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Christian Mertens, Gerhard Milchram, Michael Wladika, Andrea Ruscher, 18.4.2024

Restitutionsforschung im Wien Museum und der Wienbibliothek

Verdichtete Indizienketten

Von den schamlosen „Arisierungen“ in der NS-Zeit profitierten auch die Sammlungen der Stadt Wien. Seit 25 Jahren betreiben die Wienbibliothek im Rathaus und das Wien Museum systematisch Restitutionsforschung. Christian Mertens, Gerhard Milchram und Michael Wladika sind dafür zuständig. Im Interview erzählen sie, welche zutiefst persönlichen Objekte in Restitutionsfällen auftauchen und warum sie in ihrem Arbeitsalltag oft kreativ werden müssen. 

Andrea Ruscher

Vor 25 Jahren – im April 1999 – startete mit einem Gemeinderatsbeschluss die Restitutionsforschung in den Wiener Sammlungen. Aus diesem Anlass ist nun ein umfangreiches Buch erschienen, das etwas andere Wege geht als normalerweise Publikationen in diesem Forschungsfeld. Was erzählt dieses Buch?

Gerhard Milchram

Das Buch erzählt mehr als 70 Biografien – einmal kürzer, einmal länger – von Menschen, die im Nationalsozialismus als Juden und Jüdinnen verfolgt und beraubt wurden. Damit zeigt es einerseits die sehr vielfältigen Lebensentwürfe vor 1938, die dann mit einem Schlag zerstört wurden. Andererseits zeigt es die unglaubliche Vielfalt von Objekten, die die Stadt Wien für ihre Sammlungen unrechtmäßig erworben hat. Wenn wir Restitution hören, denken wir immer in der Kategorie von Schiele und Klimt. Aber die Wienbibliothek und das Wien Museum haben kaum hochklassige Kunstwerke „arisiert“ – das haben andere Institutionen gemacht. Das Museum der Stadt Wien war auch damals schon ein Mehrsparten-Museum und daher hat man überall zugegriffen, wo sich die Möglichkeit ergab, und zwar absolut hemmungs- und gewissenslos. Da man eine Modesammlung aufbauen wollte, griff man bei Kleidern, Knöpfen oder Spazierstöcken zu. Da man ebenfalls eine Möbelsammlung aufbauen wollte, griff man genauso bei Biedermeier-Mobiliar zu. Besonders erschreckend ist, dass Menschen von ganz persönlichen Erinnerungsgegenständen enteignet wurden. Am deutlichsten kommt es im Fall Isidor Fleischner zum Ausdruck: In seiner Tätigkeit als Parlamentsstenograph lernte er viele Politiker kennen und legte sich eine kleine Sammlung von Autographen an. Das sind persönliche Erinnerungen an seine Arbeitszeit. Und das wurde diesem Mann entrissen zu einem Zeitpunkt, als er bereits weit über 70 Jahre alt war.

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Christian Mertens

Das kann ich nur unterstreichen. Es geht nicht nur um Rothschilds und Mautners, es geht um die kleine Frau, den kleinen Mann, denen ihre persönlichen Gegenstände geraubt wurden. Ich kann den Fall Josef Drach aus der Wienbibliothek als Beispiel einbringen: Ihm wurde eine Ledermappe abgepresst, die materiell völlig bedeutungslos ist. Sie ist voller Unterstützungserklärungen für seine Idee eines europäischen Friedensprojekts. Diese Mappe mit etwa 150 Blättern war seine Lebensleistung und sie wurde ihm genommen.

Michael Wladika

Man darf nicht vergessen, dass diese Entrechtung der erste Schritt am Weg bis zur Vernichtung war. Vor der Deportation mussten die Menschen noch ein Vermögensbekenntnis abgeben, ihnen wurden die Hausschlüssel und das Kleingeld, das sie noch bei sich hatten, abgenommen.

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Andrea Ruscher

Das Buch ist Ergebnis eurer jahrelangen Tätigkeit als Restitutionsforscher. In eurer Arbeit geht es darum, diese Beraubungen nachzuvollziehen und rechtmäßige Erb:innen ausfindig zu machen. Wie beginnt ein klassischer Arbeitstag bei euch?

Christian Mertens

Das ist heute ganz anders als in den ersten Jahren unserer Provenienzforschung. Ab 1999 haben wir Inventare und Akten systematisch durchforstet. Heute kommt ein Restitutionsfall nicht mehr automatisch auf unseren Schreibtisch, sondern oft erst dann, wenn sich jemand mit einem neuen Hinweis, einem ergänzenden Indiz bei uns meldet.

