Hauptinhalt
Wiener Straßenfotografie seit 150 Jahren
Augenblicke im Überfluss
Die Fotosammlung zählt zu den Kernbeständen des Museums. Was alles umfasst sie? Und wie viele Fotos wurden für das Ausstellungsprojekt durchgesehen?
Eigentlich kann man nicht von einer Fotosammlung sprechen, sondern von mehreren Sammlungsbereichen. Es gibt die topografische Fotosammlung, diejenige des Departments Geschichte und Stadtleben, die Kunstsammlung… Wir haben daraus an die 80.000 Fotografien herausgefiltert, um uns dem Thema Straßenfotografie zu nähern.
Welche Abgrenzung gab es? In der Sammlung eines Stadtmuseums geht’s doch zwangsläufig um Straßen und öffentliche Plätze…
Es ist nur ein Teil der Sammlung, weil es ja auch viele Porträtfotos, Tanzfotos oder Aufnahmen von politischen Ereignissen gibt. Und unser Zugang ist die Straße, nicht die Stadt. Es ging also nicht um Architekturfotos, sondern um Motive, die Straßenleben festhalten. Meines Wissens wurde die Fotosammlung des Museums noch nie in dieser Breite auf ein Thema hin durchsucht. Wir haben unglaubliche Aufnahmen gefunden, die de facto niemand kennt.
Der entscheidende Punkt ist: Wenn im Museum ein Foto z.B. in der topografischen Sammlung aufbewahrt wird, ist es mit der Adresse bezeichnet, d.h. es zeigt z.B. den Graben um 1920. Aber es wird nicht motivisch beschrieben, was auf dem Foto zu sehen ist, wie die Straße ausgesehen hat. Deshalb mussten wir jedes Foto tatsächlich einzeln in die Hand nehmen.
Wie kann man sich das rein praktisch vorstellen?
Wir haben uns über ein Jahr lang dreimal in der Woche getroffen und jeweils mehrere Stunden lang Fotos gesichtet …
… und zwar von großformatigen Abzügen bis zu ganz kleinen Knipserfotos aus der Zwischen- und Nachkriegszeit. Es ging uns um das gesamte Spektrum von Techniken, Verwendungsarten, Auftraggeberschaft etc. Die Auswahl für das Projekt zeigt auch, wie sehr sich die Fotografie in den letzten eineinhalb Jahrhunderten verändert hat.
Aber auch das Ausstellen von Fotografie hat sich verändert. Früher hätte man im Wien Museum nie eine Ausstellung gezeigt, die Instagram-Motive mit Straßenfotos von August Stauda mischt.
Der Paradigmenwechsel hat sich im Museum sehr langsam vollzogen. Lange Zeit wurde die Fotografie überhaupt stiefmütterlich behandelt, erst spät wurde sie als eigenständiges Medium entdeckt. Bis vor 20 Jahren waren bei uns vielfach die Fotografen gar nicht vermerkt, auch die Produktionsgeschichte oder wer die Auftraggeber waren, hat keine große Rolle gespielt. Mit der Digitalisierung wurde aber viel aufgearbeitet, sodass wir heute gesamte Bestände, die einst über die verschiedenen Spezialsammlungen verteilt wurden, wieder zusammenführen können. Wir konnten Verknüpfungen herstellen, die verlorengegangen waren, und daher auch neue Geschichten erzählen. Und davon ganz abgesehen: Die neu hinzugekommene Sammlung des MUSA ist natürlich auch hinsichtlich der Fotografien eine unglaubliche Bereicherung, auf die wir bei diesem Projekt zurückgreifen konnten.
Wie unterscheidet sich der Begriff der Straßenfotografie von jenem der Street Photography?
Street Photography nennt man jene Autorenfotografie, die in den USA in den 1930er und 1940er Jahren aufgetaucht ist. Der Begriff war daher nicht geeignet, unsere Bandbreite abzudecken, die von den 1860er Jahren bis ins Jahr 2021 reicht. Wir haben uns daher für den viel offeneren Begriff der Straßenfotografie entschieden. Es geht in der Schau immer um Szenen auf der Straße, aber oft zeigen die Bilder en passant auch wichtige Aspekte der Stadtentwicklung. Wir haben aus der Fülle des Materials spannende Themen herausgegriffen, etwa das Gehen und Flanieren, Blicke in der Stadt, die Plätze der Kinder, Frauen und Männer, das Vergnügen, die Armut, die beschriftete Stadt usw.
