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Christian Hlavac, 19.3.2023

Venedig in Wien

„Verblüffend naturgetreu und wetterfest“

Ende des 19. Jahrhunderts musste man nicht unbedingt in die Eisenbahn steigen, um venezianisches Flair zu genießen. Man spazierte einfach zu Fuß nach „Venedig in Wien“. Der Prater-Themenpark von Gabor Steiner musste allerdings einige Hürden bis zur Realisierung überwinden – und sich bald nach der Eröffnung neu erfinden.

„Es ist nicht nur eine öffentliche Gefahr, sondern geradezu eine Schande für Wien, dass bei uns ein öffentlicher Garten nach dem andern zerstört wird. Vom Prater wird bald die Hälfte verbaut sein […]. Soll der letzte Baum im Weichbild Wiens […] der Spekulation zum Opfer fallen?“ Was wie ein Leserbrief aus heutiger Zeit klingen mag, stammt aus dem Artikel „Fort mit der Axt“ in der Tageszeitung Reichspost vom Jänner 1895. Der Anlass für das Echauffieren war die Zukunft des 50.000 m² großen Areals des einstigen Kaisergartens im Prater, welches seit 1890 einem englischen Konsortium gehörte. Deren relativ einfaches Vergnügungs-Etablissement mit dem Namen „Englischer Garten“ war ein Misserfolg geworden. Es wurde nun kurz still auf dem Areal nahe dem Praterstern, bevor Gabor Steiner auf den Plan trat und für Aufsehen sorgte.

Es besser machen als die anderen

Ende 1894 sickerten die ersten Informationen zu seinem Projekt durch, dem er sich bereits seit 1892 gewidmet hatte: der Errichtung einer italienischen Ausstellung auf dem Gelände des „Englischen Gartens“ mit venezianischen Gebäuden und Kanälen. Als Kopiervorlage war die Lagunenstadt bereits damals in Mode, wie Nachbauten in London (1890) und Berlin (1894) zeigten, wobei die künstlerische Qualität sehr zu wünschen übrigließ. So waren in London die mit Gondeln befahrbaren Kanäle in Form einer Wasserbühne von Bretterhäusern eingesäumt, die durch Verkleidung mit bemalter Leinwand den Charakter venezianischer Palazzi vorspiegelten.

Steiner wollte es in Wien besser machen: Nach Plänen des Wiener Ausstellungsarchitekten Oskar Marmorek entstand ein Mix aus venezianischen Bauten samt Kanälen und Plätzen. Das Neue Wiener Tagblatt schrieb im Dezember 1894 unter dem Titel „Venedig im Prater. Das Kaisergarten-Unternehmen“ über das finanziell gewagte Projekt: „Nach langen Vorbereitungen und Ueberwindungen nicht unbeträchtlicher Schwierigkeiten hat sich nun jetzt in Wien eine Kommanditgesellschaft gebildet, welche den ‚englischen Garten‘ […] in eine Unternehmung umwandelt, die alle Chancen des Gelingens in sich zu tragen scheint. Pächter ist Herr Gabor Steiner, der Sohn des früheren langjährigen Direktors des Theaters an der Wien und nachherige Mitdirektor dieser Bühne, der schon wiederholt Gelegenheit hatte, seine administrativen und artistischen Fähigkeiten zu bekunden.“

Sein Plan sah vor, im ehemaligen Kaisergarten ein Vergnügungsetablissement sowie eine Sommer-Arena zu errichten. „Er wird hiebei von der Absicht geleitet, das äußere Bild dieses Vergnügungsetablissements von Zeit zu Zeit vollständig zu ändern, so daß also dasselbe nach gewissen Zeiträumen, was sein Inneres und die Dekorationen betrifft, sich in immer neuer und schöner Gestalt dem Zuschauer präsentiren wird.“ Auf den Kanälen werde man echte Gondeln sehen, die von aus Venedig „importierten“ Gondolieri gesteuert werden sollen. „Dazu denke man sich italienische Musik, venezianische Sänger, Gondellieder, Chianti, vino nostrano – mit einem Worte: die Besucher werden sich voll und ganz in die Atmosphäre der Dogenstadt versetzt fühlen.“ Auch das Wiener Montags-Journal blickte im Dezember 1894 hoffnungsvoll in die Zukunft: Die umrahmende Kulisse werde als Neuerung nicht aus bemalter Leinwand bestehen, sondern aus charakteristischen venezianischen Häusern mit Arkaden, Altanen und Loggien.

