Website Suche (Nach dem Absenden werden Sie zur Suchergebnisseite weitergeleitet.)

Hauptinhalt

Michael Ponstingl, 26.5.2023

Die Fotografien von Victor Angerer im Verlag Ledermann

Von der Fotografie zur Ansichtskarte

Der Wiener Briefmarkenhändler Carl Ledermann beschloss kurz vor 1900, sein Geschäftsfeld auszuweiten und selbst Ansichtskarten mit fotografischen Sujets zu drucken. Mittels Inseraten warb der Verleger Amateur- und Profifotografen an und fand schließlich in den Fotografien von Victor Angerer eine ideale Quelle. Dessen Momentaufnahmen von Straßenszenen waren viel lebendiger als die bis dahin üblichen Architekturmotive und wurden schnell zu Bestsellern.

Aus medienökonomischer Perspektive lässt sich um 1900 die Produktionskultur von fotografisch illustrierten Ansichtskarten idealtypisch als Dreischritt beschreiben: erstens das Verfertigen eines Inhalts, hier eines fotografischen Negativs (Urkopie); zweitens die gestalterisch-redaktionelle Aufbereitung der Urkopie; drittens die technische Vervielfältigung, also das Erzeugen von Werkkopien. Diese Prozesse können, müssen aber nicht in einer Hand liegen. So gab es Fotografen, die ihre eigenen Aufnahmen als Ansichtskarten zumeist in Form von Silbergelatine- oder Kollodiumabzügen selbst reproduzierten, sie im Eigenverlag herausbrachten und exklusiv vertrieben, sohin alle Wertschöpfungsstufen auf sich vereinigten. Andererseits kauften Verleger auf Medienmärkten Inhalte zu, bestimmten das Erscheinungsbild der Karten, wählten das Vervielfältigungsverfahren und beauftragten in der Folge einen Anbieter mit der Ausführung und überantworteten die Distribution Vertretern, Groß- oder Einzelhändlern.

Selbstredend existierten zahlreiche Mischformen. Fotografen publizierten ihre Lichtbilder teils selbst, teils in anderen Verlagen; Verlage richteten Fotoateliers und Dunkelkammern ein, eröffneten Verkaufsgeschäfte; Druckereien, Buch- oder Kunsthändler entschlossen sich zum Verlag und konzipierten ein eigenständiges Programmprofil. Zur angemessenen Beschreibung von Marktpositionen einzelner Akteure verlangt es neben einer Analyse der jeweiligen Verlagsprogramme (der Medieninhalte) nach einer von Produktion und Distribution.

Mit dieser kleinen Überlegung gerüstet, wende ich mich dem Wiener Ansichtskartenverlag Carl Ledermann jun. zu. 1897 erweiterte der Briefmarkenhändler Ledermann seinen Geschäftsbereich und begann just zu dem Zeitpunkt illustrierte Ansichtskarten auf den Markt zu bringen, als in der industrialisierten Welt die erste Hochkonjunktur des Mediums losbrach. Rasch stieg er zu einem Branchenriesen Österreich-Ungarns auf. Im Handel- und Gewerbeverzeichnis annoncierte er regelmäßig seine „Spezialität: Feinste Lichtdruck-Postkarten von Wien und Österreich“. Das Gros seiner Produktion entstand in dieser damals äußerst populären Technik, zumeist einfarbig, eine kleine Auswahl außerdem mehrfarbig. Um seinen Eigenbedarf zu decken, aber ferner, um an Fremdaufträgen zu verdienen, entschied sich Ledermann um 1900 sogar, eine eigene Lichtdruckanstalt einzurichten (in der vermutlich auch eine Buchdruckmaschine zum Eindrucken von Texten im Hochdruck stand).

Zwar brachte Ledermann vereinzelt „Künstlerpostkarten, Chic- und Genrepostkarten, Blumenkarten, Kinder-, Radfahrerkarten“ heraus, doch dominierten topografische Sujets sein Programm: zumeist hegemoniale Stadtansichten (Repräsentationsarchitekturen, Straßenzüge, Infrastrukturobjekte, Veduten) aus der Monarchie, gefolgt von Landschaften. Der grassierende Ansichtskartenboom brachte den Aufstieg der Fotografie zum führenden Illustrationsmittel. Jedem Ansichtskartenverleger stellte sich die zentrale Frage nach der Beschaffung. Carl Ledermann fotografierte nicht selbst – im Gegensatz zu seinem Sohn Paul, der 1907 ein Fotografengewerbe anmeldete und sich zudem im väterlichen Betrieb als Handlungsreisender betätigt hatte, bevor er 1909 den Verlag unter eigenem Namen weiterführte. Ledermann hatte das zu verarbeitende lichtbildnerische Vorprodukt einzukaufen. Eine seiner Strategien, Fotografien zu akquirieren, bestand darin, Inserate in Tageszeitungen und Fachzeitschriften zu schalten: „Bitte. Ich suche für Ansichts-Postkarten geeignete photographische Landschaftsaufnahmen, möglichst nicht unter Cabinetgrösse, lieber grösser, durch Kauf, Tausch oder auch nur leihweise zu erwerben und bitte um Auswahlen, Verzeichnisse oder Offerte. Unaufgezogene, scharfe Abdrücke mit genauen Titeln genügen.“

