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Wiener Zeitfenster – Erinnerungen an den Wahlkampf von Robert Jungk 1992
Die Wahl und die Qual
Als Österreichs Grüne Parlamentspartei Robert Jungk Ende Dezember 1991 fragte, ob er bereit sei, anlässlich der Präsidentschaftswahl am 26. April 1992 als ihr Kandidat anzutreten, hielt ich nicht für möglich, dass mein Vater diesem Ansinnen stattgeben würde. Doch er ließ uns wissen, meine Mutter und mich, dass er nicht nur willens sei, sondern die Herausforderung als einen „Gipfel seiner Karriere“ empfinde. Endlich bestehe die Möglichkeit, seine zentralen Anliegen während zahlloser Wahlkampfauftritte über Monate hinweg unter die Menschen zu bringen. Seine ökologischen, sozialpolitischen und zukunftsorientierten Ideen einem breiten Publikum weitaus bekannter zu machen, als ihm dies bisher je möglich gewesen sei. Die Nominierung machte ihn glücklich, das war nicht zu übersehen. Ich riet ihm daher auch nicht davon ab, sie anzunehmen. Trotz der zu erwartenden Belastung – Vater war zu diesem Zeitpunkt nahezu 79 Jahre alt – die auch einen weit Jüngeren ungemein strapazieren musste.
Als ein Reporter des ORF meine Mutter zu Beginn des Wahlkampfes fragte, wie sie denn zu der Tatsache stehe, dass ihr Mann nunmehr als Kandidat der Grünen das Land bereise, gab sie ihrem Unmut freien Lauf: Wie „grauenhaft“ es sei, auf das Niveau eines Rudolf Streicher, dem Kandidaten der SPÖ, eines Thomas Klestil, ÖVP, oder einer Frau Heide Schmidt (damals noch mehr oder weniger im Dienste Jörg Haiders), herabgezerrt zu werden. „Was hat er das nötig, sich mit solchen Leuten herumzuschlagen?“, fragte sie den Interviewer. „Außerdem wird es ihn nur entsetzlich überanstrengen.“ Als der Journalist sie darauf aufmerksam machte, dieses Gespräch im Morgenjournal des nächsten Tages senden zu wollen, mein Vater auf diese Bemerkungen zornig reagieren könnte, meinte Ruth Jungk bloß: „Aber ich bitte Sie! Da schläft mein Mann doch noch…“ Auch dieser Schlusssatz wurde ausgestrahlt. Und das in einem Land, in dem die Mehrzahl der Bevölkerung um 6h morgens aufsteht. Ich beschimpfte Mutter, sie wehrte sich mit der unhaltbaren Behauptung: „Ich wusste ja nicht, dass der das wirklich alles aufgenommen hat!“ Vater vergab ihr, wenn auch erst nach einigen Tagen: „Wer weiß, vielleicht nützt es mir sogar. Die Leute sehen, was für eine selbständige Frau der Jungk hat!“ Ob ihm das Interview am Wahltag geschadet hat? Wir werden es nie wissen.
Ich nahm verschiedentlich an Wahlveranstaltungen teil, sowohl in Salzburg, wo Vater und Mutter seit 1970 lebten, als auch in Linz, Klagenfurt, Innsbruck, vor allem aber mehrmals in Wien, sei es im Juridicum der Universität, im ‚Jonasreindl‘ oder am Stephansplatz. Der Kandidat war in Hochform, seine klugen Argumente klangen dank beeindruckender Informiertheit und präziser Wortwahl definitiv überzeugend, er sprach mit ruhiger, konzentrierter Stimme. Alles ging gut, bis drei Wochen vor dem Wahltermin. Da ließ Jörg Haider in einer Pressestunde des ORF verlauten, Jungk habe während des Krieges eine „NS-Jubelbroschüre“ für das Dritte Reich verfasst, zeigte der Kamera den Band ‚Deutschland von außen‘, 1991 im Heyne Verlag erschienen, eine Sammlung vehement antinazistischer Artikel, die Vater, als Emigrant im Schweizer Exil lebend, in der helvetischen Wochenzeitung ‚Weltwoche‘ publiziert hatte. Unter einem Pseudonym, da er als Flüchtling in der Schweiz nicht arbeiten und schon gar nicht poltische Artikel schreiben durfte. Bis man seine Identität herausfand, ihn festnahm und inhaftierte. Wäre er von den Eidgenossen nach Deutschland abgeschoben worden, im ersten Moment sah es ganz danach aus, hätten die Nazischergen ihn mit Sicherheit deportiert und ermordet. In einem dieser dank heimlicher Kontakte zu deutschen Regimegegnern recherchierten Texte beschrieb Vater eine auch in Kriegszeiten funktionierende Gesundheitspolitik der Nazis, sowie die gute Verpflegung der Wehrmacht an der Front, die dafür sorgte, die Moral der Truppen über Monate hinweg zu heben. Diese wenigen Sätze, aus allem Kontext gerissen, reichten aus, in Zeiten vor Social-Media-Tsunamis, den Kandidaten der Grünenbis hin zum Wahltag nachhaltig anzuschwärzen.