Ein Vorteil war jedenfalls, dass wir keine chronologische Ausstellung machen wollten. Dadurch hat sich eine viel größere Freiheit ergeben, die Fotos aus unterschiedlichen Zeiten zueinander in Beziehung zu setzen.
Welches Bild von Wien ergibt sich denn aus Eurer Sicht? Man darf wohl keine Dynamik erwarten wie in der New York Street Photography…
Wien ist bekanntermaßen eine langsame Stadt. Diese Langsamkeit übersetzt sich in die Bildkultur, auch weil die Gemütlichkeit ein wenig zum Markenzeichen Wiens gehört. Traditionelle Motive, etwa Marktfrauen und die Fiaker, halten sich bis weit bis ins 20. Jahrhundert, obwohl die Stadt sich längst modernisiert hatte. Und Wien war nicht sehr innovativ, komplett neue Stadtbilder zu finden. Das Andocken an die Vergangenheit vermischt sich mit einer Lust am Experiment. Selbst die dynamischen Veränderungen seit den 1990er Jahren schlagen sich nur teilweise in den Bildern nieder. Auch in der Instagram-Fotografie sieht man oft vertraute Stadt- und Straßenszenen. Was mich besonders fasziniert hat, waren jene Bestände in der Sammlung, die keine „offiziellen“ Bilder sind, z.B. Amateurfotografie der 1920er und 1930er Jahre. Faszinierende Bilder mit flanierenden Menschen auf der Straße, also einem urbanen Hauptmotiv jener Zeit.
Und wie geht man mit klischeehaften Wien-Fotos, etwa jenen von Emil Mayer um, etwa den berühmten „Wiener Typen“ im Prater und anderswo? Besteht da nicht generell die Gefahr, ins Stereotype abzurutschen?
Emil Mayer hat auch ganz andere Motive fotografiert, die meiner Meinung nach nicht eindeutig als ´Wiener Typen` identifiziert werden können. Auf diese haben wir uns auch bei unserer Auswahl konzentriert. Wir zeigen zum Prater etwa auch eine bislang unbekannte Serie von Elfriede Mejchar. Aber klar: Um bestimmte Themen kommt man nicht herum, zum Beispiel um den Naschmarkt. Dass sich der Naschmarkt als Motiv über Jahrzehnte hält, ist schon spannend. Das nicht zu zeigen, wäre falsch.
Wie groß ist die tatsächliche Auswahl für Katalog und Ausstellung geworden?
Im bereits erschienenen Katalog sind rund 300 Aufnahmen zu finden, in der Ausstellung werden wir aus Platzgründen wohl rund die Hälfte zeigen können. Unsere Auswahl ist sehr subjektiv und bildet die Sammlung natürlich nicht eins zu eins ab. Wir haben viel diskutiert, aber bei den Entscheidungen waren wir uns erstaunlicherweise eigentlich immer einig.
Die Auswahl funktioniert wie bei einem Trichter: Oben ist es grob, unten feiner. In unserem Fall war es nicht leicht, eine Geschichte zu destillieren, die einerseits 150 Jahre Fotogeschichte und andererseits eine lange Stadtgeschichte umfasst. Wichtig war uns, dass man die Blessuren der Stadt nicht ausspart, die Brüche, die beiden Weltkriege etc. Wir haben uns sehr viel assoziativen Freiraum erlaubt. Das hat Türen aufgemacht, die man vorher nicht gesehen hat. Den Katalog daraus zu machen, war nicht so schwierig, das Aussortieren allerdings schon.
Wieviel Unbekanntes ist zu erwarten?
Ich schätze, rund 70 Prozent der Fotos wurden noch nie gezeigt. Ergänzt wurde die Auswahl aus der Museumssammlung um einige Fotos aus externen Sammlungen, etwa von Barbara Pflaum oder Ernst Haas.
Es gibt viele Fotobände zu Wien, aber wir zeigen sehr viel neues Material, in neuem Kontext. Einige Leute, die den Katalog schon gesehen haben, haben mir jedenfalls gesagt, dass sie Wien so noch nicht gesehen haben.
Der Katalog zur Ausstellung ist im Kehrer Verlag erschienen und im Shop des Wien Museum MUSA sowie im Online Shop des Wien Museums und im Buchhandel erhältlich (448 Seiten/39 Euro). Hier ein paar Vorschauseiten zum Blättern. In unserer Online Sammlung findet man über 20.000 Fotografien aus dem Bestand des Wien Museums, darunter auch viel Straßenfotografie.
Kommentar schreiben
Kommentare
Ein hochinteressantes Projekt! Auf die Ausstellung im Jahre 2023 kann man sich jetzt schon freuen!