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Susana Zapke, Wolfgang Fichna, Bettina Fernsebner-Kokert, 9.3.2020

Praterlieder aus 140 Jahren

„Im Prater gilt: Alles ist möglich“

In Liedern wird der Prater zum Ort der ewigen Sehnsucht und der Verklärung der Kindheit. Es geht um Liebe und Lust, um Heimweh und große Gefühle. Die Musikhistorikerin Susana Zapke und der Zeithistoriker Wolfgang Fichna untersuchten 300 Musikstücke von 1880 bis in die Gegenwart, in denen der Prater besungen wird und  in denen sich die tiefe Liebe der Wiener zu diesem urbanen Begegnungsraum offenbart. Fündig wurden die beiden Wissenschaftler vor allem auch im Wien Museum.

Bettina Fernsebner-Kokert:

Wie spiegelt sich in den Liedern die Bedeutung des Praters für die Wienerinnen und Wiener wider?

Susana Zapke:

Der Prater ist ein ganz besonderer Raum, der schon immer eine eigene Logik hatte und noch immer hat. Der Prater ist ein Kontrapunkt zur Stadt, er ist der älteste Vergnügungspark Europas, und es ist ein Dekompressionsraum, ein Illusionsraum, ein Versprechungsraum, in dem man die Routine des Alltags in der Stadt hinter sich lässt. Die Definition des Wieners kommt ohne Prater nicht aus, der Prater ist ein Teil seiner selbst.

BF:

Gilt das für alle Bevölkerungsgruppen?

SZ:

Der Prater war und ist ein Ort der Begegnung – von Alt und Jung, von Arm und Reich, von Jüdisch, Katholisch und Orthodox, von Böhmisch, Tschechisch, Ungarisch, von Walzer, Foxtrott, Jazz, Operette und Pop. Es ballt sich dort alles, auch alle innovativen und experimentellen Formen der Musik. So wie der Prater auch ein Ort der technologischen Innovationen ist, finden sich in der Musik dort auch alle neuen Strömungen. Wir haben ungefähr 300 Praterlieder von 1880 bis 2016 gesammelt und untersucht, weil wir vor allem wissen wollten, wie sich der Prater im imaginären Raum des Lieds und der Musik verhält, welche unerwartete ‚Blicke‘ auf den Prater sich hinter den Liedern verbergen. Dabei ergeben sich gewisse Konstanten und Leitmotive, die sich durch das gesamte Prater-Repertoire durchziehen.

Wolfgang Fichna:

Der Prater ist ein ganz spezieller Ort und unterscheidet sich von anderen Vergnügungsparks an der Wende zum 20. Jahrhundert etwa in Paris, Kopenhagen oder Amsterdam dadurch, dass er ein ambivalenter, liminaler Raum ist. In den anderen Städten wurden soziale Schichten eher kanalisiert, nicht so im Prater.

BF:

Sorgte diese Ambivalenz für einen egalitäreren Zugang zum urbanen Raum Prater?

WF:

Felix Salten nannte in seinem Wurstelprater-Text den Prater einen visionären, utopischen Ort. Das zieht sich natürlich durch bis heute. Nicht zu Unrecht haben Siegfried Mattl und Werner Schwarz den Prater deswegen als einen zentralen Raum der Wiener Moderne bezeichnet.

BF:

Werden Arm und Reich den Praterliedern gleichermaßen besungen?

SZ:

Ja, das kommt in den Liedern sehr deutlich zum Ausdruck. Die Texte sind teils frivole, lustige aber auch tief sentimentale, zarte, sehr berührende Unterhaltungstexte. Es gab schon immer einen Prater der Armen und einen der Reichen, das wird im Lied thematisiert.

WF:

Es geht in den Liedern zum Beispiel um Adel und Großbürgertum, die auf der Hauptallee flanieren und repräsentieren – und sich zugleich nahtlos einfügen. Das ist auch eine Qualität des Praters: die sozialen Schichten begegnen einander, man geht wieder auseinander und es entsteht kein nachhaltiger sozialer Konflikt daraus. Das sieht man auch bei den Pferderennbahnen, dort kommen die Boheme, die Kleinkriminellen, das Kleinbürgertum zum Wetten zusammen – gleichzeitig endet dort auch die Hauptallee.

SZ:

Der „Nobelprater“, wie er in Liedern genannt wird, wird auch immer wieder ironisch betrachtet: „Der Nobelprater ist schon fader, da ist alles gespreizt“, heißt es in einem Lied. 

BF:

Gibt es auch Lieder aus Sicht der wohlhabenden Wiener über den Prater?

