das Personal vor dem Mob nur über Leitern aus den Fenstern des Gebäudes retten konnte. Nach seiner Zwangspensionierung 1934 stellte Tandler eine „Chronologie des Terrors“ zusammen, in der er die gegen ihn gerichteten antisemitischen Attacken seit 1920 dokumentierte.

Peter Stuiber

War Tandler im Bürgerkrieg 1934 involviert bzw. wie ging die Diktatur mit dem Spitzenpolitiker des Roten Wien um?

Franz J. Gangelmayer

Tandler war als Stadtrat nach dreizehn Jahren im Herbst 1933 zurückgetreten, in einer Zeit, in der die austrofaschistische Dikatatur bereits wichtige demokratische Freiheiten, Rechte und Institutionen ausgeschaltet hatte und auch das Rote Wien stark unter Druck setzte. Im Februar 1934 befand sich Tandler auf Auslandsreise in China, wo er als Experte für öffentliches Gesundheitswesen lehrte. In einem Tagebucheintrag vom 14. Februar 1934 zeigte er sich tief schockiert von den Ereignissen in Wien, sah sein Lebenswerk zerstört und machte sich kämpferisch selbst Mut. Er schrieb: „Sie schiessen, sie töten, sie morden Frauen und Kinder. Und ich sitze hier fern von alldem und kann nicht mitkämpfen, nicht mitleiden. Es ist unausdenkbar und furchtbar. Es gibt nur eins Nachhause. Hier tötet Sehnsucht, würgt Pflichtgefühl. Es gibt auch eine Pflicht des Mitleidens. Ich kann die Arbeiter nicht alleinlassen, ich gehöre zu ihnen, daher Nachhause – so rasch als möglich. Bekennen ist Pflicht und vielleicht auch Tat.“ Nach seiner Rückkehr im März 1934 wurde er verhaftet und in der Roßauer Kaserne eingesperrt, wo er nach „nur“ drei Wochen wieder freikam. Tandler hatte prominente Fürsprecher im In- und Ausland und war der Regierung weniger verhasst als andere Spitzenpolitiker im Roten Wien, wie der Bildungsreformer und Stadtschulratspräsident Otto Glöckel oder Bürgermeister Karl Seitz. Tandler wurde danach an der Universität Wien zwangspensioniert. Seine Vertreibung begann so bereits 1934. Er erhielt berufliche Angebote aus den USA und China. Schlussendlich entschied er sich für eine Professur in der Sowjetunion, wo er 1936 knapp nach seiner Ankunft in Moskau starb.

Peter Stuiber

Julius Tandler hatte ein Markenzeichen, das ihn auf Fotos unverkennbar macht, einen besonders breitkrempigen Hut. Findet sich ein solcher in seinem Nachlass?

Werner Michael Schwarz

Leider nein! Es war ein sogenannter Kalabreser, der Tandlers Sinn für öffentliche Wirkung unterstreicht, aber, folgen wir Karl Sablik, auch ein romantisch-politisches Statement war. In Verbindung mit dem breiten Schnurrbart zeigte er sich mit dem Kalabreser in der Tradition der Revolutionäre von 1848 und demonstrierte so seine republikanische Gesinnung.

 

Literatur:

Byer, Doris: Rassenhygiene Und Wohlfahrtspflege: Zur Entstehung Eines Sozialdemokratischen Machtdispositivs in Österreich bis 1934. Frankfurt a. Main: Campus-Verlag 1988.

Hubenstorf, Michael: „Sozialmedizin, Menschenökonomie, Volksgesundheit.” In: Franz Kadrnoska (Hg.): Aufbruch Und Untergang: Österreichische Kultur Zwischen 1918 Und 1938. Wien/München/Zürich: Europaverlag 1981.

Lipphardt, Veronika: Biologie Der Juden: Jüdische Wissenschaftler über »Rasse« und Vererbung 1900-1935. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2008.

Logan, Charyl: Hormones, Heredity, and Race: Spectacular Failure in Interwar Vienna. N.J: Rutgers Univ. Press 2013.

Maderthaner, Wolfgang: Was ist das Rote Wien? Debatte, in: Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler, Elke Wikidal: Das Rote Wien 1919 – 1934. Ideen, Debatten, Praxis, Wien 2019, S. 18-23.

Mesner, Maria: Geburten/Kontrolle. Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert. Wien/Köln 2010.

Nemec, Birgit und Taschwer, Klaus: Terror gegen Tandler. Kontext und Chronik der antisemitischen Attacken am I. Anatomischen Institut der Universität Wien, 1910 bis 1933. In: Rathkolb et.al (Hg.): Der Lange Schatten des Antisemitismus. Wien Böhlau, 2013, 147–171.

Nemec, Birgit: Julius Tandler. Politiker – Anatom – Eugeniker. In: Mitchell G. Ash und Joseph Ehmer (Hg.) Universität – Politik - Gesellschaft. 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert Bd. 2. Deutschland: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 115–121.

Pilz, Katrin: Wohlfahrt und Fürsorge. In: Ingo Zechner, Georg Spitaler, Rob McFarland (Hg.): Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne. Oldenbourg: De Gruyter 2020, 369–392.

Pilz, Katrin: Mutter (Rotes) Wien. Fürsorgepolitik als Erziehungs- und Kontrollinstanz im Neuen Wien. In: Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler, Elke Wikidal (Hg.): Das Rote Wien 1919-1934. Ideen – Debatten – Praxis. Basel: Birkhäuser Verlag 2019, 172–179. 

Prager, Katharina und Messinger, Irene (Hg.): Doing gender in exile: Geschlechterverhältnisse, Konstruktionen und Netzwerke in Bewegung. Münster: Westfälisches Dampfboot 2019.

Sablik, Karl: Julius Tandler: Mediziner und Sozialreformer. Eine Biographie. Wien: Schendl 1983 und Peter Lang 2010.

Schwarz, Peter: Julius Tandler: zwischen Humanismus und Eugenik. Wien: Edition Steinbauer 2017.

Katrin Pilz, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, Vorträge, Publikationen und Forschungsprojekte zur visuellen Geschichte der Medizin und Wissenschaft sowie zur Stadtgeschichte, Körperpolitik und Geschichte des Lehrfilms. Mitglied des Kurator:innenteams der Wien Museum Ausstellung „Das Rote Wien (2019–2020)“ und des Publikationsteams von „The Red Vienna Sourcebook“. 2024–2025 gemeinsam mit Birgit Nemec und in Kooperation mit der Wienbibliothek im Rathaus Forschungsprojekt (gefördert von der MA 7) „Die Tagebücher Julius Tandlers: Ein Schlüsseldokument der späten Zwischenkriegszeit“.

Werner Michael Schwarz, Historiker, Kurator am Wien Museum, Schwerpunkt Stadt-, Medien- und Filmgeschichte, u.a. „Das Rote Wien“ (2019) und Pratermuseum (2024).

Franz J. Gangelmayer, Historiker, Bibliothekar und Sammlungsleiter für Druckschriften und Plakate in der Wienbibliothek im Rathaus.

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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