Bereits im Dezember 1894 hatte Gabor Steiner für die Ausstellungsbauten um eine Baubewilligung angesucht. Ob er und die Grundeigentümer dabei mit Widerstand gerechnet hatten? Jedenfalls gab es rasch Gegenwind. So berichtete Mitte Jänner 1895 unter anderem die Wiener Allgemeine Zeitung unter dem Titel „Das Ende ‚Venedigs‘ im englischen Garten“ über einen Beschluss des Wiener Stadtratgremiums. Dieses habe das Projekt mit der Begründung abgelehnt, dass es nicht vorteilhaft sei, einen öffentlichen Park – der genau genommen privat war – zu zerstören. Gabor Steiner, sein Architekt Oskar Marmorek und der juristische Vertreter der Eigentümer reagierten und erhoben Einspruch beim Wiener Statthalter. Mit dem Stadtratsmitglied Wilhelm Stiassny, selbst Architekt, hatten sie hierbei einen Fürsprecher. Er verwies einige Tage später in einer Stadtratssitzung darauf, dass die Unternehmer ihr ursprüngliches Projekt ergänzt hätten. Nun könne man keine Bedenken mehr gegen die „Devastation des Gartens, gegen den provisorischen Charakter des Baues und die Art der Ausführungen“ erheben. Nach einer langen Diskussion – die Sache musste aufgrund der langen Rednerliste sogar vertagt werden – folgte Ende Jänner der Beschluss: Es gebe keine Einwendung gegen die provisorische Verbauung des Geländes ohne vorhergegangene Parzellierung.

Provisorische Bauten

Zeitgleich musste eine andere Sache geklärt werden: der Hauptzugang. Die Betreiber wollten nämlich, dass die Besucher direkt vom Praterstern in die „Wiener Lagunenstadt“ gelangten. Doch dazu mussten mehrere Ämter und Grundeigentümer ihre Zustimmung geben, denn zwischen dem Praterstern und dem „Englischen Garten“ stand der Viadukt der Kaiser Ferdinands-Nordbahn. Ende 1894 hatte Gabor Steiner im Namen des Eigentümers des „Englischen Gartens“, der Londoner Assets Realisation Company Limited, um Bewilligung zur Errichtung von Durchgängen durch zwei Öffnungen des Viadukts der Verbindungsbahn und zur Benützung der beiden anderen Öffnungen für Garderoben und andere Zwecke angesucht. Bei der Ortsverhandlung Ende Dezember 1894 waren Gabor Steiner und Oskar Marmorek anwesend. Sie stellten dabei das Projekt vor: Man wolle unter dem Namen „Venedig“ eine „italienische Ausstellung“ errichten. Die zu errichtenden Gebäude sollten laut dem präsentierten Typenplan in Holz ausgeführt werden. Diese Ausstellungsbauten seien – so das Protokoll der Ortsverhandlung – „nur als provisorische Bauten zu betrachten, da dieselben auf eine, höchstens 2 Saisonen berechnet sind.“ Das Veranstaltungsgebäude, ein Caféhaus, ein Restaurant und das Theater würden teils aus verschalten Holzriegelwänden, teils aus gemauerten Riegelwänden hergestellt, wobei die „Objekte aus Holzriegelwänden eine beiderseitige Stuccatierung“ erhalten sollten.

 

Bewilligt – mit Auflagen

Am 13. Februar 1895 lag das Bewilligungsschreiben von Seiten der Stadt Wien vor. In Folge des Beschlusses des Wiener Stadtrats vom 30. Jänner 1895 erteilte man die Bewilligung „zur Errichtung provisorischer Objekte im ‚englischen Garten‘ für Zwecke der unter dem Namen Venedig geplanten italienischen Ausstellung“. Doch der Magistrat stellte für das Bauvorhaben Bedingungen. So mussten die Betreiber ein Detailprojekt für die Kanalisation vorlegen. Objekte, welche mit der verpflichtend dekortierten Fassade zum Volksprater gerichtet sein werden, müssten einen Abstand von mindestens vier Meter zur Grundstücksgrenze aufweisen. Zusätzlich forderte man unter anderem, dass „die Erneuerung des Wassers in dem Wasserlaufe constant stattfinde, so dass eine vollständige Stagnierung des Wassers vermieden werde“, wobei Hochquellenwasser verwendet werden müsse. Eine ausreichende Anzahl von Abortanlagen samt Anschluss an die Kanalisation und eine Notbeleuchtung für den Fall des Versagens der elektrischen Beleuchtung gehörten ebenfalls zu den Vorgaben.