SZ:

Nein, es sind Volkslieder, einfache Gattungen. Aber die Autoren der Texte sind Bürgerliche und wir finden die großen Namen der Operette der 1920er- und 30er-Jahre, wie zum Beispiel Emmerich Kálmán, Ralph Benatzky oder Edmund Eysler. Viele Praterlieder stammen überraschenderweise aus Operetten oder Revuen, auch in manchen Filmen finden wir Material.

WF:

Natürlich gibt es in den Praterliedern von Anfang an auch das vorstädtische Element, etwa bei den Couplets.

BF:

Der Prater ist für viele auch ein Ort der Kindheit. Wie wird das in den Praterliedern aufgegriffen?

SZ:

Das ist eines unserer zentralen Leitmotive. Die Wiener wurden im Prater sozialisiert und verbinden damit schöne Kindheitserinnerungen. Der Prater wird nostalgisch als Raum der Kindheit verklärt, wo man mit dem Vater und der Mutter hingegangen ist. Später kommen als Motiv die Erinnerung an die erste Liebe und die Bankerl im Prater, an den Mondschein und den Baum, unter dem das Bankerl steht.

WF:

Dabei gibt es den Platz für all die vielen Bäume, die in den Praterliedern besungen wurden, in der real existierenden Hauptallee gar nicht.

BF:

Liebe und Liebschaften sind also auch eines der Hauptmotive der Lieder?

SZ:

Es gibt sehr viele Liebesgeschichten in den Praterliedern, wo es um wundgeküsste Lippen und sehnsüchtige Umarmungen geht, an die man wehmütig zurück denkt. In weiteren Praterliedern verwandelt sich die Liebe in Missbrauch und Prostitution, hier geht es etwa um (Dienst-)Mädchen, die neu in der Stadt angekommen und innerhalb kurzer Zeit im Prater schwanger werden. Der Prater ist in diesen Liedern, neben dem Wienerwald, ein Ort der Schwängerung und der laxen Moral. Die Stadt ist der Ort der Normierung und der moralischen Kontrolle – im Prater gilt: Alles ist möglich. In einem Lied heißt es daher auch: „Wenn der Prater reden könnt.“

WF:

Im Bereich der Liebe findet im Prater, durch seine Ambivalenz, aber auch das Gegenteil statt. In einem Lied von Robert Katscher aus den 1920er-Jahren gehen drei Mädchen in den Wurschtelprater, wo sie drei Burschen kennenlernen mit denen sie sich im Lauf des Abends auf dunkle Plätze in der Hauptallee zurückziehen. Als sie dann viel zu spät nach Haus kommen, schimpfen die Eltern nicht, sondern sind ganz gerührt, weil sie sich selbst auch im Prater kennen gelernt hatten – und sogar die Großmutter in der Küche hat ein Lächeln auf dem Gesicht, weil sie an den verstorbenen Großvater zurück denkt, den sie auch dort getroffen hat.

BF:

Wie werden Frauen in den Praterliedern besungen?

SZ:

Absolut traditionell. Als Objekt der Begierde für den Jägerinstinkt des Mannes, also wieder ein Jagdrevier, was der ursprünglichen Funktion des Praters entspricht!

WF:

Mit ganz wenigen Ausnahmen: Wenn etwa so genannte leichte Mädchen einen reichen Herren betrunken machen und ausrauben. Es gibt auch eine Strophe von Theodor Schild um die Jahrhundertwende, in der die Familie zur Kur nach Baden reist, und der Mann zurück bleibt. Er schreibt dann immer wie langweilig es in Wien ist, dabei geht er immer in den Prater und findet dort die Lust. Der Großteil der Texte bietet den Frauen immer nur die Möglichkeit der Umgehung und Täuschung. Sie finden aber im Prater, eben weil er so ambivalent ist, den Freiraum, das zu tun.

BF:

Der Prater war immer auch ein politischer Ort.

WF:

Bereits im späten 19. Jahrhundert gab es eine Auseinandersetzung um die 1. Mai-Demonstrationen der Sozialdemokratie in der Hauptallee, die dann, wenn auch nur temporär, Platz finden im Repräsentationsraum der Oberschicht.

BF:

Gibt es auch Praterlieder aus der Zeit des Nationalsozialismus?

SZ:

Ja, und man darf nicht vergessen, dass es auch im Prater zahlreiche Enteignungen jüdischer Besitzer gab. Mit dem Verbot der jüdischen Operette fällt ein ganzes Repertoire aus, das mit dem Prater ebenso eng verbunden war. Die Nationalsozialisten eigneten sich den Prater an und in den Liedtexten der NS-Zeit geht es aber umso mehr um die Wiener Mädel, die mit den NS-Soldaten auf den Bankerln im Prater sitzen. Die Aneignung von genuin Wiener Räumen, Wiener Topoi und Ur-Wiener Motiven ist eine wirkungsvolle Strategie des neuen totalitären Regimes, wobei die Akteure natürlich auch Österreicher sind.

