
Grete, Elsa und Berta Wiesenthal tanzen Lanner - Schubert - Walzer, 1908, Foto: Rudolf Jobst, Wien Museum
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Neue Wege zu Grete Wiesenthal
Glückseligkeit in der Schwebe
Grete Wiesenthal gilt als Wiener Revolutionärin des Tanzes. Was begründet diesen Ruf? Welche Wege hat sie beschritten?
Mit unerhörtem Mut und einer erstaunlichen Portion Unerschrockenheit verlässt sie, gemeinsam mit Schwester Elsa, das Ballett der Wiener Hofoper, um sich ihren eigenen Ideen und Vorstellungen von einem natürlichen, organisch entwickelten freien Tanz zu widmen. Anfangs ist das ein ausdruckstarker Personalstil, aus dem nach und nach eine spezifische Tanztechnik entsteht, die u.a. in dionysisch-rauschhaften Walzerinterpretationen kulminiert und wohl auch als getanzter Jugendstil empfunden wurde.
Was zeichnet ihren Tanzstil aus? Worin unterscheidet er sich von zeitgenössischen Strömungen und welche Position hatte er innerhalb einer internationalen Avantgarde?
In ihrer Balance- und Schwebetechnik spielt sie mit unterschiedlichsten Drehungen und Schwüngen, aber auch Sprüngen und Dynamiken sowie mit Schräglagen des weit nach hinten gelegten Oberkörpers. Offene Haare, langes Kleid, griechische Sandalen mit kleinem Absatz sind weitere Wiesenthalsche Merkmale. Die zeitgenössische Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg beschränkte sich, abgesehen von der amerikanischen Barfuß-Tänzerin und Feministin Isadora Duncan, die Wiesenthal inspirierte, ohne sie je gesehen zu haben, auf eine schillernde Mischung unterschiedlichster Varieté-Tänzerinnen. Wiesenthals Auftritte aber wurden aber als zutiefst seriös, wie unvorhersehbare Ereignisse, denen man staunend beiwohnen darf, betrachtet.
Wiesenthal kündigte 1907 ihre Stellung an der Hofoper. War das die Initialzündung? War es klar, dass innerhalb von Institutionen so eine Entwicklung nicht möglich ist?
Den Gedanken hegte sie schon früher, angestachelt wohl auch durch die Maler Erwin Lang, ihren späteren Mann, und Rudolf Huber, der den Weg der Schwestern in die Unabhängigkeit anfangs finanzierte. Aber der interne Zwist mit dem damaligen Ballettmeister, dessen Einstudierungen ihr immer widersinniger erschienen und der von ihrer Titelrollenbesetzung durch Gustav Mahler und Alfred Roller in der Oper Die Stumme von Portici erst nachträglich erfuhr, machten den Entschluss zu kündigen dringlich. Auch heute wäre es schwer möglich, an einem großen repräsentativen Opernhaus einen anderen, experimentellen Stil zu entwickeln, ohne in das Gesamtbild eingebunden zu bleiben.
Welche Rolle kommt Wiesenthal in der Zwischenkriegszeit zu? Auf welchen Ebenen war sie aktiv und wo hatte sie besonders Einfluss?
In der Zwischenkriegszeit war Grete Wiesenthal auf Grund ihrer umfangreichen internationalen Tourneetätigkeit, etwa New York 1912, bereits eine Wiener Institution, die mit Max Reinhardt und Richard Strauss gearbeitet hatte, für die Hugo von Hofmannsthal Pantomimen verfasst hatte, Franz Schreker komponiert hatte – u.a. Der Wind, ein Stück, das wir zeigen werden – und Filmregisseure wie der Schwede Mauritz Stiller die Zusammenarbeit gesucht hatten.
Wiesenthal starb erst 1970, aber ihr Tanzstil hat schon davor viele Kolleg:innen geprägt...