Die Kronen Zeitung berichtete nahezu täglich, half mit, im Volk die Stimmung zu erzeugen, mit diesem Jungk sei etwas nicht ganz in Ordnung. Vater verklagte Haider, das Urteil wurde von einer Grazer Richterin rasch gesprochen: Der FPÖ-Vorsitzende müsse seine gänzlich haltlose Behauptung zur besten Sendezeit im Fernsehen zurücknehmen. Heide Schmidt distanzierte sich erst Tage nach der Urteilsverkündung von ihrem Chef. Und der Skrupellose selbst widerrief zunächst trotz Gerichtsentscheid keineswegs. (Ich glaube nicht, dass er dies je nachgeholt hat.) Ein Wiener Taxifahrer, den ich in jenen Tagen zu seiner Meinung nach den vier zur Wahl antretenden Politikern befragte, natürlich ohne meine Identität kundzutun, ließ mich wissen: „…mit diesem Jungk stimmt irgendwas nicht, darauf hat der Haider ja unlängst aufmerksam gemacht!“ In Vaters Autobiografie ‚Trotzdem‘, 1993 erschienen, heißt es in diesem Zusammenhang: „Ich bekam jetzt die ersten anonymen Hassbriefe voller antisemitischer Tiraden und brutaler Drohungen. Sie waren durchweg in einer falschen, auch orthographisch meist fehlerhaften Sprache geschrieben, obwohl die Absender ihre glühende Liebe zu allem Deutschen bekundeten.“
Niemals zuvor hatte ich Vater in einem ähnlichen Zustand erlebt wie am Tag einer eilends einberufenen Pressekonferenz im Wiener Club Concordia. Kreidebleich. Er konnte nicht fassen, was ihm widerfahren war. Dass solche Niedertracht möglich war. Heute sind wir, wohl angesichts amerikanischer Abgründe, an Wahlkampfhorror gewöhnt und etwas abgehärteter als im Jahr 1992. Damals aber waren Untergriffe wie dieser eher selten. Eine Woche nach der Urteilsverkündung rief ich im ORF-Zentrum am Küniglberg an, erreichte den ORF-Generalintendanten Gerd Bacher, den ich relativ gut kannte, bat ihn inständig, dafür zu sorgen, dass Haider den eingeforderten Widerruf – von dem ich annahm, er werde zeitnah erfolgen - in den Abendnachrichten verkündete. Doch Bacher ließ mich wissen: „Peter, ich mache meinen Redakteuren erstens sehr selten Vorschriften, und zweitens möchte ich nicht, dass der ORF zum Ort eines neuen österreichischen Gesellschaftspiels wird, wo jeder jeden klagen kann und dann auf einen Widerruf in der ‚Zeit im Bild‘ pocht!“
Am Wahltag, dem 26. April, konnte ich mein Votum für den eigenen Vater nicht abgeben, besaß nur die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ich rechnete mit rund 10% der abgegebenen Stimmen für Robert Jungk, meine Mutter prophezeite ihm 15%. Als ich ihn um etwa 15h im Wiener Hotel Wandl anrief und fragte, ob er bereits interne Hochrechnungen kenne, entgegnete er: „Durchaus: bisher 6,7%, aber es fehlen noch die größeren Städte, die Zahl wird sicherlich nach oben hin korrigiert werden...“
L. und ich (wir hatten erst sieben Wochen zuvor geheiratet), holten Vater und Mutter im Hotel am Petersplatz ab, um zunächst ins Parlament zu fahren, als um 17h, kurz bevor wir das Taxi bestiegen, die erste offizielle Hochrechnung verlautbart wurde: nur 6% für Robert Jungk. Mutter war Minuten zuvor, in der Eile, im Badezimmer ausgerutscht, sie hatte Schmerzen an der Hüfte, am Kopf, sah extrem mitgenommen aus; Vater und ich kümmerten uns kaum um sie, was meine Frau mit Recht erzürnte. Im Grünen Klub des Parlaments umringten TV-, Radio- und Zeitungsjournalisten Vater und Mutter, gemeinsam standen sie Rede und Antwort. Ich erfuhr am nächsten Tag von engen Freunden, die den Moment im Autoradio verfolgt hatten, wie ungemein peinlich das Interview gewesen sei, sie hatten live miteinander über die Haider-Kandidatin Heide Schmidt gestritten. Minuten später warf ich mich, einem Leibwächter ähnlich, vor beide Eltern, um zu verhindern, dass ein Kameramann filmte, als Mutter befahl, Vater müsse sich die Schnürsenkel zubinden.
Die neueste Hochrechnung, um 18h, enttäuschte uns massiv: Vaters Anteil war bereits auf 5,8% gesunken, wenn auch Vorarlberg sensationelle 9,9% verkündete, das Burgenland hingegen unter 3%. Die grüne Parteispitze blieb unsichtbar, weder der Bundesgeschäftsführer Johannes Voggenhuber, noch Peter Pilz, Klubobmann der grünen Fraktion im Wiener Rathaus und Bundessprecher der Grünen, ließen sich blicken. Niemand bedankte sich bei Robert Jungk für die erstaunliche Aktivierung seiner Kraftreserven, für seinen Einsatz, sein Durchhaltevermögen, niemand für sein Wahlergebnis, das immerhin besser war, als jenes der Grünen bei der Nationalratswahl 1990, als sie noch nicht mit den Vereinten Grünen verbunden waren.