Hinsichtlich des Wassers, das für die von den Gondolieri zu befahrenden Kanälen benötigt wurde, bewilligte das Stadtratsgremium Anfang Mai die Abgabe von 50.000 Hektoliter Hochquellenwasser „zur einmaligen Füllung der Lagune“ – zu bezahlen selbstredend von den Projektanten. Das verzweigte Netz an betonierten Kanälen wies immerhin eine Länge von einem Kilometer auf, wobei die Kanäle einen Meter tief und zwischen fünf und acht Meter breit waren. Mit den beiden Bassins, dem „Bacino Grande“ und dem „Bacino Orseolo“, umfasste die Wasserfläche in Summe 8.000 m²; die Gebäude dürften eine Fläche von 5.000 m² eingenommen haben.

Die im Kaisergarten noch bestehenden Gebäude wurden spätestens Anfang 1895 demoliert und stattdessen im Spätwinter und im Vorfrühling 167 Gebäude durch mehr als tausend Handwerker errichtet. Steiner und Marmorek waren inzwischen gemeinsam in Venedig: Sie fuhren Anfang 1895 in die echte Lagunenstadt, vor allem um geeignete Mitarbeiter vor Ort zu engagieren. Unter anderem wurden in Venedig 30 Gondolieri, „die feschesten und flinksten Burschen ihrer Gilde“ – so das Neue Wiener Tagblatt – angeworben.

Der Architekt Oskar Marmorek schrieb in einer Fachzeitschrift über seinen gestalterischen Ansatz: „Es ist keine Copie eines bestimmten Platzes, sondern gleichsam eine Paraphase von Venedig. Jedes einzelne Haus ist entweder direct eine Copie oder nach einem bestimmten Venetianer Grundmotiv gezeichnet.“ Besonderen Wert legte Marmorek auf die Kopien des Palazzo Ca’ d’Oro, des Palazzo Vendramin (Sterbehaus Richard Wagners) und des Klosterhofs der Abbazia San Gregorio. Doch trotz solider Gebäude konnte man auf gemalte Ansichten nicht verzichten. Da der Markusplatz einfach zu groß war, um ihn zu kopieren, wurde er als Art Diorama präsentiert. Das Panorama mit der Kirche von San Marco und der Piazzetta, gemalt vom k. k. Hof-Theatermalerunternehmen J. Kautsky Söhne & Rottonaro, zeigte sogar Tauben, welche die Markuskirche umkreisen.

Eröffnung und die ersten Reaktionen

Ende 1894 ging man noch vom Eröffnungstermin 1. Mai 1895 aus, der jedoch aufgrund des zu langsamen Baufortschritts nicht zu halten war. Der neue Termin war nun Samstag, der 18. Mai. Aufgrund der Witterung und der Wetterprognose beschloss die Direktion allerdings kurzfristig, die Eröffnung auf den darauffolgenden Mittwoch um 17 Uhr zu verschieben.

Die konservativen, bürgerlichen Zeitungen gaben nach der Eröffnung wohlmeinende Kommentare ab. In der Neuen Freien Presse hieß es: „Venedig in Wien oder vielmehr Venedig im Prater ist […] eröffnet worden, und die Wiener haben alsbald durch eine Massen-Invasion Besitz von dem Miniatur-Abbild der Lagunenstadt ergriffen und sich daselbst behaglich niedergelassen, obwol [sic!] die gemalten Prachtgebäude noch nicht überall ausgebaut sind und es stellenweise noch recht unfertig und wildromantisch aussieht. […] Ueberall hörte man Rufe des Staunens über die schönen Bilder, die sich dem Auge bieten, Aeußerungen der Freude darüber, daß in Wien wieder einmal ein wirklich weltstädtisches Unternehmen entstanden ist, ein anziehender Sammelpunkt für die vielen Tausende, die Wien im Sommer nicht verlassen können, und nicht minder die Fremden, welche Abends so oft hilflos fragen, ob denn in Wien gar nichts los sei?“

 

„Sorgfältig nachgeahmtes Abbild!“

Die Wiener Zeitung widmete sich ausführlicher der Architektur: „In der kurzen Zeit von kaum drei Monaten ist dieses kleine Abbild der alten Dogenstadt entstanden. Und welch getreues, in tausendfachen Einzelheiten dem Originale sorgfältig nachgeahmtes Abbild! […] Wer Venedig, die unvergleichliche Stadt, kennt, der wird hier schöne Erinnerungen geweckt finden, wer sie nicht kennt, der wird durch den Anblick dieses Abbildes die Sehnsucht empfinden nach dem Süden, nach der stillen Stadt in den Lagunen. […] Die Paläste sind verblüffend naturgetreu hingestellt und wetterfest erbaut, nicht etwa nur aus Bretterwänden mit bemalter Leinwand errichtet, wie dies bei einer ähnlichen Veranstaltung anderswo der Fall gewesen.“