Einer der publizierten Fotografen Ledermanns war Victor Angerer (1839–1894), einer der namhaftesten seiner Zunft; nach seinem Ableben führte Schwiegersohn Moritz Johann Winter die Geschäfte unter dem eingeführten Namen fort. Die Autorschaft freilich lässt sich nicht den Ansichtskarten entnehmen. Der Grund dieser zeittypischen Praxis findet sich wohl in einem „Deal“ zwischen den Beteiligten. Der Fotograf als alleiniger Inhaber des Rechts, sein Werk auf fotografischem Weg zu veröffentlichen, es zu vervielfältigen und die Kopien zu vertreiben (Urheberrecht ex 1895, § 40), übertrug dieses oft nur eingeschränkt, um sich nicht der Möglichkeit zu begeben, selbst weiterhin die eigenen Bilder zu verschleißen.

Das limitierte und naturgemäß kostengünstigere Verlagsrecht passte indes gleichermaßen zum verlegerischen Geschäftsmodell, nämlich das kaufmännische Risiko durch eine Vielzahl an Ansichtskarten zu streuen. Allerdings unterließ der Verleger zum Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen und augenscheinlich unter Zustimmung des Fotografen, dessen Namen auf der Karte anzuführen. So suchte er, seine Bezugsquellen vor der Konkurrenz geheim zu halten, konnte doch grundsätzlich jeder andere auch das Verlagsrecht an den fotografischen Vorlagen erwerben, sofern man sich nur mit dem Urheber einigte.

Um Bildautoren auf Ansichtskarten identifizieren zu können, muss man die Aufnahmen aus anderen Zusammenhängen kennen oder sich auf Zuschreibungen stützen. Victor Angerers Fotografien lassen sich durch einen Vergleich von Ansichtskarten mit Abzügen aus der Albertina, dem Photoinstitut Bonartes, dem Wien Museum, privaten Sammlungen sowie Reproduktionen in Zeitschriften wenigstens teilweise bestimmen. Ledermann nahm geschätzt rund vier Dutzend von Angerers sogenannten Momentaufnahmen in sein Programm, die einen auffälligen Kontrast zu den sonst dominierenden steinernen Monumenten boten, in denen Menschen maximal die Rolle von Staffagefiguren zuteilwurde. Diese Aufnahmen, im Wesentlichen zwischen 1887 und 1890 gefertigt und zuerst als Albuminabzüge im Eigenverlag herausgebracht, zeigten belebte Wiener Straßenszenen. Der Charme und das Neuartige dieser Schnappschüsse lag – anders als bei durchkomponierten, arrangierten Bildern – in einer Ästhetik des Zufalls. Jüngste fototechnische Errungenschaften im Bereich des Negativs und der Objektive, welche die Belichtungszeit drastisch verkürzten, hatten dies ermöglicht.

Die Zeitgenossen äußerten sich begeistert über diese rund 300 Bilder fassende Kollektion, offenbarten sie doch unbekannte Einblicke ins Optisch-Unbewusste. Das machte sie für bildende Künstler attraktiv, die Angerer in Inseraten auch ausdrücklich ansprach: „Moment-Aufnahmen von Landschaften, Wiener Strassenleben, Militär-Genre, zu Studien für Maler etc. geeignet“. Über diese Bilder vermittelt, bewarb man zugleich zwei technische Innovationen: einmal die ohne Stativ zu handhabende Kamera der Firma Goldmann, die – mit einem unauffälligen Objektiv ausgerüstet – „geheime“ Aufnahmen erlaubte; einmal das hochsensible Negativmaterial (Silbergelatine-Trockenplatten) aus Angerers eigener Fabrik. Die kursierenden Etikettierungen der Fotografien als „Handcamera-Aufnahmen“ und „Handmomentbilder von der Strasse“ fassen dieses Neue und Aufregende.

Dieser Bedeutungszusammenhang verlor sich bei der erneuten Herausgabe der Fotos rund zehn Jahre später durch Ledermann – nun im Medium der Ansichtskarte und nicht mehr als Abzug. Die vormals als zentral begriffene erstaunliche Befähigung eines Geschäftsmanns (als Fotograf, Verleger, Fabrikant und Kunsthändler in einem) sowie eines Kameraherstellers und die damit verbundene versprachlichte Materialität des Fotografischen spielten keine Rolle mehr. Der Rezeptionskontext hatte sich verschoben. Nunmehr hinsichtlich ihrer lichtbildnerischen Herkunft anonymisiert, wurden die Bilder in ein umfängliches Korpus varianter, indes gleichwertiger Stadtrepräsentationen integriert, auf die sich die Absender in kommunikativer Absicht bezogen: entweder ausdrücklich (textlich, grafisch) oder indirekt (dadurch, dass sie genau diese und keine andere Karte wählten).

