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Peter Eppel, Béla Rásky, Werner Michael Schwarz, 5.3.2020

Ungarnflüchtlinge in Wien 1956

Im Niemandsland an der Donau

Mehr als 180.000 Ungarn flohen 1956 vor den sowjetischen Panzern über die burgenländische Grenze in den Westen, viele davon landeten – zumindest vorübergehend – in Wien. Zunächst war die Hilfsbereitschaft seitens der einheimischen Bevölkerung groß – doch schon bald machte sich Unmut breit.

Für Österreich war 1956 mehr als eine niedergeschlagene Revolution in einem Nachbarland, mehr als eine spontane und zutiefst herzliche Hilfeleistung. Der österreichische Bezug zu 1956 ist wohl, dass dieses ungarische Ereignis sehr viel zu einer Selbstfindung, zur Entstehung einer österreichischen Identität, zur österreichischen Nationswerdung beigetragen hat. Und es gibt wohl kein Haus, keine Familie in Österreich in einer bestimmten Altersgruppe, die nicht eine ganz persönliche Geschichte um einen Ungarnflüchtling kennt. Es ist auch ein zutiefst individualisiertes kollektives Erinnern.

Der überwiegend gute Ausgang für beide Seiten dürfte aber darüber hinweggetäuscht haben, dass diese Geschichte keineswegs so reibungslos verlaufen ist, wie sie erinnert wird: Das tatsächliche Ankommen in Wien dauert in der Regel mehrere Jahre. Noch 1960 leben Flüchtlinge in Wiener Lagern. Arbeit gibt es oft nur weit unter der in Ungarn erworbenen Qualifikation, der Spracherwerb hat seine Tücken. Viele Jugendliche, die allein die Grenze überschritten hatten, sitzen in Österreich fest. Zurück wollen sie nicht, weiterwandern dürfen sie nicht. Eine Studie der ungarischen Psychoanalytikerin Vera Ligeti berichtet von Depressionen, Aggressionen und einer tiefen Abneigung den Österreichern gegenüber, die sie für ihre Situation im „Niemandsland“ zwischen ungeliebter Heimat und unerreichbarem Traumziel verantwortlich machen. „Tokoschok“ nennen sie diese, also jene, die eingekapselt sind und vom wirklichen Leben nichts verstehen. Es ist eine frühe Studie, und die Ungarn sprechen noch frei vom Eindruck ihrer späteren positiven Erfahrungen, sie geben noch ungeschminkt und unbeeinflusst von der späteren Erinnerung ihre Ersterlebnisse mit Österreich wieder.

Das Lager: ein Stress- und Angstort

In den Lagern herrscht alles andere als eine gepflegte, entspannte Atmosphäre. Dabei handelt es sich um notdürftig adaptierte Kasernen, wie Traiskirchen oder Kaiser-Ebersdorf, um Schulen, wie häufig in Wien oder um die Flüchtlings- und Anhaltelager der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1956 wissen allerdings noch viele, was Lager bedeutet oder bedeuten kann: Ein Ort der Vernichtung von Menschen oder wenigstens ihrer brutalen Administrierung. Die „Caritas“ übt intensive Kritik an dieser Form der Unterbringung und etabliert die so genannte „Gasthausaktion“, die Aufnahme von Flüchtlingen in kleinen Gaststätten.

Auch internationale Organisationen wie das „Amt des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge“, das „American Joint Distribution Committee“ der „Internationale Sozialdienst“ und die „Internationale Vereinigung für Jugendhilfe“ unterstützen die Unterbringung der Flüchtlinge in Gaststätten, Heimen, Hotels, Pensionen und Privatquartieren, um das Lagerleben zu vermeiden. Vor einer Zusammendrängung der Flüchtlinge warnen auch die Psychologen. Lager sind ein Nährboden für die größte Gefahr in einer solchen Situation: für Gerüchte. Mangelnde Informationspolitik verunsichert die Menschen ebenso wie Gerüchte über das Auftauchen ungarischer Geheimdienstleute oder die gemischt besetzten Repatriierungskommissionen. Vieles davon ist bis heute nicht geklärt. Die Unterlagen der damals eigens dafür eingerichteten Stelle im Innenministerium wurden in der Zwischenzeit aussortiert, vernichtet, sodass auch in Zukunft wenig Aufklärung zu erwarten ist. Nur die Protokollbände blieben erhalten, die zumindest noch einen Eindruck von der Komplexität der Probleme und der behördlichen Logistik vermitteln.

