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Sándor Békési, 6.6.2024

Vom „Boulevard“ zum Europaplatz

Zur Geschichte eines Gürtelabschnitts

Der Gürtel war nie ein klassischer Boulevard – selbst vor 120 Jahren nicht, als er noch als „Luftreservoir“ dienen sollte und nicht als bloße Verkehrsschneise. Nur der Abschnitt am Neubaugürtel beim Westbahnhof wurde repräsentativ ausgestaltet und erinnert heute als Europaplatz an die Internationalisierung Wiens nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Wiener Gürtel entstand in seiner heutigen Form und in seinem westlichen Teil erst nach der Schleifung des Linienwalls und mit dem Bau der Stadtbahn um 1900. Er war als wichtige Tangentialverbindung der erweiterten Stadt geplant worden. Die breite, von Alleen gesäumte Straße sollte, was heute paradox klingen mag, nicht nur als Verkehrsfläche sondern auch als "Luftreservoir" für die dicht bebaute Großstadt dienen. So galt der Gürtel zunächst als relativ gute Wohngegend. Dies galt vor allem für den inneren Westgürtel, also die den bürgerlichen Vorstädten zugewandte Seite, die mehr Grünstreifen erhielt, während der äußere Gürtel der ehemaligen Vororte ungleich stärker der Verkehrsbelastung ausgesetzt war. Als klassische Prachtstraße und mondäne Flaniermeile kann der Gürtel jedoch kaum bezeichnet werden – weder in seiner baulichen Struktur noch in seiner Nutzung oder Wahrnehmung. Die immer wieder anzutreffende Rede vom „Gürtel-Boulevard“ mag die Straße symbolisch und retrospektiv aufwerten wollen, geht aber insgesamt an der historischen Realität dieses Straßenzuges vorbei.

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Lediglich in einem kurzen Abschnitt wurde der Gürtel einigermaßen zu einem Ort der Repräsentation: am Neubaugürtel vor dem Westbahnhof. Vom Urban-Loritz-Platz bis zum Beginn des Mariahilfer Gürtels erstreckte sich ab der Jahrhundertwende eine anspruchsvolle Parkanlage mit Baumreihen, Blumenbeeten und Bänken. Der Grund für die aufwändigere Gestaltung dieser acht Hektar großen „Erholungs- und Promenadenanlage“ am Neubaugürtel dürfte in der Nachbarschaft mit einem großen Bahnhofsplatz und der Mariahilfer Straße, einer wichtigen Ausfallstraße und Geschäftsmeile, gelegen haben. Hier verlief ja auch die traditionelle Route des kaiserlichen Hofes nach Schönbrunn. Die „Gürtelanlage“ vor der ehemaligen Mariahilfer Linie war nun durchaus vergleichbar mit einigen zentral gelegenen Grünanlagen der Stadt. Im 1905 erschienenen „Führer in technischer und künstlerischer Richtung“ von Paul Kortz wird sie in einer Reihe mit den Parkanlagen vor der Votivkirche (heute Sigmund-Freud-Park), am Friedrich-Schmidt-Platz hinter dem Rathaus oder mit jener am Schillerplatz genannt.

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Zur Erinnerung an die Vollendung der sogenannten „Gürtelanlagen“ zwischen Nußdorfer Straße und dem Wienfluß, zu denen alle Grünflächen entlang des Westgürtels zählten, ließ die Stadt Wien 1906 an der Kreuzung mit der Mariahilfer Straße sogar einen Leuchtobelisken aufstellen. Dieser enthielt rund 100 Glühlampen und wurde vom Architekten Scheiringer entworfen und vom Bildhauer Hans Scherpe figural gestaltet. Der Obelisk steht heute noch (wenn auch an den Beginn des Mariahilfer Gürtels versetzt), besitzt aber nicht mehr den ursprünglichen Leuchtkörper und den Bronzeschmuck. Zum repräsentativen Charakter dieses Gürtelabschnitts trugen auch die hohen, geschwungenen Bogenlichtmasten der elektrischen Straßenbeleuchtung bei. Sie zierten ab 1903 zunächst nur die zentralen Straßenzüge und den Stephansplatz, wurden aber wenige Jahre später auch entlang der Mariahilfer Straße und bis zur Stadtbahnstation beim Westbahnhof aufgestellt.