Michael Wladika

Am Anfang unserer Tätigkeit haben wir die Unterscheidung in personenbezogene und nicht-personenbezogene Fälle getroffen. Die personenbezogenen Fälle waren relativ schnell aufgearbeitet, weil hier die ursprünglichen Besitzverhältnisse eindeutig mit einer Person verbunden und damit recht klar waren. Die nicht-personenbezogenen Fälle sind schwieriger, weil das Museum Objekte über Institutionen wie dem Dorotheum angekauft hat. Diese Daten haben wir 2001 auf unserer Website veröffentlicht und es kommen bis jetzt immer noch Anfragen.

Gerhard Milchram

Bei all diesen Fällen, in denen die Stadt zwischen 1938 und 1945 Objekte im Kunsthandel angekauft hat, ist es ausgesprochen schwierig auf Vorbesitzer:innen rückzuschließen. Das Dorotheum hat beispielsweise wesentlich von der Zwangslage von Juden und Jüdinnen profitiert. Sie haben ihr Hab und Gut dort versetzt, um etwa ihre Flucht zu finanzieren. Allerdings gibt es keine Akten mehr dazu, diese wurden skartiert. Um mögliche Vorbesitzer:innen zu finden, muss man daher große Umwege gehen und bei den Nachforschungen kreativ werden.

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Andrea Ruscher

Dass eure Arbeit in den 2000ern gestartet hat, hängt mit einem Wiener Gemeinderatsbeschluss von 1999 zusammen. Könnt ihr mir erklären, was es damit auf sich hatte?

Michael Wladika

Begonnen hat das Ganze mit der Beschlagnahmung von zwei Schiele-Gemälden des Leopold Museums in New York, die 1997 für eine Ausstellung im MoMA dort hingeschickt wurden. Der prominente Rechtstreit zwischen dem Leopold Museum und den eigentlich erbberechtigten Henry Bondi und Rita Reif hat in Österreich Handlungsbedarf ausgelöst. Die Kommission für Provenienzforschung wurde daraufhin eingesetzt und im Dezember 1998 wurde das Kunstrückgabegesetz beschlossen. Der damalige Wiener Stadtrat Peter Marboe hat das aufgegriffen und analog zum Kunstrückgabegesetzt des Bundes wurde am 29. April 1999 der Gemeinderatsbeschluss für Wien erlassen. Auf Basis dessen können Kunst- und Kulturobjekte, die sich durch „Arisierung“ im Eigentum der Stadt befinden, an die ursprünglichen Eigentümer:innen zurückgegeben werden.

Andrea Ruscher

An welchen Indizien orientiert ihr euch, um zu wissen, ob ein Objekt gestohlen wurde und restituiert werden muss?

Michael Wladika

Das lässt sich anhand der Akten, die wir in Archiven recherchieren, an Werkverzeichnissen oder an Ausstellungskatalogen festmachen. Wir sind auch immer wieder darauf angewiesen, dass jemand von außen zusätzliche Beweise wie Erbfolgedokumente beisteuert.

Gerhard Milchram

Wenn uns Objekte auffallen, die möglicherweise Raubgut sein könnten, beginnen wir mit eigenen Recherchen. Ein neuer Fall auf meinem Schreibtisch ist beispielsweise eine Prunkvase, die für eine Silberhochzeit hergestellt wurde. Sie kommt aus einem verdächtigen Bestand des Museums, wir haben aber keine Aufzeichnung der Namen des Ehepaars. Anhand der zwei Daten – der Hochzeit und des 25-jährigen Jubiläums – versuche ich die ursprünglichen Eigentümer zu recherchieren und den Weg des Objektes von dort an nachzuvollziehen.

Christian Mertens

Heute gibt es in den seltensten Fällen eindeutige Aktenbelege zum Ursprung von Objekten. Zumeist gibt es das, was ich eine verdichtete Indizienkette nenne: Ich habe nicht den letzten Beweis, dass ein Buch bei der Flucht von genau dieser Person zurückgelassen wurde, aber die Indizien sind relativ stark, so dass die Kommission in ihrer Spruchpraxis den schlechtesten Fall annimmt, nämlich dass es sich um Raubgut handelt und das Objekt restituiert werden sollte.

Andrea Ruscher

Für die Bestimmung früherer Besitzer:innen sind oftmals sogenannte Provenienzvermerke auf Objekten ausschlaggebend. Was kann man sich darunter vorstellen?

Christian Mertens

Bei einem Objekt in der Bibliothek ist das in der Regel anders als im Museum. Im Gegensatz zu einem Schiele-Gemälde oder einer unikalen Prunkvase zur Silberhochzeit ist ein Buch ein Massenprodukt. Ein Provenienzvermerk ist entscheidend notwendig, um es zu individualisieren. Das kann ein Exlibris sein, ein Stempel, eine handschriftliche Eintragung oder Widmung.

Michael Wladika

So wie im Fall von Elsa Bienenfeld. In ihrem Buch war eine Widmung des Autors an sie und es konnte deshalb an die Erben restituiert werden.