Psychischen Stress verursachen bei den Flüchtlingen die Registrierungen nach ihrer Ankunft in Österreich, woran auch die Tatsache nichts ändern kann, dass für sie, wie später noch einmal 1968 für Tschechen und Slowaken nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“, eine kollektive Asyllösung gilt. Demnach erhält jeder, der die Grenze überschreitet, automatisch den Flüchtlingsstatus zuerkannt. Aber allein die Erfassung der persönlichen Daten löst Gefühle der Angst und Demütigung aus. Auch die Herzlichkeit der Österreicher, die zunächst tatsächlich groß ist, zeigt in relativ kurzer Zeit Risse. Schon im November 1956 mehren sich in den Medien und von Politikern Stimmen, die von einer Überforderung Österreichs sprechen. Bald wird auch von undankbaren Flüchtlingen die Rede sein. Als undankbar gilt oft, wer sich nicht mehr wie ein hilfsbedürftiges Wesen benimmt, eigene Schritte setzt, eigene Absichten artikuliert, oder sich mehr leisten will, als nur die Hilfsgüter in Empfang zu nehmen: etwa eine teure Jacke vom Wiener Graben.

Die Wiener Politik ist mit großem Unmut aus der Bevölkerung konfrontiert, weil die Flüchtlinge gratis die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen dürfen. Später kommen in den Zeitungen Meldungen über Verfehlungen von Ungarnflüchtlingen hinzu, ein besonderes Indiz für den Meinungsumschwung. Dieser Phase der Ernüchterung und latenten Aggression, das hat Hans Strotzka bereits 1958 festgestellt, folgt wieder eine Phase, in der die Gewöhnung durchschlägt und einem freundlichen Desinteresse Platz macht.

Der Text ist ein kleiner Ausschnitt aus dem Katalog zur Ausstellung  „Flucht nach Wien. Ungarn 1956”, die 2006 im Wien Museum zu sehen war. Kuratiert wurde sie von Peter Eppel (+2014), Béla Rásky und Werner Michael Schwarz.

Schwerpunkt Flucht/Krieg

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Peter Eppel studierte an der Universtität Wien Geschichte, Alte Geschichte und Anglistik. Ab 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter des DÖW, von 1993 an Zeitgeschichte-Kurator im Wien Museum, ab 1999 auch Restitutionsbeauftragter des Hauses. Peter Eppel war bis zu seiner Pensionierung 2010 Kurator und Mitarbeiter zahlreicher Ausstellung, u. a. A Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war (2004), Flucht nach Wien. Ungarn 1956 (2006), Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt (2006), Wo die Wuchtel fliegt. Legendäre Orte des Wiener Fußballs (2008) sowie Kampf um die Stadt (2010). Er verstarb 2014.

Béla Rásky ist seit 2010 Geschäftsführer des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI). Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien (Doktorat). Mitarbeit an zahlreichen zeithistorischen Projekten und Ausstellungen, u. a. an der Ordnung der Nachlässe von Felix Hurdes, Emmerich Czermak, Vinzenz Schumy und Christian Broda, an der Aufarbeitung der Haltung der österreichischen Nationalräte zum Nationalsozialismus, zahlreiche Übersetzungen historischer Werke aus dem Ungarischen, u. a. István Bibós Zur Judenfrage und Jenö Szücs‘ Die drei historischen Regionen Europas; Mitgestalter der Ausstellungen „Die Kälte des Februar", „3 Tage im Mai", „Flucht nach Wien", „Kampf um die Stadt"; langjähriger Mitarbeiter der Österreichischen Kulturdokumentation. Internationales Archiv für Kulturanalysen, bis 2003 Leiter des Austrian Science and Research Liaison Office Budapest; danach freiberuflich und im Wien Museum tätig.

Werner Michael Schwarz, Historiker, Kurator am Wien Museum, Schwerpunkt Stadt-, Medien- und Filmgeschichte, u.a. „Das Rote Wien“ (2019) und Pratermuseum (2024).

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