Eine Fotografie herauszubringen bedarf editorischer Entscheidungen, die festlegen, wie sie zu sehen gegeben wird. In dieser Arbeit des Inhalte-Verpackens (Content-Packaging) – neben der Programmierung die genuine Tätigkeit eines Verlegers – entscheiden sich das Medienformat inklusive rechtlicher Bestimmungen (Abzug, Ansichtskarte, Leporello, Buch etc.), die Größe, die Reproduktionstechnik sowie der kommunikative Rahmen. Fotografien als Ansichtskarten zu publizieren hieß etwa, sich der Frage der Formate zu stellen: Angerers Fotografien waren zumeist im Boudoir-Format (zirka 12,5 × 19,5 cm), Ansichtskarten in der vom Weltpostkongress 1878 als maximal festgelegten Größe (9 × 14 cm) gehalten. Somit galt es, grafische Entscheidungen zu treffen: entweder bloß einen Ausschnitt zu zeigen oder einen Weißraum zu lassen (oder eine Kombination aus beiden Möglichkeiten). Zudem existierten postalische Vorgaben: Bis November 1904 blieb in Österreich-Ungarn untersagt, die Adressseite für Textbotschaften zu nützen. Deshalb kalkulierten die Gestalter auf der Bildseite Freiraum ein, oft in Form von Vignettierungen.

Überspringe den Bilder Slider
Springe zum Anfang des Bilder Slider
Überspringe den Bilder Slider
Springe zum Anfang des Bilder Slider

Bei der „Ringelspiel“-Ansichtskarte griff Ledermann, wie regelmäßig, auf diese Lösung zurück (Abb. B). Dass man diese Fotografie in anderer Weise veröffentlichen konnte, führte der Dresdner Verleger und Drucker Edgar Schmidt vor Augen, indem er das Bild nach drei Seiten hin bis zum Rand zog und unten durch Freistellen einzelner Figuren einen unregelmäßig, schräg nach oben laufenden Abschluss schuf (Abb. C). In der Zusammenschau mit einem fotografischen Abzug (Abb. A) erkennt man den Beschnitt des Motivs (besonders deutlich erkennbar am Schatten eines Menschen, der rechts unten ins Bild hineinragt). Darüber hinaus hat sich, wie so häufig, als eine Spur des Angerer’schen Archivs die Negativnummer („77“) in der Ansichtskarte erhalten (siehe vor allem Abb. B). Diese nicht wegzuretuschieren musste der gegenüber solchen Druckprodukten oft mangelhaft obwaltenden Sorgfalt geschuldet sein. Denn viele der Karten Ledermanns waren nachgefragt. Zu erkennen ist das, sobald man etwa zwei Ansichtskarten vom „Ringelspiel“ (Abb. B und D) miteinander vergleicht. Sie erscheinen bloß auf den ersten Blick ident, differieren jedoch sachte im Bildausschnitt wie im Text. Die minimalen Unterschiede verweisen auf unterschiedliche Drucke und damit Auflagen. Eine Lichtdruckplatte vernutzte sich nach 500 bis 1000 Stück, sodass für einen nochmaligen Druck eine neue Platte angefertigt werden musste – womit für Abweichungen gesorgt war.
 

Literatur:

Michael Ponstingl: Straßenleben in Wien. Fotografien von 1861 bis 1913 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich 2), Wien 2008.

Michael Ponstingl: Medienökonomische Betrachtungen zur Fotografie im 19. Jahrhundert, in: Herbert Justnik (Hg.): Gestellt. Fotografie als Werkzeug in der Habsburgermonarchie (Ausstellungskatalog Volkskundemuseum Wien), Wien 2014, S. 31–50.

Michael Ponstingl: Geschäfte mit Kopien. Der „Fotografische Kunstverlag Otto Schmidt“. Ein Handbuch, Salzburg 2022.

Laura Tomicek: Victor Angerer – Momentfotografie in Österreich, Dipl.-Arb. Univ. Wien 2009.

Die Ausstellung Großstadt im Kleinformat. Die Wiener Ansichtskarte ist bis 24. September im Wien Museum MUSA zu sehen.

Begleitend zur Ausstellung erscheinen wöchentlich Beiträge zum Thema „Wiener Ansichtskarten“. Bisher in der Serie erschienen:

Michael Ponstingl studierte Kommunikationswissenschaften, Germanistik und Kunstgeschichte und publiziert zur Geschichte und Theorie der Fotografie. 1994-1996 Redakteur und daraufhin bis 2000 Herausgeber der Zeitschrift Eikon. Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst; 2000-2010 Kurator für Fotografie an der Albertina, seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Photoinstitut Bonartes.

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Keine Kommentare