Wir spazierten vom Parlament hinüber zur Hofburg, wo das Team der ‚Zeit im Bild‘ um 19h30 alle vier Kandidat:innen interviewen würde. Der Sieger der Wahl, Rudolf Streicher, in Schweiß gebadet, wirkte verdrossen. Nicht nur hatte er die absolute Mehrheit verfehlt, musste sich einer Stichwahl stellen, sondern der Abstand war trotz seiner 40,7% gegenüber dem Rivalen Klestil, der 37.2% der Stimmen für sich errungen hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach zu gering, um im zweiten Wahlgang, am 24. Mai, eine Chance zu haben. Klestil strahlte, an diesem Abend, winkte in alle Richtungen, sah sich bereits als den sicheren Sieger. (Zu Recht: Er gewann den 2. Wahlgang mit 56,9%.)
Ich beobachtete Vater vom erhöhten Sockel einer Säule aus, hatte den Eindruck, dass er an diesem Abend nicht unglücklich zu sein schien, auch dann nicht, als der Computer das vorläufige offizielle Endergebnis ausspuckte: Er hatte 5,72% der abgegebenen Stimmen auf sich vereint. Zu einer abschließenden Einschätzung der Lage befragt, gerieten Heide Schmidt und Robert Jungk in einen verbalen Schlagabtausch, ich hörte, wie ein Journalist dem anderen zuflüsterte: „Der lernt’s nie!“ Sollte wohl heißen: Auf das Schimpfen und Streiten staatsmännisch zu verzichten.
Die Menge löste sich eine halbe Stunde später langsam auf, man verließ nach und nach die Hofburg. Ich beobachtete, wie Klestils Kinder auf ihn zustürmten, ihm stolz gratulierten. Vater gab noch einer kleinen Schar französischer Journalisten Interviews. Und plötzlich waren wir beinahe die letzten noch Anwesenden in den hohen Prunkräumen, meine Eltern, L. und ich. Vater und Mutter extrem hungrig, sie schnappten sich scheußliche belegte Brote von einem Buffettisch, verschlangen sie in Windeseile. Vater verstreute versehentlich dicken Ei-Aufstrich auf dem roten Teppich des hochvornehmen Treppenaufgangs. Welch seltsames Bild: Der absolute Verlierer der Wahl, im Stich gelassen, fast allein durch die leere Hofburg wankend.
Ein Vertreter der Grünen ließ Vater nun doch wissen, man erwarte ihn zu einer Abschiedsfeier in einem Lokal im 8. Bezirk. Dort müsse er hin, verkündete er. Wir fuhren in das Wirtshaus, (was feierten die Grünen eigentlich?), ich glaube, es war die ‚Fromme Helene‘ in der Josefstädter Straße. Dort saßen wir dann noch eine Zeit beisammen, nachdem Vater seinen Wahlhelfern Dank für ihre Unterstützung ausgesprochen hatte. Der mit uns eng befreundete Journalist und Historiker Peter Huemer kam an unseren Tisch, er kochte förmlich vor Wut: Dass das Ergebnis nicht weit besser ausgefallen war! Kein Wunder, schimpfte er laut, die Partei habe viel zu wenig für ihren Kandidaten getan. Auch hier, bei der Abschlussfeier, tauchten Pilz und Voggenhuber übrigens nicht auf. Eine junge Politikerin der Grünen, ich habe ihren Namen vergessen, setzte sich zu mir, behauptete, man spreche parteintern darüber, ich sei der geeignete Kandidat für eine der nächsten Bundespräsidentschaftswahlen: „Unverbraucht, attraktiv und dann auch noch Schriftsteller!“ Davon abgesehen, wie sehr mich diese Vorstellung erschauern ließ, ahnte offenbar niemand, dass ich um die österreichische Staatsbürgerschaft, die mir Jahre später zuerkannt wurde, noch nicht angesucht hatte.
Zurück im Hotel Wandl. Wir blieben noch eine Weile mit den Eltern in ihrem Zimmer beisammen. Mutter legte Eisbeutel auf ihre Schenkel, an ihren Rücken, gegen die Blutergüsse und Beulen, die sich mittlerweile gebildet hatten. Sie gab ein erbärmliches Bild ab. Arme Mutter, die diese Wahlkampagnen-Monate wahrlich nicht gut überstanden hatte.
Nur ein Jahr später, im Mai 1993, erlitt mein Vater einen schweren Schlaganfall, er starb im Sommer 1994; bereits zehn Monate nach ihm verließ uns meine Mutter.
Wiener Zeitfenster – Erinnerungen an das Akademische Gymnasium am Beethovenplatz
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… vielen Dank für diesen aufwühlenden dramatischen Bericht. Genau die richtige Lektüre drei Tage vor der österreichischen Nationalratswahl 2024.