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Ein zweites Monument in diesem Bereich des Gürtels ist das 1909 errichtete „Hesser-Denkmal“. Es erinnert an das erfolgreiche Abwehrgefecht bei Schwarzlackenau (heute Floridsdorf) im Zuge der Schlacht von Aspern hundert Jahre zuvor und wurde vom Architekten Karl Badstieber und dem Bildhauer Josef Tuch gestaltet. Das Denkmal und die Bezugnahme auf ein stadthistorisch wichtiges Ereignis verliehen dem Ort eine zusätzliche, wenngleich martialische Feierlichkeit. Ursprünglich stand es zentraler, zwischen Stadtbahnstation und Lazaristenkirche, so dass praktisch jede(r) Benutzer(in) der Stadtbahn an ihm vorbeimußte. Seit dem Umbau der Stadtbahn zur U6 steht das Denkmal, weiter nach Norden „verbannt“, auf der Höhe der Felberstraße.

Seit dem Weltausstellungsjahr 1873 befand sich am Neubaugürtel auch das renommierte Großhotel Wimberger, das sich zu einem beliebten Treffpunkt der Wiener:innen entwickelte. Das ebenfalls bis heute bestehende Hotel Fürstenhof im Haus gegenüber dem Westbahnhof (Neubaugürtel 4) nahm 1914 seinen Betrieb auf und warb mit seiner Lage in einer Weise, die heutzutage bereits fremd anmutet: „Inmitten der herrlichsten Parkanlagen. Prachtvolle Aussicht. Moderner Komfort."

In dieser Gegend waren um 1900 nicht zufällig auch die wenigen vornehmen Kaffeehäuser am Gürtel zu finden. Das Café Westend und an der gegenüberliegenden Ecke das kurzlebigere Café Boulevard (rechts im Bild), dessen Name eine der seltenen zeitgenössischen Imaginationen eines solchen Straßenzuges hier darstellt. Dazwischen erstreckte sich die trichterförmige Einmündung der Mariahilfer Straße in den Gürtel, die damals ebenfalls eine gärtnerische Ausgestaltung erhielt. (Die Tatsache, dass der große Postkartenverleger Paul Ledermann in seiner Serie von Panorama-Ansichtskarten ein Motiv dieser Kreuzung widmete, demonstriert die damalige Attraktivität bzw. Wahrnehmung dieses Gürtelabschnitts.) Vor dem 1859 eröffneten Bahnhof der Kaiserin Elisabeth-Westbahn und seitlich davon zur äußeren Mariahilfer Straße hin bestand die Gartenanlage dagegen schon länger.

Der weitläufige „Bahnhof-Platz" erfuhr nun ab 1898 mit der Errichtung der Stadtbahn eine deutliche Veränderung. Mit dieser wurde der Neubaugürtel zu einem noch bedeutenderen Verkehrsknotenpunkt, an dem sich – zusammen mit Westbahn und Tramway – bereits drei Schienenverkehrssysteme trafen. Gleichzeitig hielt mit dem Stationsgebäude von Otto Wagner die architektonische Moderne hier Einzug. Die Station musste jedoch wegen des Dampfbetriebes offengehalten werden und stellte somit eine rund 100 Meter lange bauliche Barriere zwischen Neubaugürtel und Bahnhofsplatz dar. Während die Stadt Wien gerade die Straßenbahnen elektrifizierte, brachte also die Stadtbahn den traditionellen Eisenbahnbetrieb in die Stadt. Die aufsteigenden Rauchwolken der Dampflokomotiven konterkarierten die Erholungsfunktion der angrenzenden Grünanlagen. Eine Ambivalenz, die freilich auch für andere Gürtelstrecken galt.

Im Roten Wien der Zwischenkriegszeit bereicherte dann eine profane und aus heutiger Sicht ebenfalls überraschende Einrichtung den Neubaugürtel: ein Kinderfreibad. Es wurde 1930 genau zwischen den Gürtelfahrbahnen unweit der heutigen U6-Station und angrenzend an die Felberstraße-Stollgasse errichtet. Offenbar bot der Gürtel damals noch genügend Potenzial als Erholungs- und Freizeitraum. Der Straßenverkehr nahm zwar merklich zu, die Massenmotorisierung lag aber noch in weiter Ferne (und die Stadtbahn war bereits elektrifiziert). Auch an anderen Stellen entlang des Gürtels ließ die Gemeinde Wien solche Kinderfreibäder einrichten, so etwa in ähnlicher Lage am Margaretengürtel. Dort trugen sie wohl gemeinsam mit den großen Gemeindebauten wie dem Reumannhof zum Image der Gürtelstraße als „neue Ringstraße des Proletariats“ bei, das in manchen sozialistischen Medien lanciert wurde. Eigene Kinderbereiche waren am Gürtel an sich nicht neu, so gab es bereits um 1900 größere „Kinder-Spiel-Plätze“ am Urban-Loritz-Platz und am Währinger Gürtel.

