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Ilse Helbichs Wien der Zwischenkriegszeit – Teil 4
Der Eismann
Eigentlich gibt es zwei Eismänner. Der eine ist der, der mit seinem weiß lackierten Handkarren glöckchenläutend die Gassen entlang zieht.
Er muss nicht wie die anderen Straßenverkäufer, wie die Lavendelfrau im Frühsommer singen oder wie der Tandelkramer mit seinem mageren Gaul vor dem vollgeladenen, schiefen Karren laut schreien: »Bodenkram, Kellerkram, alte Flaschen, Fetzen, Kücheng’schirr«. Beim Eismann genügt es, dass die Kinder schon von weitem sein Bimmeln hören; dann rennen sie zur Mutter und betteln um zehn oder zwanzig Groschen; das Taschengeld ist schon wieder lange zerronnen. Wenn sie Glück gehabt haben, laufen sie dem Eismann entgegen, der legt seine beiden Schiebestangen ab, öffnet den Karrendeckel und füllt das rasch schmelzende rosa oder weiße oder vanillegelbe Gefrorene in die Waffelstanitzel oder in die größeren Muscheln.
Der andere Eismann kommt am Donnerstag zu seiner bestimmten Stunde – es geschieht ja alles pünktlich zu seiner Zeit. Man hört durchs Fenster das schwere Pferdegespann, es bleibt stehen, am Gartentor wird kräftig geläutet. Das Dienstmädchen packt den vorbereiteten Kübel und rennt die hochpolierten Parkettstufen des Stiegenhauses hinunter, da steht der Eismann schon im Vorhaus, auf der Schulter, die er mit einem alten Sack geschützt hat, den triefenden Eisblock, der hat auch am Asphalt des Gartenweges seine Tropfspur hinterlassen.
Nun geschieht das Faszinierende, Beängstigende: Auf einmal hält der große Mann einen langen Eisenstichel in der Hand und in der anderen einen schweren Schlegel, er breitet seinen Sack auf den Fliesenboden, den Eisblock wirft er drauf und schlägt mit kräftigen Schlägen den Block in große Brocken, die er mit einem Schwung in den Kübel leert.
Sie steht daneben und bekommt eine Gänsehaut, vage Mordbilder ziehen ihr durch den Kopf, so schaurig sind Meißel und Hammer. Trotzdem ist sie stolz, als sie größer geworden ist und nun das Eishinauftragen zu ihrer Aufgabe wird; nur die Blöcke in den Eisschrank kippen darf sie nicht, vielleicht weil sie noch nicht so hoch reicht.
Der Eismann kommt nicht zu allen. Ihre Familie gehört zu den Privilegierten: der Vater hat vor einem Jahr diesen Eiskasten angeschafft. Das ist ein weißer, mit einer Vordertür festverschlossener Kasten in einer Ecke der Speis, wo in einem eigenen Fach die Eisbrocken jede Woche neu eingefüllt werden müssen. Das Eis schmilzt langsam vor sich hin, das trübe Schmelzwasser tropft als kleines Rinnsal in den rosa Emailtopf, der genau unter dem Abflusshahn stehen muss. Als der kleine Bruder einmal an den Topf gestoßen ist und ihn verschoben hat, hatten sie die Bescherung: In der Früh lag in der Speis und in der Küche der Boden unter einer Wasserschicht und musste von der Mizzi langmächtig aufgewischt werden.
Wahrscheinlich war der Bub wieder einmal an der großen Lade mit Würfelzucker gewesen, die im Speisekasterl über der Mehllade liegt, der Bruder konnte Händevoll Würfelzucker vertilgen, wie Brot, aber ihr Doktor sagte, dieser Hunger nach Süßem sei ganz normal, und sie gewöhnten sich alle an diese Marotte, wie an den Zwang, der den Kleinen trieb, sich immer wieder und immer wieder die Hände zu waschen, wenn er eine Türklinke berührt hatte, weil auch das als normal durchging; so normal wie der Eismann eins und der Eismann zwei und alles andere auch.
Der Text stammt aus dem Buch „Vineta“ von Ilse Helbich, das 2013 im Literaturverlag Droschl erschienen ist. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Drei weitere Texte daraus sind bereits erschienen: Eislaufplatz, Gassenbuben und Waschtag.
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