Deutlich kritischer äußerte sich die Arbeiter Zeitung: „Bei leidlich gutem Wetter, leidlich gutem Besuch und nicht hinlänglicher Fertigstellung wurde gestern die hölzerne Lagunenstadt im Prater eröffnet. Da in den Adern der Wiener nicht heißes venezianisches Blut fließt, nahmen sie alles hin, wie manʼs ihnen bot, selbst die stiefelmörderischen, glasscherbenbesäeten Wege mit den oft faustgroßen Kieseln. Links und rechts wurde noch gehämmert, angestrichen, getüncht, lackiert und poliert, gehobelt und gesägt, wurden Wege geputzt, als die Stunde der Eröffnung schlug, und doch bot sich dank der eben gerühmten Wiener Blutlosigkeit – Gemüthlichkeit nennen sieʼs selber – auf den Plätzen, Brücken und Stegen, auf dem Kanal, in den Gastwirthschaften und Cafés, Bazaren und Anschauungswerkstätten ein buntbewegtes Bild.“ Die Kritik des Autors betraf vor allem die „schmutzigen Kanalwässer – sie haben die richtige Canale grande-Farbe“. Den meisten Besuchern – vor allem denen, die das originale Venedig kannten – dürfte die Wasserqualität egal gewesen sein. Sie buchten um den Preis von 15 Kreuzern eine Rundfahrt in einer von der Firma Casal & Figlio in Venedig hergestellten Gondel mit einem Gondoliere aus Venedig, der – wie alle seine Kollegen – ein vom Ober-Garderobier der Hofoper angefertigtes Kostüm erhalten hatte.

 


Kleine Seitenhiebe

Es konnte nicht ausbleiben, dass sich rasch auch Spötter und Satiriker dem Wiener Venedig widmeten. Und so wurde bereits Anfang März 1895 in der Wiener Sonn- und Montags-Zeitung ein „Epigramm“ abgedruckt:

Lagunen im Prater.
Zum Teufel mit den Bäumen!
Wir haben uns zum Träumen
Venedig ausgeliehʼn; –
Wien zieht nicht mehr in Wien …

Mit einem Augenzwinkern blickte der Hans Jörgel von Gumpoldskirchen gleich nach der Eröffnung – wenngleich er das Projekt anerkennend lobte – auf die gedoppelte Stadt: „Seit Venedig in Wien, d. h. im Wiener Prater eröffnet ist, braucht Niemand mehr die Lagunenstadt per Eisenbahn und Dampfschiff aufzusuchen.“

Doch zurück nach Wien: Nach anfänglichen Erfolgen ließ das Interesse der Einheimischen am kopierten Venedig nach. Auch die 1897 erfolgte Errichtung des Riesenrades am Rande des Geländes konnte dies nicht verhindern. Venedig wurde daher – wie von Steiner schon bei Planungsbeginn vorgesehen – durch andere Attraktionen ersetzt und die Kanäle zugeschüttet. Auf dem Areal folgten etwa die Ausstellungen „Internationale Stadt“ (1901) und „Elektrische Stadt“ (1903). Als im August 1912 „die Vergnügungs-Etablissement Kaisergarten GmbH“ mit ihrem Geschäftsführer Gabor Steiner Konkurs anmeldete, war endgültig Schluss: Der letzte Rest der „Wiener Lagunenstadt“ war für immer verschwunden.

 

Literatur und Quellen:

Ausstellungs-Direction (Hrsg.): Führer durch die Ausstellung „Venedig in Wien“ Mai–October 1895. Wien 1895

Christian Hlavac, Christa Englinger: La bella Austria. Auf italienischen Spuren in Österreich. Wien 2019

Oskar Marmorek (Red.): Neubauten und Concurrencen in Oesterreich und Ungarn. Organ für das Hochbaufach und seine Interessenten. 1. Jahrgang, Wien 1895

Akten im Österreichischen Staatsarchiv und Wiener Stadt- und Landesarchiv

Christian Hlavac studierte Landschaftsplanung an der Universität für Bodenkultur Wien und Architektur an der TU Wien. Er arbeitet als Landschafts- und Gartenhistoriker sowie als Publizist. Im September erschien sein neues Buch „Lilienfeld. Von weißen Mönchen und weißem Sport“ im Christian Brandstätter Verlag.

 

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Kommentare

Dorothea Hörmann

Sehr interessanter und anregender Beitrag, vielen Dank!

Jean-Claude Brunner

Ich erlaube mir den Hinweis auf eine neue Publikation: Ingrid Erb: Venedig in Wien, Böhlau Verlag Wien 2022. Die Autorin hat dazu im Wien Museum noch zu Vorpandemiezeiten einen Vortrag gehalten.

Helmut Rauscher

Sehr interessant!
Danke!