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Mit dem Neubau des Westbahnhofs um 1950 erfolgte die nächste große stadträumliche Veränderung am Neubaugürtel. Der neue Bahnhof wurde zum Symbol des Wiederaufbaus und zum Vorzeigeprojekt der Republik. Das Gebäude mit seiner markanten Außenfassade und der großzügigen Haupthalle rückte näher an den Gürtel heran und positionierte den Bahnhof nun stärker im Straßenbild. Der vormals großteils begrünte Bahnhofsvorplatz wich einem großzügigen Parkplatz für Busse und Pkw. Zwischen Stadtbahn und Bahnhof wurde die erste Unterführung („Tunnel“) Wiens für Fußgänger errichtet – die Opernpassage folgte 1955. Dafür wurde das hiesige Stationsgebäude der Stadtbahn von Otto Wagner als erstes abgerissen. Gleichzeitig wurde der Gürtel selbst umgebaut: Zwei getrennte und verbreiterte Richtungsfahrbahnen und damit die „erste moderne Betonstraße Wiens" (Rathauskorrespondenz) entstanden – der noch aus der Monarchie stammende Radweg mußte daran glauben. Damit gehörte der Neubaugürtel beim Westbahnhof zu jenen urbanen Zonen Wiens, die nach 1945 am schnellsten gemäß dem Ideal der autogerechten Stadt umgestaltet wurden.

Der neue, vielbeachtete Westbahnhof verkörperte zugleich die neue Westorientierung des Landes in Zeiten des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs. Dies manifestierte sich auch in der Umbenennung des Neubaugürtels vor dem Bahnhof 1958 in den heutigen Europaplatz. In diesem Jahr fand das erste Wiener Europagespräch mit hochrangiger internationaler Beteiligung und auf Initiative des dem Europagedanken sehr verbundenen Bürgermeisters Franz Jonas statt. Kurz zuvor hatte der Europarat (nicht zu verwechseln mit dem späteren Europäischen Rat der EU) die diesbezüglichen Bemühungen Wiens mit der Verleihung des „Europa-Preises“ (gemeinsam mit Den Haag) gewürdigt. Jonas vergaß bei dieser Gelegenheit neben dem „Tor zum Westen“ auch den Osten des Kontinents nicht und sah in der neuen Namensgebung ein „Bekenntnis der Bundeshauptstadt zum vereinigten Europa“ (Rathauskorrespondenz). Ein schlichter, wenn auch massiver Gedenkstein erinnert vor Ort heute noch an dieses Ereignis – umgeben vom Verkehr und am Rande der Wahrnehmung ...

Weiterführende Literatur

Sándor Békési: Vom Luftreservoir zur Verkehrshölle und Kulturmeile? Beiträge zu Geschichte und Wahrnehmung des Wiener Gürtels, in: Wiener Geschichtsblätter, 55 (2000) H. 2, S. 73–101

Christoph Freyer: Naherholung noch näher. Der Wiener Gürtel als Erholungsraum (wienmuseum.at), 26.7.2020

Markus Gansterer / Madeleine Petrovic (Hg.): Der Wiener Gürtel. Wiederentdeckung einer Prachtstraße (mit Fotografien von Dieter Nagl), 2., überarbeitete und ergänzte Auflage, Wien 2009

Siegfried Mattl und Fritz Öttl: Der Wiener Gürtel – von der profanen Moderne zum Heterotop,in: Wien, Urbion: Urban Intervention Gürtel West – Der Stand der Dinge (hg. v. Stadtplanung Wien, Magistratsabteilung 18), Wien 2000, S. 9-20.

Petra Schneider, Gerhard Strohmeier: Raumbildung und Raumbilder. Zur Wahrnehmungsgeschichte des Wiener Gürtels, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Jg. 11 (2000) H. 2, S. 9–48

Nicole Süssenbek, Tina Gerstenmayer: Der Gürtel.Definitionen einer Veränderung, Wien 2007

Christa Veigl (Hrsg.): Stadtraum Gürtel Wien. Natur, Kultur, Politik. Wien 1999

Sándor Békési studierte Geschichte, Geographie sowie Wissenschaftstheorie und -forschung in Wien und ist seit 2004 Kurator am Wien Museum im Sammlungsbereich Stadtentwicklung und Topografie. Zahlreiche Publikationen und Forschungsarbeiten zum Thema Stadt-, Umwelt- und Verkehrsgeschichte.

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Kommentare

Fritz Zeilinger

Tolle Fotos, die den Text anschaulich illustrieren!