WF:

Auch hier gibt es eine Gegengeschichte, wie zum Beispiel in den Lebenserinnerungen von Alfred Hrdlicka. Der hat sich in seiner Jugend selbst als Schlurf definiert und erzählt, wie er und seine Freunde sich im Prater mit den Hitler-Jungen geprügelt haben.

BF:

Wie kommen die Menschen, die im Prater arbeiten, in den Liedern vor?

WF:

Die sind natürlich präsent und kommen meist auch sehr in die Nähe der Pratertypen – den Gigerln und Falotten. Sie sind aber auch ein Projektionspunkt der Nostalgie. Es gibt ein wunderschönes Lied – „Sei’ liabstes war der Prater“ von Theodor Wottitz – vom „Schurl“, der als Schausteller arbeitet und im Ersten Weltkrieg an die Front muss. Dort imaginiert er das Zuhause und als er stirbt, ist das letzte Bild, das er vor sich hat, seine Heimat – der Prater. Die Lieder definieren den Raum ganz unterschiedlich. Für die Schausteller werden die Praterlieder zu einer Orientierungskarte oder zu einem Programm. Für die Menschen, die von anderswo kommen, werden sie zu einem Reiseführer und für die Daheimgebliebenen zu einer Ansichtskarte, für die Wienerinnen und Wiener sind sie beides. Sie sind eine Projektionsfläche und wenn man den Prater nicht besuchen kann, dann hat man ihn zumindest im Kopf.

BF:

Es werden noch immer Lieder über den Prater geschrieben, etwa von Nino aus Wien oder Ernst Molden. Worin liegt diese ungebrochene Liebe zum Prater? 

SZ:

Der Nino aus Wien bleibt ja ein bisschen vor dem Prater stehen, am Praterstern, in der Underground-Szene, an der Schwelle. Über den Praterstern ist kurioserweise auch in den 1930ern gesungen worden - wo der Tegetthoff über den Praterstern blickt und schaut, woher die schönen Mädeln kommen, woher die „Flotte“ kommt: „Ja, ja der Tegetthoff am Praterstern hat’s gut, weil er die Maderl schon von weitem sehen tut...“, heißt es in einem Lied von Josef Fiedler.

WF:

Der Praterstern ist als Schwelle sehr interessant. Salten thematisiert das stark, für den Nino aus Wien ist das ebenso, nur das er auch das Fluc mitdenkt und die Popkultur, die dort gepflegt wird. Das Fluc ist natürlich ein Underground-Ort, aber auch ein Aufführungsort des „Wien Modern“-Festivals. Auch hier kommt, typisch Prater, alles zusammen

BF:

Was ist die Gemeinsamkeit der Praterlieder über die Zeit hinweg?

SZ:

Die Praterlieder werden nicht im Prater gesungen, sondern sie lassen ihn imaginativ nochmals Revue passieren. Sie drücken Erlebnisse und Emotionen aus, die man mit dem Prater in Verbindung setzt und durch das Lied wieder ins episodische Gedächtnis ruft. Eine Form der subjektiven Rememoratio.

 

Wolfgang Fichna und Susana Zapke bereiten derzeit eine Publikation zu ihrer Praterlieder-Forschungsarbeit vor, die noch dieses Jahr erscheinen soll.

Susana Zapke, Prof. für Musikgeschichte an der MUK, studierte Musikwissenschaften und Literaturwissenschaft an den Univ. Freiburg i. Br. und Köln, promovierte in Hamburg und habilitierte sich in Salzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte reicht von der frühen Musik des Mittelalters, das intellektuelle Referenzsystem des Fin de siècle und die Imaginationen der Moderne (auch hinsichtlich Musikrezeption) bis zur Musikstadt Wien: Symbolpolitik und Stadtimage als Strategien der Konstruktion. Zuletzt erschienen gem. mit W. Telesko und S. Schmidl Beethoven Visuell. Der Komponist im Spiegel bildlicher Vorstellungswelten (Hollitzer Verlag, Wien 2020).

Wolfgang Fichna, freier Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Wiener Popularkultur des 20. Jahrhunderts. Zuletzt u.a. Teil des kuratorischen Teams der Ausstellung „Das Rote Wien. 1919 - 1934“. Neben den Praterliedern beschäftigt er sich zur Zeit mit einem Dissertationsprojekt, das der Frage nach den Einflüssen afroamerikanischer Musikstile auf die Wiener Musiklandschaft nachgeht.

Bettina Fernsebner-Kokert ist freie Journalistin und Autorin. Sie hat als Redakteurin bei der Tageszeitung „Der Standard“ viele Jahre über Wien-Themen berichtet.

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