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Andrea Ruscher

Im Fall einer Beethoven-Büste aus dem Jahr 1852 war der ursprüngliche Eigentümer, Wilhelm Kux, klar. Allerdings war es sehr schwierig, Erb:innen in seiner Nachfolge zu finden. Wie kommt das?

Gerhard Milchram

Der Fall ist schwierig gelagert: Kux ist 1966 kinderlos gestorben und hat in seinem Testament 16 Erben eingesetzt.

Michael Wladika

Ich habe diese 16 Erben und Erbinnen angeschrieben. Eine einzige hat sich gemeldet. Sie war zu dem Zeitpunkt sogar noch fit und wohnte in ihrem Appartment in New York. Ein paar Monate später ist sie dann aber leider verstorben. Von anderer Seite habe ich die Auskunft erhalten, dass es wahrscheinlich über 200 Erbberechtigte gibt. Darunter ist auch ein Rechtsanwalt in Australien, mit dem wir schließlich Kontakt aufnehmen konnten. Wahrscheinlich kann die Büste an ihn restituiert werden.

Andrea Ruscher

Eure Arbeit bewegt sich zwischen formalen juristischen Abhandlungen und sehr emotionalen Kontakten mit Nachfahren der beraubten Jüdinnen und Juden. Wie geht ihr damit um?

Christian Mertens

Es wäre Heuchelei, würde ich behaupten, ich legte besonders viel Emotionalität in diese Arbeit. Es geht um eine professionelle Aufarbeitung. Aber selbstverständlich berühren einen manche Schicksale. Besonders gut erinnere ich mich an einen Brief, den ich in von einem steinalten Mann aus Schweden bekommen habe. In gebrochenem Deutsch hat er seine Jugend-Erinnerungen an seinen in der Shoa ermordeten Onkel niedergeschrieben.

Michael Wladika

Ich habe das Glück gehabt, noch mit drei geschädigten Menschen persönlich zu telefonieren. Das waren Anna Mautner, 1920 geboren, Anthony Felsöványi, Jahrgang 1914, und Fredy Weiß, der mich immer aus Haifa wegen eines Liebesbriefes angerufen hat.

Gerhard Milchram

Ich würde hier gerne etwas zum moralischen Anspruch ergänzen. Restitution darf nicht missverstanden werden als eine Wiederherstellung des Zustandes von vor 1938. Das können wir einfach nicht leisten. Was wir machen, ist eine Geste der Versöhnung an die Nachfahren. Es ist ein Versuch, ein Verhältnis mit diesen Generationen zu heilen. Und es ist auch immer wieder die kritische Beschäftigung mit der Rolle der eigenen Institutionen und ihren Verstrickungen im System des Nationalsozialismus.

 

»In gutem Glauben erworben«. 25 Jahre Restitutionsforschung der Stadt Wien erscheint im Czernin Verlag. Das Buch ist im Shop und Webshop des Wien Museums, in der Wienbibliothek im Rathaus sowie im Buchhandel erhältlich.

Christian Mertens, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, Historiker, seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Wienbibliothek im Rathaus, u. a. Mitarbeit am Wien-Geschichte-Wiki, Provenienzforschung, Mit- und Alleinkurator mehrerer Ausstellungen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu historischen und politischen Themen.

Gerhard Milchram, Studium der Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien. Studien- und Forschungsaufenthalte in Israel, Absolvent der internationalen Sommerakademie für Museologie der Universitäten Klagenfurt, Wien, Graz und Innsbruck, ab 1993 Kulturvermittler und wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 1997–2010 Kurator im Jüdischen Museum Wien. Seit 2011 Kurator im Wien Museum.

Michael Wladika, Jurist und Historiker; seit 1999 Provenienzforscher in den Museen der Stadt Wien; von 2008 bis 2020 Provenienzforscher der Gemeinsamen Provenienzforschung BMKÖS und der Leopold Museum Privatstiftung im Leopold Museum; unter anderem von 1999 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik Österreich; mehrere Projekte und Publikationen zum Thema politische Parteien, Deutschnationalismus, Nationalsozialismus, NS-Kunstraub und Rückstellungsrecht. 

Andrea Ruscher ist Teil der Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum. Sie studierte Globalgeschichte und war zuvor am Österreichischen Kulturforum Kairo und in der C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik tätig. 

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Kommentare

Redaktion

Vielen Dank für Ihr Feedback und den Hinweis! Wir haben den Namen im Text korrigiert.

Walter Obermaier

Ein ausgezeichnetes und berührendes Unternehmen. Danke! Nur eine kleine Korrektur: der von Michael Wladika erwähnte Wiener Kulturstadtrat heißt nicht Ernst, sondern Peter Marboe.