In ihrer Aufbruchszeit vor dem Ersten Weltkrieg, die ja eine Dekade vor dem Höhepunkt des tänzerischen Expressionismus liegt, inspirierte sie spätere Größen wie u.a. Mary Wigman, Clotilde Derp-Sacharoff und Charlotte Bara, in Wien Gertrud Bodenwieser und Hanna Berger. Wir greifen jetzt, tanztechnisch gesehen, auf Zeitzeuginnen aus den 1950er Jahren bzw. die nachfolgende Generation zurück, wollen aber vom Impetus her uns in ihre frühe Zeit zurück versetzen und von dort bis in die Gegenwart eine Klammer schaffen. Wiesenthals Tanzweise ist eine von Frau für Frau angelegte Herausforderung, die sie in privaten Studios, ab 1934 aber an der heute nicht mehr existierenden Tanzabteilung an der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) gelehrt hatte. Nach ihrem Abschied, 1951, wurde ihre Tanzweise einer Systematisierung und Formatierung unterzogen, die offenbar von späteren Generationen immer wieder mit anderen Schwerpunkten interpretiert wurde. Es existieren sozusagen verschiedene Wege zu Wiesenthal, was das Thema ja reizvoll macht. Wobei die Ballettschule der Wiener Staatsoper von 1986 bis 2014 Wiesenthal-Technik als Fach führte und es dem Haus auch zu danken ist, dass unter der Ballettdirektion von Gerhard Brunner Wiesenthal-Tänze in den 1970ern wieder zur Aufführung gelangten.
Welche Medien waren besonders wichtig, den Tanzstil von Wiesenthal zu dokumentieren?
Abgesehen von zahlreichen Fotos vor allem das Speichermedium des menschlichen Gehirns! Erinnerung, Gedächtnis und Rekonstruktion vor allem jener Tänzerinnen, die Mitglieder der Wiesenthal-Gruppe bis 1956 gewesen sind aber auch ehemaliger Lehrassistentinnen wie Erika Schwamberger-Schlemitz.
Sie beschäftigen sich schon sehr lange mit Wiesenthal, in unterschiedlicher Form. Welchen Schwerpunkt hat das neue Projekt?
Im neuen Projekt Glückselig. War gestern, oder?Eine Aneignung, im Theater brut nordwest von 30. März bis 1. April und im Sommer hoffentlich an anderen Orten, geht es mir darum, diese historische Tanzweise von vier jungen, zeitgenössischen Choreografinnen erkunden und austesten zu lassen, um das Vokabular eigenkreativ weiterzuführen. Das sind Lea Karnutsch, Rebekka Pichler, Eva-Maria Schaller und Katharina Senk. Ich habe den Eindruck, dass die junge Generation die Körperlichkeit ihrer VorfahrInnen erfahren will, in dem sie schöpferisch damit umgehen kann. Wir zeigen aber auch ein originales Solo aus dem Jahr 1922: den Strauß-Walzer Wein, Weib und Gesang, den die ehemalige Erste Solotänzerin Susanne Kirnbauer-Bundy einstudiert hat. Und haben natürlich mit dem Thema Glückseligkeit, das man Wiesenthals Bühnentänzen zugeschrieben hat, uns auch gefragt, was wir mit diesem Begriff anfangen können bzw. was solch ein Begriff in unserer disparaten politischen Lage bedeuten mag. Insofern brechen wir gerade konservierte Bilder auf, die eventuell durch einige tradierte Wiesenthal-Tänze in Köpfen hängen geblieben sind. Die ich auch nicht missen will. Aber wir wollen das Museum nicht weiterbauen.
Das Tanzstück Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung hat am 30. März im brut nordwest Premiere, weitere Aufführungen finden am 31. März und 1. April statt. Mit Lea Karnutsch, Rebecca Pichler, Eva-Maria Schaller, Katharina Senk und Inge Gappmaier. Informationen und Karten gibt´s hier.
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